Mittelamerika
Feria in Santiago
David hat mir einen Kaffee gebracht und ein Brötchen. Ich sitze in meinem Garten und versuche wieder einmal zu schreiben. Manchmal bin ich so voll von Gedanken, Erlebnissen, Begegnungen, aber die Worte wollen nicht kommen.
Zur Ablenkung streune ich etwas durch den Garten. Es ist ein ziemlich grosses Grundstück mit den paar wenigen Gebäuden, die oben am Hang gebaut sind und sich hinter den vielen Büschen und Stauden diskret verstecken. Immer wieder entdecke ich neue Pflanzen, neue Blumen. Manchmal flattert ein Schmetterling vor meiner Nase durch, aber bisher hatte ich kein Glück, einen mit der Kamera einzufangen. Zu schnell sind sie unterwegs, zu nervös, zu sehr auf ihre Nahrungssuche konzentriert. Sie müssen die wenigen Stunden oder Tage nutzen, die sie als Sommervögel durch den Garten flattern können, nachdem sie träge Tage als Raupe verbracht haben. Der Gedanke an diese Metamorphose fasziniert mich immer wieder.
Der Garten ist voller skuriler Deko-Sachen, die vielleicht bei einem Event hängen geblieben sind oder es wurden bei einem Umbau gewisse Artikel nicht entsorgt, sondern receycelt. So fristen etliche alte Lavabos ein neues Leben als Blumentöpfe. Zum Teil in Astgabeln, andere am Boden. Und die kleinen Vogelkäfige mit den Pipmatzen hängen wohl auch schon lange in den Bäumen. Manchmal turnen Eichhörnchen in den Ästen, vorhin haben sich zwei sogar direkt vor meinen Füssen eine Verfolgungsjagd geleistet. Natürlcih war ich mit der Kamera zu spät.
Doch zurück zum Schreiben...
Damit wird es aber trotzdem nichts, denn jetzt setzt sich der Besitzer des Hotels zu mir. Marcelo will wissen, woher ich komme. Und vor allem, was ich mache, ob ich irgendwo arbeite. Die Leute, die sich bei ihm einmieten, sind vorwiegend Einheimische oder manchmal Ausländer, die irgendwo für eine Zeit arbeiten. Zum Beispiel wohnt im Moment einer der Ärzte , die im nahen Hospitalito arbeiten, bei ihm. Früher war der grosse Pavillon hinter dem Eingang ein Restaurant, aber er meint, das hätte nicht rentiert, die Leute wollten nicht einmal ein Minimum für einen Kaffee bezahlen. Wenn er seine Unterkünft so günstig abgibt, ist es wahrscheintlich nicht verwunderlich, wenn diese Leute nur ganz wenig Budget haben für das Essen. Er müsste für das Restaurant eine andere Kundschaft finden. Doch Marcelo hat dafür keine Kraft mehr. Er ist 62 und scheint einige gesundheitliche Probleme zu haben.
Er erzählt mir aus seinem Leben. Aufgewachsen in Solola, das ist ganz in der Nähe, mit einer Mutter und einem bösen Stiefvater, verbrachte er die meiste Zeit seiner Jugend auf der Strasse. Mit 15 zog er von zu Hause aus, zu einer Tante in die Hauptstadt. Seinen ersten Job fand er als Leichenbestatter. Er musste Tote waschen, Totenwachen organisieren. Danach folgten verschiedene andere Jobs als Verkäufer von Wasser- und Elektrischen Anschlüssen. Ganz kann ich seiner Geschichte nicht folgen, da ich mir solche Jobs gar nicht vorstellen kann. Aber nach und nach wurde seine Situation besser er konnte sich etwas ansparen, hatte sein eigenes Geschäft, kaufte ein Gelände in der Hauptstadt, wo er noch immer wohnt und vor gut 20 Jahren kam dieses Gelände in Santiago dazu. Eine erstaunliche Geschichte. Finanziell scheint es ihm gut zu gehen, gesundheitlich hat er mit den Nerven zu tun.
Er freut sich, dass ich da bin und meint ich soll bei meinen Freunden für ihn und sein Hotel Werbung machen.
Nach einem sehr langen Gespräch verabschiedet er sich und ich mache einen erneuten Versuch am Laptop, doch heute wird das wohl gar nichts mehr.
Es ist ein heisser Tag, David will am Nachmittag mit der Familie ins Los Olives zum Schwimmen. Ich schliesse mich an und wir haben den grossen Pool tatsächlich für uns ganz allein.
Das Hotel, das so nahe liegt, dass wir es gut zu Fuss erreichen können, ist für uns wie ein Geschenk, meint David, der seinen Kindern diesen Spass oft gönnt.
Auch ich komme oft am Morgen zum Frühstück hierher. Manchmal nehme ich den Laptop mit und manchmal komme ich hier tatsächlich zum Schreiben.
Später, die Familie ist längst zurück nach Hause gegangen, bestelle ich ein spätes MIttagessen und spaziere dann auch zurück zu meiner Unterkunft. Heute wird es nichts mehr mit Schreiben, darum ziehe ich mich mit meinem neuen Krimi in die Hängematte zurück.
