Mittelamerika
Reina de Atitlan
Ich sitze bei Raquel zum Kaffee im Restaurant. Es ist im Moment ruhig, am Morgen hatten sie viele Besucher zum Frühstück, jetzt ist niemand mehr hier. Darum kann Raquel mit der Produktion der Kugelschreiber anfangen. Ein kurzer Hinweis in Facebook und WhatsApp und meine Freunde haben ein paar Bestellungen aufgegeben, worüber sich David und Raquel sehr gefreut haben.
Die Kugelschreiber mit den eingewobenen Namen sind noch immer das Verbindende zwischen David und mir. So habe ich ihn kennen gelernt. Ich weiss nicht, ob es sie noch gibt, die Kinder, die auf der Strasse Kugelschreiber verkaufen, mir ist keines mehr begegnet. Weder in Panajachel noch in Santiago Atitlan. Zwar beteuert mir David immer wieder, dass die Armut am Lago immer noch gross ist, aber meine Sicht nach 20 Jahren ist trotzdem so, dass sich einiges verändert hat. Verbessert. Es sind nur noch wenige Kinder bettelnd unterwegs. Es sind überhaupt viel weniger Kinder in den Strassen. Weil die Frauen eindeutig weniger Kinder haben.
Aber die Armut ist noch immer gross und die die Schulbildung ist nicht gut, wendet David dann ein. Und das mag sicher stimmen, das kann er besser beurteilen. Auch wenn ich in den letzten Tagen interessante Themen in den Schulhäusern gesehen habe. Themen, die man bei uns nicht so unterrichten würde.
Doch David bemängelt die Ernsthaftigkeit des Schulsystems. Sieh nur, in Santiago ist noch immer Feria, die Schule ist geschlossen. Ohne dass offiziell Schulferien sind. Es gibt einfach keinen Unterricht, weil die Klassenzimmer anders benutzt werden. Und weil viele Lehrer sich nicht um ihre Kinder kümmern. Education Immer wieder das Zauberwort. Das was David geholfen hat, aus seiner Armut zu entkommen. Es waren nicht die Kugelschreiber, auch wenn die natürlich das Überleben gesichert haben und irgendwann in der Menge den Grundstock für seine ersten Ersparnisse setzten. Es ist die Ausbildung, die den ganzen Unterschied macht. David ist das sehr bewusst, darum ist er stolz, dass seine Kinder in der internationalen Schule lernen dürfen. Er versucht auch, einer seiner Angestellten im Restaurant eine zusätzliche Ausbildung zu ermöglichen.
Und er bezahlt anständige Löhne. Das Thema Löhne wäre ein eigenes sehr spannendes Thema. Mit dem eingenommenen Trinkgeld, das er seinen Angestellten auszahlt, kommen sie auf einen Tagesverdienst von gegen 15 Franken. Dazu kommen Frühstück und Mittagessen. Auf dem Feld, in den Pflanzungen kommen Arbeiter und Arbeiterinnen auf knapp 5 Franken. Kennst du die Löhne der Ärzte, die im Spital nebenan arbeiten? will ich wissen. Genau weiss er das natürlich nicht, aber es werden um die 1200 Franken sein. Monatlich. Natürlich gibt es den einen oder anderen Spezialisten, der mehr erhält, aber das scheint der normale gute Monatsverdienst zu sein.
Wenn ich mit Leuten rede, komme ich immer wieder auf das Thema. Ausbildung, die Möglichkeit richtig lesen und schreiben zu können. Viele Erwachsene jeglichen Alters haben dies verpasst. Auch richtig Spanisch zu reden und wenn möglich auch Englisch, ist für die Kinder wichtig. Und für die Eltern scheint es auch immer mehr Bedeutung zu bekommen. Wenn man nur noch für zwei Kinder sorgen muss, wird die Ausbildung und das Bezahlen der Schulkosten samt Uniform und Schulbüchern einfacher.
