Reise um die Welt

Reisezeit: September 2018 - September 2019  |  von Sabine C

Mit dem Rad nach Nishni Novgorod

Endlich sitze ich wieder auf dem Rad. Es fühlt sich gut an, mit dem Rad weiterzufahren. Zu viele Städte, zu viele Museen! Noch nie in meinem Leben habe ich so viele Städte und Museen besichtigt wie in den letzten drei Monaten.

Ich habe mich für eine Strecke entschieden, die zunächst auf der linken, flacheren Wolgaseite entlang geht und dann auf die M7, die Autobahn rechts der Wolga führt. Dass der Verkehr rund um Kazan stark ist, hat mir ja schon der 80-Tage-umdieWelt-Radler erzählt. Nach dem ersten Fehlversuch auf einer verkehrsarmen Nebenstraße, die als Sackgasse endet, fahre ich auf der Hauptstraße weiter. Erst gibt es einen Fahrradweg neben der Straße, dann muss ich auf der Straße fahren. Immer schön auf meinem schmalen Seitenstreifen, mal breiter oder manchmal ist er auch weg. An diesem Tag und auf dieser Strecke ist es in Ordnung. Der LKW Verkehr hält sich in Grenzen. Mein Tagesziel - Волжск- habe ich nach 60 km erreicht. Ich könnte noch weiter, wenn ich wüsste, wo ich übernachten soll.

Am nächsten Tag habe ich 100 km zu fahren. Ganz schön viel, aber da es wenig Steigungen gibt, machbar. Mittags halte ich bei einem Grill, der auf freiem Feld neben einem Haus steht und Fleisch für 99 Rubel pro 100 g anbietet. Ich kann es gar nicht fassen: das beste Fleisch der letzten Zeit, Lindenblütentee aus frischen Lindenblüten, Salat, Brot und ich muss nichts bezahlen. Offenbar kommen hier öfters Reiseradler vorbei, die durch Russland radeln und der Chef ist begeistert davon.
Lindenblüten! Das ganze Land riecht nach Lindenblüten. Die Wälder stehen voll mit Linden. Herrlicher Duft.

20 km vorm Ziel beginnt es zu regnen. Angekommen in Невочебоксарск an dem Motel, das ich ins Auge gefasst habe, wird mir erklärt, dass Sportler dort nicht übernachten können. Was würde ich machen, wenn es nicht ein Ort mit einigen Hotels wäre? So suche ich mir etwas anderes.
Die Region ist äußerst bevölkerungs- und verkehrsreich und am nächsten Tag komme ich erst nur langsam voran. Abwechselnd fahre ich auf Bürgersteig und Straße. Dann ein Luxusabschnitt. 10 km Radweg führen neben der Straße entlang. Danach geht's auf die Autobahn, die M7. Durchatmen! LKWs fahren auf. Ich sehe keinen befahrbaren Seitenstreifen. Umkehren geht nicht. Da muss ich jetzt durch.
Vielleicht wird es ja besser. Wird es aber nicht! Mal balanciere ich auf dem schmalen Seitenstreifen, mal fahre ich auf dem breiten unbefestigten Teil. Ca. 10 km halte ich das durch. Dann fahre ich ab. Egal wohin. Nur das nicht. Die Lastwagenfahrer sind meist rücksichtsvoll. Aber mir würde einer reichen, der nicht aufpasst. Eigentlich wollte ich nur 60 km fahren nach der langen Strecke am Vortag. So werden es wieder fast 90 km bis zu einem Ort an der Wolga. Dort kann ich am nächsten Tag mit der Fähre auf die linke Seite der Wolga, auf die flachere und dünner besiedelte Seite übersetzen. Unterwegs regnet es heftig. Ich widerstehe der Versuchung, ein Auto anzuhalten. Auf dieser Strecke fahren wenig Autos und das Radeln ist angenehm. In Козмодемьянск gestaltet sich die Hotelsuche wieder abenteuerlich. Diesmal bin ich es selbst Schuld. Das erste Hotel ist mir zu schäbig und so suche ich weiter. Es soll noch ein anderes geben. An einem Gästehaus warte ich frierend und hungrig abends um halb acht bis die Chefin kommt. Sie hat Dollars in den Augen, möchte 90 Dollar für die Nacht. Da ziehe ich das schäbige Hotel vor. Dort werde ich freundlich begrüßt und zahle nur 22 Euro für die "Lux" Variante. Wie man sich täuschen kann!

