Falltür ins Paradies

Reisezeit: Oktober 2009 - Oktober 2010  |  von Katharina L.

San Francisco, 30.07.-07.08.2010

SAN FRANCISCO

Ankunft am Airport in San Francisco, Kalifornien, USA. In den nächsten 16 Stunden werden wir auf keinen englischen Muttersprachler treffen: An der Grenzkontrolle begrüßt uns Officer Sanchez mit spanischem Akzent, so wie der Mann, der uns die Tür zur Gepäckausgabe öffnet. Der Akzent des Herrens am Gepäckband, den wir nach der Sperrgepäckausgabe fragen, könnte aus Pakistan stammen, während der Zollbeamte nach Nahost, vielleicht nach Libanon klingt. Der Busfahrer, der uns zu einem nahegelegenen Hotel bringt, stammt, wie auch der Mann an der Hotelrezeption, offensichtlich aus Indien. Am nächsten Morgen bringt uns ein chinesischer Busfahrer zur Subwaystation, wo wir eine asiatische Frau am Info-Schalter nach einer Geldwechselstelle fragen, an der wir unsere Peseten, ebenfalls bei einer Asiatin, in Dollar umtauschen. Erst im Green Tortoise Hostel in North Beach begrüßt uns die Rezeptionistin in akzentfreiem Amerikanisch.

Die Golden Gate hält, was ihr Name verspricht

Die Golden Gate hält, was ihr Name verspricht

San Fancisco also; seltsam wahrnehmungsgestört laufe ich durch die Straßen, starre die Menschen an, weiß nicht so recht, wie mir geschieht, bis dann letztlich, beim zufälligen Blick aus einer alten Speicherhalle am Pier direkt auf die Golden Gate Bridge, mir ein Licht aufgeht: das ist alles real - und das genau ist das völlig Befremdliche an dieser Geschichte.

Vierzig Jahre lang kennt man all das hier, all diese Straßenszenen mit ihren Gebäuden, Hydranten, Autos, Menschen, Hüten, Anzügen, Polizeisirenen, Schildern, Reklametafeln, Laternen, Gehsteigen, Zebrastreifen, Parks, Hot Dogs, Polizisten, Läden, Chinatowns, Little Italies, Diners, Feuerwehrautos, Bussen, Taxis, Cable Cars usw. usf. ausschließlich als Fiktion - aus TV, Film, Musik, Literatur, Magazinen, Comics.

Immer war dieses "Amerikanische" das ganz andere, ja das genaue Gegenteil von Realität. Das, wohin man gemeinhin aus der Realität flüchtete, in die Fiktion hinein, an der dann ein unglaublich langer Rattenschwanz persönlicher Bedeutungen, Erinnerungen, Geschichten hängt (bis heute kann ich mir bis ins Genaueste die Situation, meine Stimmung und die Atmosphäre in Erinnerung rufen, in der ich als 9-jähriger "Cincinatti Kid" mit Paul Newman sah, als 12-jähriger das erste Mal eine Lightnin-Hopkins-Platte hörte, oder als 14-jähriger zum ersten Mal einen Raymond-Chandler-Krimi las). Das "Amerikanische", das ist ja für uns Deutsche nicht nur das Einfach-So-Fiktive, sondern vielmehr geradezu das Derealisationsmittel, mit dem sich, von Handke bis Wenders, jede beschriebene Szenerie spielfilmhaft und roadmoviemäßig einfärben lässt.

Und es ist toll nun durch diesen Spielfilm, diesen Roadmovie zu laufen - verstörend schön. Bilder von Stan & Ollie bis Tarantino, von Jack Lemon bis Lynch, von "Straßen von San Francisco" bis Jarmusch, von Hemingway bis Bukowski, von Baldwin bis Kerouac rasen durch meinen Kopf - all die hochdosierten amerikanischen Kulturinjektionen von einem halben Menschenleben werden schlagartig aktiviert. Das fiktive Traumland, das phantastische Fluchtgebiet liegt hier vor einem, blank, pur, kontextlos, ohne Flimmerkistenrahmen, ohne Buchdeckel, ohne Vorhang. Verrückt.

Da läuft ein Mann mit vier Pappbechern und einer Tüte Burgern die Straße entlang, ruft nach einem Taxi. Sofort läuft in meinem Kopf die Filmmaschine an, ein Krimiplot entwickelt sich, Hintergrundmusik erklingt und ich muss mir immer wieder bewusst machen, dass dies einfach ein realer Mann, keine Filmfigur ist, der da vor mir herläuft. So geht es ständig an diesen ersten Tagen in San Francisco.

