Auf dem Landweg nach Tibet und zurück

Reisezeit: Februar - Oktober 2009  |  von Daniel S.

Kalkutta

Es koennte Apus Hupen gewesen sein, das Anjuna um 5 Uhr morgens aus ihrem kindlichen Schlaf gerissen hat. Sie streichte sich mit ihren kleinen Kinderhaenden ueber die Augen, versicherte sich mit einem kurzen Blick zur Seite dass ihre Eltern da sind und alsbald verliess sie die kleine, aus Plastikplanen und Holzstangen selbserbaute Behausung in der sie mit ihren Eltern und ihrer Grossmutter auf einem namenlosen Buergersteig in Kalkutta lebt. Anjuna ist hungrig und fuehlt sich etwas erschoepft von der morgentlichen Hitze die sich ueber die 14 Mio Seelen Metropole breitmacht. Dennoch weiss sie, dass sie wie jeden Tag hinaus auf die Strasse muss um zu arbeiten, oder besser gesagt, um am naechsten Tag abermals im Stande zu sein wieder arbeiten zu koennen. Geschickt schluepft sie durch die enge Ritze, die die Trennwand zwischen der familiaeren Privatsphaere und der anonymen Aussenwelt darstellt. Da es im Moment haeufig regnet weiss Anjuna, dass sie die Plastikplane zunaechst von innen abschuetteln muss um zu verhindern, dass der kaum 2 qm grosse Teil Buergersteig den sie bewohnt nicht vom Wasser ueberflutet wird, welches sich ueber Nacht angesammelt hat. Um die Ecke herum trifft sie sich mit ihren Nachbarn und Freunden Indra, Nataraj und Shiva. Sie gehen, wie jeden Morgen zunaechst zum Brunnen. Indra ist der aelteste und kraeftigste, daher ueberlassen ihm die anderen die arbeit des Pumpens am Brunnen. Lachend stehen die Kinder unter dem sprudelnden Wasserstrahl und kaum einer bemerkt, dass der Verkehr in Kalkutta immer mehr wird und das Hupkonzert seinen Anfang hat.
Waehrend die Kinder sich der Morgendusche widmen, schlafe ich noch seelig in meinem rund 7 Euro teuren Zimmer, der Ventilator brummt leise vor sich hin, aber daran habe ich mich bereits gewoehnt. Nachdem ich am Vorabend bis rund 1 Uhr wach geblieben bin, werde ich es wohl nicht vor 8.30 Uhr aus dem Bett schaffen.

Anjuna und ihre Freunde sind bereits mit der Morgendusche fertig und machen sich nun auf, etwas Geld zu verdienen. Indra wird von den anderen Kindern beneidet, denn er ist der einzige der ein Hemd hat, um seinen Kinderkoerper zu bedecken. Die anderen laufen mit nacktem Oberkoerper durch die heissen und dreckigen Gassen des Slums in dem sie wohnen. Anjuna kratzt sich am Ruecken, ihr eitriger Ausschlag juckt, aber wer denk schon an einen Ausschlag wenn der Magen jeden Morgen wieder leer ist. Es verging wohl rund eine halbe Stunde bevor die Kinder die Muellkippe neben der Kirche im Zentrum der Stadt erreichen. Sie sind schon spaet dran, neben unzaehligen Raben, Hunden, Kuehen und Ratten befinden sich auch rund weitere 15 Menschen zwischen den Abfaellen um nach Plastikflaschen, Metallteilen und Kartonagen zu suchen. Der Gestank ist unbeschreiblich aber die Menschen, die ihr morgendlicher Gang hierher fuehrt haben nichts - und man ist leider versucht arrogant zu sagen: sie haben nichts zu verlieren. Anjuna entdeckt eine Tuete mit Reis und als sie sie an sich nehmen will kommt ein aelterer Junge, entreist sie ihr aus den Haenden und macht sich davon - verfolgt von einigen Raben.
Ich habe meine Morgendusche mitlerweile auch hinter mir und mache mich auf den Weg ins klimatisierte Blue Sky Cafe um mir fuer rund 2 Euro ein billiges Fruehstueck zu goennen. Ich entschliesse mich, wie schon am Vortag, fuer das Thai Curry mit Fisch, einen Mangolassi und dazu Reis. Ich denke bei mir : "Es koennte etwas milder sein, aber ansonsten schmeckt es doch recht gut ... auch wenn ich vielleicht doch noch einen Schuss mehr Kokosmilch beimischen wuerde. Der Basmatireis ist ja auch nicht schlecht, allerdings pflege ich es zum Thai Curry Jasminreis zu essen - aber ich bin ja nicht in Thailand, daher geniesse ich mein Fruehstueck eben so. Der Lhassi hingegen laesst keine Wuensche offen, er ist fruchtig, suess und in der Konstenz genau so, wie man ihn sich nur traeumen koennte. Allerdings koennte er etwas billiger sein."