Entwicklung läuft langsam, erkläre ich David immer wieder. Es braucht Geduld, es braucht Zeit bis sich die Dinge ändern. Die Korruption wird in diesem Land noch lange an der Regierung sitzen. Obwohl grad in diesen Tagen die Hoffnung wächst, dass der nächste Präsident, der am 20. August gewählt werden wird, sich mehr fürs Volk einsetzen wird. Falls der Richtige gewinnnt. In der Hauptstadt gibt es zur Zeit fast täglich Manifestationen. David beobachtet die Entwicklung genau und wird wenn es wichtig wird, selber in die Hauptstadt fahren. Mit vielen anderen von hier, es ist wichtig, dass sich etwas ändert, beteuert er immer wieder.
Er ist voller Ungeduld. Seit er in der Schweiz war, sieht er die Mängel und die Schwächen seines Landes noch viel deutlicher. Schau dir die Strassen hier an, und schau dir die Strassen in der Schweiz an, hat er mir heute morgen erklärt. Dort gibt es keine Schlaglöcher, keine Risse und Wölbungen in der Strasse. Dort kann der Verkehr ungehindert fahren, Fahrräder und Fussgänger sind geschützt. Hier schüttelt es dich sowohl im Auto, wie auch im Tuctuc die ganze Zeit und immer musst du den Unebenheiten ausweichen. Oder die Busse. Was die an Abgasen rauslassen!
Da hat er allerdings recht, wenn ein Bus an einem vorbei gefahren ist, muss man einen Moment den Atem anhalten, sonst hat man eine dicke schwarze Abgaswolke in der Nase. Und im Kaffee, wenn man in der Hauptstrasse im Cafe sitzt.
Die beiden Busse stehen, lassen Passagiere ein- und aussteigen. Aber wehe, wenn sie losfahren, dann kann man einen Moment nichts mehr sehen, wenn man so direkt dahinter steht.
Raquel erzählt, dass heute Abend auf dem Hauptplatz die Reina del Lago Atitlan präsentiert wird. Die Königin des Atitlensees. Es ist ein grosser Anlass, gestern Abend hat sie etwas davon im TV gesehen, heute will die Familie selber hingehen.
Das werde ich mir nicht entgehen lassen, Schönheitswettbewerbe sind in Lateinamerika wichtig, jeder Ort hat seine eigenen Prinzessinnen und Königinnen.
Es geht gegen 18.00 Uhr, als ich auf dem Hauptplatz ankomme. Die Veranstaltung ist bereits im vollen Gange. Auf einer grossen Bühne hat eine Musikband Platz genommen und ein Präsentator schreit in ein Mikrofon. Erklärt die nächsten Attraktionen.
Die sechs Frauen in ihren typischen Kleidern scheinen die Kandidatinnen zu sein, doch sie warten noch auf ihren Auftritt, sitzen geduldig auf den Stühlen in der zweiten Reihe auf der Bühne.
Es ist ein Höllenlärm. Nebenan werden ständig Raketen abgeschossen, umso lauter schreit der Präsentator in sein Mikrofon und manchmal setzt die Band ein.
Allerdings kommt die Musik vor allem aus Lautsprechern und schallt über den ganzen Platz auf dem ein langer Steg aufgebaut ist. Ein Laufsteg, auf dem immer wieder Gruppen auftreten.
Ich versuche, mir einen Überblick zu verschaffen. In der einsetzenden Dämmerung und mit den extremen Scheinwerfern, den weit entfernten Darstellern ist es schwierig einen guten Platz zu finden, um gute Fotos zu machen. Und vor allem um zu verstehen, worum es hier eigentlich geht.
Nachdem ich mich etwas umgesehen, an einigen Orten stehen geblieben bin, habe ich meinen Platz gefunden. Direkt am Beginn des Laufsteges. Da wo sich die Gruppen bereit machen.