Und die Geschichten fliegen nur so umher. Ich sitze am zweiten Tag auf einer Parkbank im Washington Square Park als sich eine etwa 70-jährige Frau neben mich setzt. Nach nicht einmal einer Minute erzählt sie mir, dass sie 1958 mit ihrem Mann aus Italien hierhergekommen sei. Er arbeitete mit seinen drei Brüdern in Pizzerien , die ihnen nicht gehörten. Aber das Leben war großartig. Schon die Reise, neun Tage mit dem Schiff von Genua nach New York. Dann drei Tage und Nächte durch den Kontinent mit dem Zug. Dann diese riesigen Straßen - und die Autos hielten an um einen über die Straße zu lassen! Sie war begeistert. Sie war nie mehr in Italien, obwohl ihre Schwester immer noch im kleinen Heimatort in der Toscana lebt. North Beach war ihr Italien - Little Italy. Nur Italiener und so viel Freude, so viel Musik, so viel gutes Essen. Und die Kirche. Da steht sie, uns gegenüber, direkt am Park. San Pedro e Paolo, mit Schule, auf die jeder im Viertel gegangen ist.
Aber 1972 dann hat ihr Mann ein Haus in Sunset, südlich des Golden Gate Parks gekauft und das Leben in der großen Gemeinde war vorbei. Alle haben sie sich Häuser irgendwo gekauft, die Familien haben ihren Zusammenhalt verloren, selbst ihre beiden Söhne mit ihren schmucken Vorstadthäusern wollen nicht, dass sie, ihre Mutter, bei ihnen wohnt. Das wäre bei den Chinesen doch ganz anders, die hätten stärkere Familienbande und hätten deshalb in den letzten Jahren Little Italy erobert. Trotzdem kommt sie, nach dem Tod ihres Mannes vor zehn Jahren, jetzt wieder öfters hierher um die letzten verbliebenen Bekannten zu treffen. Viele gibt es nicht mehr. Mit lauter Stimme bedankt sie sich für die angenehme Gesellschaft. Sie muss die spanische 50er-Jahre-Schnulze übertönen, die aus einem Kofferradio dröhnt. Ein älterer, tätowierter Latino mit schmalem Oberlippenbart und zurückbrillantierten Haaren hat sich neben uns gesetzt und das Radio mitgebracht. Und schon läuft der nächste Film an ...

Der erste Tag San Francisco - Renegade Craft Fair. Für Katharina eine wahre Fundgrube an Inspiration. Darauf hat sie sich schon seit Wochen gefreut. Zwei Tage verbringt sie in der alten Werfthalle unterhalb des Fort Mason und taucht ein in die unendlichen Weiten handgemachten Designs.

Das schiere Gegenteil der handgemachten Kleinserien findet sich in den Massenwaren Chinatowns, das in unmittelbarer Nachbarschaft unseres Hostels liegt,

Das schiere Gegenteil der handgemachten Kleinserien findet sich in den Massenwaren Chinatowns, das in unmittelbarer Nachbarschaft unseres Hostels liegt,

aber dennoch seinen ganz eigenen Charme besitzt.

aber dennoch seinen ganz eigenen Charme besitzt.

Untergebracht sind wir, nach einer Nacht in einem Flughafenhotel, im Green Tortoise Hostel in North Beach, Columbus Ecke Broadway, dem ehemaligen Rotlicht- und Beatnik-Zentrum San Franciscos. Rotlicht ist noch ein wenig übriggeblieben, Spuren der Beats auch: Das Beat-Museum mit Kerouac-Schwerpunkt ist ums Eck, der alte City Ligts Bookstore von Laurence Ferlinghetti und einige der alten Boheme-Cafés, die heute allerdings eher Touristen als Künstler oder Schriftsteller anziehen.

Der mächtige Aufenthaltsraum im Green Tortoise Hostel

Der mächtige Aufenthaltsraum im Green Tortoise Hostel

Das Green Tortoise hat einen wunderschönen, riesigen ehemaligen Ballsaal als Aufenthaltsraum, in dem wir wieder mal interessante Bekanntschaften schließen. Mit Qing Sima, einem fotorealistischen Maler aus China teilen wir uns zwei Budweiser-Sixpacks. Das Abendentertainment liefern uns die "Bachelors", ein fantastisches Rockabilly-Trio im "Saloon", einer der ältesten Blues-Pinten der Szene, wie uns Bachelors-Drummer Ricky, ein kaugummikauender, immer lächelnder Latino Ende Vierzig mit glänzender Schmalztolle berichtet. Aber die eigentliche zeitgenössische Szene San Franciscos sollten wir uns doch mal im Mission-Viertel ansehen. Was wir auch bald tun werden.