Am nächsten Morgen mit der Fähre über die Wolga. Die Fähre legt vor meiner Nase ab. Aber wie kommen denn die Autos auf die Fähre? Die Zufahrt ist aus Kies und Sand aufgeschüttet. Die Fähre hat nur eine Auffahrt, so dass die Autos rückwärts aus der Fähre fahren müssen. Welch ein Gefühl: Ich fahre mit der Fähre über die Wolga! Ich versuche diesen Moment festzuhalten.
Dann kommt der schönste Teil der Fahrt nach Нижний Новгород. 100 km führt der Weg durch ein Naturschutzgebiet. Wälder, Moore, Wiesen am Wegesrand. Dann schön gepflegte Holzhäuser, bis ich abends um halb acht Воскекренское erreiche. Das Hotel, das ich auf Google Maps erspäht hatte, gibt es nicht. Schon unterwegs schwante mir, dass dies meine erste Zeltnacht werden könnte. Ich frage eine Frau, die gerade von ihrem Garten ins Haus geht nach dem Hotel. Sie sagt, dass es geschlossen wurde. Wo soll ich denn jetzt hin? Ich kann ja nicht mitten im Ort mein Zelt aufschlagen. Da lädt sie mich ein, bei ihr zu übernachten. Ungläubig schaue ich sie an. Aber sie meint nur, dass es ja keine andere Lösung gibt. Dankbar nehme ich ihr Angebot an. Sie wohnt alleine in einer Zwei-Zimmer Wohnung, ist Frührentnerin, Witwe. Vier erwachsene Kinder. Sie ist dabei, die Wohnung zu renovieren. Neue Fenster, Türen, Bad Toilette hat sie einbauen lassen. Alles in Heimarbeit von den Söhnen. Sie lebt von 130 Euro Rente im Monat bei 45 Euro Fixkosten. Im Sommer geht sie in den Wald und sammelt Pilze und Beeren. Die Russen lieben Zug fahren und den Wald, sagt sie. Im Winter strickt sie Socken. In der Stadt möchte sie nicht leben. Sie braucht die Natur. Sie ist zufrieden. Sie war mit ihrem Mann in Moldawien und hat dort den Krieg erlebt. Alles ist besser als der Krieg.