Mit der Zeit verstehe ich, dass es verschiedene Schulen oder Schulklassen sind, die sich hier vorstellen. Sie haben sich ein Thema vorgenommen, das sie präsentieren wollen. Es sind die Prozessionen der Semana Santa, erklärt mir Raquel, die mich mit David und den Kindern inzwischen gefunden hat. Sie will mir noch mehr erklären, aber ich verstehe in dem Lärm kein weiteres Wort. Sehe aber, dass die Gruppe, die jetzt grad auf den Laufsteg geht, lebende Figuren mitträgt. Das sollen wohl die Heiligenfiguren sein, die an den Karfreitagsprozessionen mitgetragen werden. Sie gehen tänzelnd auf die Bühne. Tanzschritte im Takt der Musik, die jetzt den Moderator übertönt und nur noch von den Raketen nebenan überschlagen werden. Überhaupt, die Rückkupplungen. Das scheint niemanden zu stören, Hauptsache laut. Manchmalist da nur noch ein Pfeiffen aus den Lautsprechern ertönt, bei dem man sich am Liebsten beide Ohren fest verschliessen möchte. Wen stört denn sowas.
Ich habe inzwischen entdeckt, wo sich die Gruppen sammeln, sich bereit machen, sich umziehen. Es ist eines der Schulzimmer hinter mir und ich gucke hinein, nach einer Weile gehe ich hinein, setze, respektive klemme mich in eines der schmalen Schulpulte. Jeder Stuhl hat seinen eigenen Tisch und natürlich ist alles für schmächtige Kinder gemacht. Dass ich mich hingesetzt habe, stört niemanden. Einige grüssen mich, andere beachten mich nicht. Sind zu sehr beschäftigt, sich in die traditionellen Kleider zu wickeln. Da werden junge Burschen mit den gestreiften Hosen ausgestattet, deren Hosenbund mit breiten Gürteln festgehalten werden. Da sind die jungen Frauen gefragt, die das jeden Tag mit ihren Jupes machen. Fest umwickeln und verknüpfen, so dass vorne ein flacher Knoten bleibt.
Mädchen und Frauen sind hier fast ausschliesslich in typischer Kleidung unterwegs, während junge Burschen im Alltag Shirts und Jeans tragen.
Ich sehe einigen Gruppen zu, kann aber keine Benotung erkennen. Auch die Frauen, die auf der Bühne sitzen, sind bisher nicht in Aktion getreten. Irgendwann habe ich genug gesehen, will mir schon meinen Weg durch all die Leute suchen, als eine hübsche junge Frau von der Bühne auf den Laufsteg tritt. Sie wird begleitet von einer älteren Frau in typischer Tracht und trägt eine Schleife über der Brust. Reine del Lago Atitlan. Das muss sie wohl sein. Die Königin des Atitlansees.
Wie sie zu ihrem Titel gekommen ist, entzieht sich meiner Beobachtung, aber sie wird frenetisch mit Applaus und noch mehr Raketen begrüsst.
Und dann setzt noch die Marimbaband auf der Bühne ein. Mein Lärmpegel ist erreicht, ich verabschiede mich von David und der Familie.
Durch die Menschenmenge und den Markt, der auch immer noch offen ist, kämpfe ich mich vom Zentrum weg und fahre schon bald mit einem Tuctuc zurück in mein kleines ruhiges Paradies. Das Tor ist noch offen, ich habe aber natürlich darauf geachtet, dass ich heute nicht zu spät bin.
Raquel hat mir am nächsten Tag erklärt, dass das erst die Präsentation der Reina del Lago Atitlan gewesen sei, die schon am Nachmittag gekürt worden sei. Die eigentliche Schönheitskönigin von Santiago wäre später bestimmt worden der Anlass sei noch einige Stunden länger gegangen. Ich weiss nicht, ob sie mit den Kindern so lange geblieben sind, mir haben die beiden Stunden genügt, die ich erlebt habe.
Aufbruch: | 09.06.2023 |
Dauer: | 7 Monate |
Heimkehr: | Januar 2024 |
Mexiko