Auf dem mitternächtlichen Nachhauseweg berichtet uns ein alter schwarzer Straßenmusiker im rauhen, mundharmonikabegleiteten Talking Blues Monolog, der aus seinem kleinen, batteriebetriebenen Verstärker kriecht, von seiner verlorenen Rattlesnake. Erneut versichern wir uns mit einem gegenseitigen Blick: REALITÄT - kein Jim-Jarmusch-Film.

"OUTER RICHMOND THREE"

Unsere erste Couch Surfing Erfahrung startet mit ein wenig Verzögerung. Wir müssen erst noch eine Nacht im Green Tortoise anhängen, ehe wir unseren Gastgeber Brandon telefonisch erreichen. Wir haben Glück: die Nachfrage nach Couches ist in SF riesengroß.

Mit dem Bus fahren wir von North Beach in den nördlich des Golden Gate Park gelegenen Distrikt Outer Richmond. Brandon wohnt mit seinen Freunden Ben und Matt in einem kleinen ehemaligen Ladengeschäft. Die drei haben ihre Schlafkojen oben an den Wänden eingerichtet, wir Couchsurfer (außer uns noch eine junge Münchnerin) schlafen in der Mitte des Raumes auf Sofamatratzen.

Unsere drei Gastgeber: Brandon,

Unsere drei Gastgeber: Brandon,

Die fehlende Intimsphäre wird mehr als wettgemacht durch die überaus angeregten und ausgelassenen Unterhaltungen mit unseren Gastgebern.

Matt und

Matt und

Die drei, selbst erst vor einem halben Jahr von Philadelphia nach SF gezogen, sind Designer, die permanent an eigenen und gemeinsamen Projekten arbeiten. Und sie lieben es, ihre Couchsurfer in ihre kreativen Prozesse miteinzubeziehen.

Ben sorgen bestens für unser Wohl

Ben sorgen bestens für unser Wohl

Außerdem sind sie bereits bestens vernetzt mit ihrer lässigen, lebens-, genuss- und gesprächslustigen Nachbarschaft in Outer Richmond, in die wir sofort herzlichst aufgenommen werden.

und unsere Unterhaltung

und unsere Unterhaltung

Nach einem Ausflug ins schwer (neo-)hippieske Haight Ashbury und durch den riesigen Golden Gate Park (in dem man noch einen leisen Nachklang der Greatful Dead Free Concerts zu vernehmen meint), trete ich schon am zweiten Abend im Nachbarschaftscafé "Simple Pleasures" im Vorprogramm einer lokalen Indieband auf. Brandon hatte das schnell mal mit dem Cafébesitzer klargemacht.

Dosenbier in Cocktail-Bars hat man auch nicht alle Tage.

Dosenbier in Cocktail-Bars hat man auch nicht alle Tage.

Am nächsten Tag wandern wir mit Matt durch die halbe Stadt bis nach Mission, treiben uns in Buchläden und Designshops herum und besuchen am Abend eine Live Sendung im "Pirate Cat Radio"-Studio, in dem Marc, auch ein Outer Richmond-Nachbar, gerade eine Rockband aus Oakland interviewt. Wir sind also mittendrin im San Franciscoer Szeneleben.

Live on air dürfen wir mit dabei sein,

Live on air dürfen wir mit dabei sein,

wenn Marc "loslegt".

wenn Marc "loslegt".

Nach drei Nächten heißt es dann Abschied nehmen, wir fahren mit dem Bus ins neue Hotel, in dem wir uns am Abend mit Katharinas Mutter und Bruder treffen werden. Die Aufregung ist groß und um 20 Uhr ist es dann soweit: Familienwiedersehen nach zehn Monaten Reise! Das wird in einem kleinen, klassischen Burger-Diner angemessen gefeiert.

© Katharina L., 2009
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Die Reise
 
Worum geht's?:
1 Jahr: Indien – Thailand – Laos – Vietnam – Neuseeland – Chile – Argentinien – Peru – USA
Details:
Aufbruch: 01.10.2009
Dauer: 12 Monate
Heimkehr: 01.10.2010
Reiseziele: Indien
Thailand
Vietnam
Laos
Neuseeland
Chile
Argentinien
Bolivien
Peru
Vereinigte Staaten
Der Autor
 
Katharina L. berichtet seit 15 Jahren auf umdiewelt.