Sie macht mir Spiegeleier und morgens steht sie in der Küche und backt russische Pizza und Piroggen zum Frühstück. Die Piroggen bekomme ich als Proviant eingepackt. Dann bringt sie mich noch zur Hauptstraße und wir verabschieden uns herzlich.
Weiter geht's. Im nächsten Dorf muss ich wegen einer Prozession anhalten. Kurz überlege ich, weiter auf der Hauptstraße zu fahren. Nein ich fahre Nebenstraße. Auf die Gefahr hin, dass der Weg nicht durchgängig ist. Ist er dann auch nicht. Er endet an einer Wiese. Ich hätte versuchen sollen, über den Wiesenweg zu fahren oder zu schieben! Aber ich fahre zurück und stehe nach einem Umweg von 25 km im Regen an der Kreuzung zur Hauptstraße. Lastwagen brettern vorbei. Der Seitenstreifen ist überschaubar. 35 km fahre ich mit Panik im Nacken so schnell wie möglich im Regen die Hauptstraße entlang nach Семёнов. Manche Male fehlen nur wenige cm zwischen mir und dem Lastwagen. Ich habe Licht und gelbe Warnweste. Vielleicht mache ich mich nicht breit genug am Straßenrand, so dass die LKWs meinen, sie kämen bei Gegenverkehr noch vorbei.
Unterwegs begegne ich Andrej aus Belorussland. Er ist auf dem Weg in den Ural. Kein Hotel in Воскекренское? Das interessiert ihn nicht. Er schläft im Zelt.
In Семёнов stehe ich vor dem verschlossenen Hotel, dass ich über Booking gebucht habe. Ich bin nicht bös drum. Es macht einen lausigen Eindruck und fahre zum anderen Hotel am Ort.
Die letzten 80 km fahre ich dann mit der электричка nach Нижний Новгород. Die Straße ist zu gefährlich, es regnet und ich brauche eine Pause. Am Bahnhof begegne ich Oksana. Sie steht dort mit ihrem Mountainbike. Hat ihre Eltern in Семёнов besucht und fährt nun auch wegen dem Wetter und der schlechten Straße mit dem Zug heim. Der Zug wird voll. Es sind andere Menschen als die, die ich in den Städten gesehen habe. Landmenschen.
Oksana arbeitet als Buchhalterin bei einer internationalen Firma und freut sich, dort viel Geld zu verdienen. Am Bahnhof hilft sie mir, mit dem Gepäck und begleitet mich noch zum Hotel. Wir tauschen Kontaktdaten. Vielleicht sehen wir uns ja noch mal.

Start in Kazan

Start in Kazan

Am Straßenrand werden Fleisch, Fisch und Beeren verkauft

Am Straßenrand werden Fleisch, Fisch und Beeren verkauft

Волжск  - Hier bin ich im normalen Leben angekommen. Vom Glanz der renovierten Großstädte ist  nichts zu spüren,  eher der Charme der Sowjetzeit

Волжск - Hier bin ich im normalen Leben angekommen. Vom Glanz der renovierten Großstädte ist nichts zu spüren, eher der Charme der Sowjetzeit

Nur die Schule ist, wie in allen Orten, die ich bis jetzt gesehen habe, ein Schmuckstück

Nur die Schule ist, wie in allen Orten, die ich bis jetzt gesehen habe, ein Schmuckstück

Russland und Krim für immer zusammen

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Mittagspause am Grill

Mittagspause am Grill

Immer wieder Ausblick auf Moorlandschaften

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In diesem Motel sind Radler nicht willkommen

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Auf der anderen Wolgaseite werden neue Siedlungen gebaut, sogar mit Radweg

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Die Fähre legt vor meiner Nase ab

Die Fähre legt vor meiner Nase ab

Kiosk an der Fähre

Kiosk an der Fähre

Auf der Wolga

Auf der Wolga

Im Naturschutzgebiet

Im Naturschutzgebiet

Meine rettende Gastgeberin

Meine rettende Gastgeberin

Frühstück

Frühstück

Die Prozession führt zu einem ländlichen Markt

Die Prozession führt zu einem ländlichen Markt

Russische Idylle - dafür hat sich der Umweg gelohnt

Russische Idylle - dafür hat sich der Umweg gelohnt

Andrej auf dem Weg in den Ural

Andrej auf dem Weg in den Ural

Oksana

Oksana

© Sabine C, 2018
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Die Reise
 
Worum geht's?:
Die Verkehrsmittel werden Fahrrad, Schiff, Zug und Bus sein. Es ist ein langgehegter Traum von mir, die Welt zu umrunden und dabei kein Flugzeug zu benutzen.
Details:
Aufbruch: 30.09.2018
Dauer: 12 Monate
Heimkehr: September 2019
Reiseziele: Deutschland
Frankreich
Spanien
Marokko
Brasilien
Argentinien
Uruguay
Chile
Peru
Ecuador
Mexiko
Japan
Südkorea
Russland / Russische Föderation
Estland
Lettland
Schweden
Polen
Der Autor
 
Sabine C berichtet seit 6 Jahren auf umdiewelt.
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