Anjuna will nicht mehr nach brauchbaren Teilen im Muell suchen, sie weint: Ihr Ausschlag am Ruecken schmerzt, die Sonne scheint nun schon heiss vom Himmel und sie hat noch keine Moeglichkeit gehabt ein Essen zu sich nehmen. "Dieser Junge hat mir den Reis genommen, den ich gefunden habe," vertraut sie sich bei Indra, dem Aeltesten an. Er packt sich unterm Arm und blickt sie aufmunternd, aber zugleich mit der Strenge eines Erwachsenen an als wolle er sagen:"Reiss dich zusammen, wir werden diesen Tag schon irgenwie ueberstehen."
Sie macht sich abermals auf, nach verwertbaren Teilen zu suchen, und nach rund einer Stunde haben sie eine Plastiktuete voll mit nicht zerknuellten Plastikflaschen, Tontassen und ein paar kleineren Eisenteilen.
Ich ueberlege mir derweilen, ob ich meinen kleinen Rucksack zur Besichtigung mitnehmen soll. "Ich werde allerdings extrem am Ruecken schwitzen", denke ich bei mir " und ausserdem benoetige ich fuer meinen Photoapparat auch keinen Filter, den ich fuer gewoehnlich im Rucksack mittrage, daher lasse ich ihn besser im Zimmer." Eine weitere, mich taeglich belastende Entscheidung steht vor mir "soll ich heute Sonnencreme verwenden, oder gehe ich das Risiko ein, etwas rot zu werden - am Nacken?" Der Staub in den Strassen und der Russ aus den Auspuffen der unzaehlig motorisierten Fahrzeuge bleibt mit der Sonnencreme extrem stark an der Haut kleben und ich muss mich am Abend zweimal mit Seife waschen, um dies zu entfernen.
Anjuna und ihre Freunde machen sich auf zurueck in die Ecke der Stadt, die fuer sie die Vertrauteste ist - es riecht nach Urin und Faekalien dort wo sie herkommt. Die Abwasserkanaele befinden sich hier nicht unter der Erde, es sind vielmehr kleine Baeche, die zwischen den Behausungen der unzaehligen Menschen fliessen.

Ich denke im selben Moment an mein Zuhause, mein Zimmer, den Blick auf das Haus meiner Nachbarn, unseren Garten und die Natur in meiner Heimat. "Ach, schoen ist es doch so etwas wie Heimat zu haben", denke ich mir und beschliesse letztendlich keine Sonnencreme aufzutragen um eine zusaetliche Seifenwaesche am Abend zu verhindern.
Als Anjuna vor ihrer Unterkunft steht, schaut sie ihr Vater boese an - er ist unzufrieden mit ihr. Nur eine Plastiktuete hat sie gebracht, und er habe genau gesehen, dass sie sich am Morgen laenger als nur zur Waesche am Brunnen rumgetrieben hat. Er bruellt sie an und das Kind rennt weinend zwischen den Holzbalken unter die Plastikplanen zu seiner Mutter.
Ich bin mitlerweile auf dem Weg zur Mission von Mutter Theresa. Interessant finde ich es, die Menschen auf den Strassen zu beobachten. Ich hole meine Kamera heraus, stelle sie auf Belichtungsautomatik, reduzier die ISO Empfindlichkeit von 500 auf 250, entscheide mich fuer Matrixmessung und fokusiere im Zentrum meines Suchers die interessanten Objekte an.
Ja, es macht mir Spass, die Funktionen meiner Nikon D90 voll auszuschoepfen, ich freue mich ueber das D-Lighting, dass mir Schatten-Licht Kontrasste verbessert und auch ueber die Videofunktion, die mir Bewegtbilder und Ton in anstaendiger Qualitaet bietet.
Ich wanderer durch die Strassen, verfolgt von Menschen die abgelichtet werden wollen, anderen die mich um Geld anbetteln und wieder anderen, die einfach nur wissen wollen aus welchen Land ich denn komme. Ich gehe um eine der vielen Ecken herum, es riecht nach Urin und Faekalien und sehe die kleine Behausung einer Familie, die sich ein Heim aus Plastikplanen und und Holzlatten baute. Ich blicke hinein in die Privatsphaere der Menschen - ich sehe ein kleines junges Maedchen, einen Vater und eine Mutter, ein essende Grossmutter und 3 weitere Kinder - fuer einen moment dachte ich es seien Anjuna und ihre Elter, aber diese wohnt weit weg von hier am anderen Ende der Stadt.

Einmalige von Menschenhand gezogene Kutsche in Kalkutta

Einmalige von Menschenhand gezogene Kutsche in Kalkutta

Hundeleben in Kalkutta ...

Hundeleben in Kalkutta ...

Strassenbarbier in der Sudder Street im Herzen von Kalkutta

Strassenbarbier in der Sudder Street im Herzen von Kalkutta

Barbier in Dhaka Bangladesh (aber gleich wie in Indien)

Barbier in Dhaka Bangladesh (aber gleich wie in Indien)

© Daniel S., 2009
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Die Reise
 
Worum geht's?:
Ich plane eine Reise die mich über den Landweg von Deutschland - Osteuropa - Naher/Mittlerer Osten - Indien bis nach Lhasa führt. Zurück will ich über die ehemaligen Sowjetstaaten reisen und schließlich in der Türkei entscheiden ob es über die Ex-Jugoslawienstaaten oder erneut Osteuropa zurückgehen soll.
Details:
Aufbruch: 14.02.2009
Dauer: 8 Monate
Heimkehr: 15.10.2009
Reiseziele: Deutschland
Tschechische Republik
Polen
Ungarn
Rumänien
Bulgarien
Türkei
Georgien
Armenien
Iran
Pakistan
China
Tibet
Nepal
Indien
Bangladesch
Kirgisistan
Usbekistan
Mazedonien
Albanien
Montenegro
Bosnien und Herzegowina
Der Autor
 
Daniel S. berichtet seit 18 Jahren auf umdiewelt.
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