Ich liebe es, in Gedanken an anderen Orten zu sein, als da wo ich mich in Wirklichkeit befinde. Zu Hause sind das oft exotische Orte, hier ist es jetzt eben das Berner Oberland, in dem ich in Gedanken verweile.
In Santiago Atitlan ist Feria, wir würden das in der Schweiz Chilbi nennen, oder Kirchweih in deutsch. Der Kirchenpatron wird gefeiert, darum ist der ganze Platz vor der Kirche überstellt mit Marktständen und Karussels.
Natürlich sind David und Raquel mit den Buben auch da und wir schlendern gemeinsam zwischen den vielfältigen Angeboten hindurch. Zuerst kommen die Verpflegungsstände. Frittierte Hühnchen, Grilladen, Fleisch in allen Varianten. Daneben Gebäck, Pommes, Würste, Pizza, Tacos. Die Auswahl ist riesig.
Und dann steht es da, das Riesenrad. Farbig laut und schnell.
Wirst du da mitfahren? will David wissen, doch ich will es mir erst einmal von der Nähe ansehen. Ich bin bekannt dafür, dass ich kein Riesenrad auslassen kann, aber dieses erinnert mich an ein anderes, in dem ich vor fünf Jahren hier in Guatemala voller Bangen sass.
Die Sitze waren eng, den Bügel konnte ich kaum schliessen, zog den Bauch ein, aber er wollte nicht einschnappen. Erst der Angestellte schaffte es, indem er mit der Fast nachhalf. Da sass ich dann also, mit eingezogenem Bauch, und mit der Angst, dass der Bügel jeden Moment wieder aufschnappen könnte. Ich versuchte, mich irgendwie am Sitz festzuklammern, war mir aber bewusst, dass ich keine Chance gehabt hätte, bei der Geschwindigkeit hätte es mich irgendwo in die Gegend geschleudert.
Darum will ich mir die Sessel erst ansehen und tatsächlich, auch hier wieder ist alles auf schmale Einheimische ausgelegt. Obwohl es auch sehr ausladende Frauen gibt, so setzen sich diese wohl kaum in einen Riesenradsessel..
Also überlasse ich den Spass David mit den Buben. Raquel und ich sehen zu.
Die drei setzen sich zuversichtlich in einen der Sessel. Auch Alex will unbedingt mit, doch schon nach der ersten Umdrehung muss er heulend wieder in Empfang genommen werden. Da war wohl seine Aufregung grösser als sein Mut. Langsam kommt das Rad in Schwung, dreht sich, dreht sich und wird immer schneller. Ausserdem dreht es rückwärts. Vielleicht weil man da weniger hinaus geschleudert werden könnte? Jedenfalls bin ich froh dass ich nicht eingestiegen bin.
Später meint David, ihm wäre es fast übel geworden. Kann ich mir gut vorstellen, so ein Riesenrad ist tatsächlich eine Herausforderung für alle Sinne. Einzig Miguel scheint es Spass gemacht zu haben, jedenfalls würde er niemals etwas anderes zugeben.
Nebenan gibt es ein kleineres Riesenrad. Da steigt auch Alex wieder ein. Zusammen mit seinem Bruder. Laut erschallt die Musik, jedes Fahrgeschäft versucht das andere zu übertönen. Und die Lampen blinken in allen Farben. Als aber das Rad in Bewegung kommt, sehe ich, dass es tatsächlich von Hand betrieben wird. Der Mann, der es betreibt hat darauf geachtet, dass die Schaukeln gleichmässig besetzt sind und treibt es von Hand an, gibt ihm immer wieder neuen Schwung.
Es gibt ganz viele Fahrgeschäfte, manuelle und elektrische Karussels, aber am witzigsten finde ich das mit den vier Tuctucs.
Die beiden grössten sind sicher das Riesenrad und der Autoscooter gleich daneben, der Rest sind kleine Karussels, meist schon ziemlich mitgenommen von vielen Einsätzen. Aber die Kirnder freuen sich trotzdem darüber.
Ntürlich gehören zu einer Feria auch all die Schiessbuden. Mit Würfeln, Bällen, Zahlenspielen und Pistolen kann man all den unnötigen Plunder gewinnen, der zu so einem Anlass einfach dazu gehört.
David und die Buben versuchen sich im Schiessen. Es bleibt beim Versuch, sie werden nichts nach Hause schleppen müssen.
Ich verabschiede mich von der Familie, mir ist der Rummel und der Lärm zu gross, die Familie will irgendwo noch etwas essen.
Bevor ich den Platz verlasse, schaue ich noch eine Weile dem Geld-Glücksspiel zu. Eine Platte mit Ringen in denen Nummern stehen. Man wirft einen Quetzal darauf. Wenn er irgendwo hinein zu liegen bekommt, erhält man die Zahl Quetzales ausbezahlt, die im Ring steht. Die meisten Münzen aber bleiben irgendwo zwischen oder auf den Ringen hängen, liegen schief und die Betreiberin des Brettes sammelt sie ein. Gar nicht so schlecht, ihr keines Geschäft.
Bevor ich mir ein Tuctuc suche, gibt es noch einen Cappuccino im Rafa. Das ist weit genug entfernt vom Rummel des Kirchenplatzes und daher schön ruhig.
Aufbruch: | 09.06.2023 |
Dauer: | 7 Monate |
Heimkehr: | Januar 2024 |
Mexiko