Falltür ins Paradies
New Orleans I, 30.08.-05.09.2010
"Do you trust me, Katharina?" fragt der Polizist.
"Yes, I think so", antwortet Katharina.
"So come on!"
Wir folgen dem Mann mit der dunkelblauen Uniform der Bahnpolizei hinaus aus der Greyhoundstation in die schweißtreibende, schwüle Nacht von New Orleans. Es ist so feucht und heiß, dass man glaubt, Mississippi und Lake Pontchartrain haben sich gleichzeitig in die tropische Luft aufgelöst, vom ersten Augenblick an spürt man die aufgeheizt prickelnde Atmosphäre des "Big Easy" förmlich auf der Haut.
Wir klettern in den vergitterten Fond des Polizeiwagens, die Türen schließen und verriegeln sich automatisch.
Wird doch hoffentlich kein falscher Polizist sein, schießt es mir durch den Kopf.
Ich hatte ihn im Greyhound-Bahnhof nach einem Bus oder einer Bahn zum India House Hostel gefragt. Die Antwort hätte ich mir vorher denken können: "Öffentlichen Nahverkehr? - Gibts nicht in New Orleans. Hat es noch nie gegeben und nach Katrina schon gleich gar nicht mehr."
Die große Flut von 2005 hat hier alles verändert. Das sollen wir noch oft zu hören bekommen in den nächsten Tagen. Das mit dem öffentlichen Nahverkehr stimmt natürlich nicht - wie schon in Austin werden wir auch in New Orleans die Erfahrung machen, dass man fast überall mit Bus und Bahn hinkommt, wenn man sich die Zeit dazu nimmt und vor allem, wenn man nicht auf all die Leute hört, die einem das Gegenteil weismachen wollen (einmal erklärte mir sogar ein Busfahrer, am Wochenende gebe es keinen Bus zum Flughafen - was schlicht und einfach nicht stimmte).
Sal, so stellt sich unser Polizist vor, fährt uns auf der Canal Street Richtung Norden und warnt uns. Die Gegend hier, westlich der Canal Street sollten wir meiden. Da sei alles kaputt von der großen Flut und da treibe sich Gesindel herum. Vor allem nach Einbruch der Dunkelheit sei es hier sehr gefährlich. Umso erstaunter sind wir als Sal in genau solch einer Seitenstraße das Blaulicht einschaltet und den großen SUV vor einem etwas abgeblättertem Haus im typisch New Orleanser franko-hispanischen Baustil mit säulengestütztem Balkon über der einladenden Veranda ruckartig zum stehen bringt.
Er steigt aus dem Wagen und öffnet unsere fahrbare Zelle. Unter den staunenden Blicken der Hostelgäste klettern wir mit unserem Gepäck aus dem Verschlag und verabschieden uns dankbar von Sal.
Eine Frau fragt besorgt, ob wir in Schwierigkeiten geraten seien. Wir antworten, dass wir, ganz im Gegenteil, wohl mal wieder genau im richtigen Moment am richtigen Ort gewesen seien.
Das India House Hostel empfängt uns mit lässiger Betriebsamkeit. Die einfachen Zimmer liegen hinter dem Haupthaus in eingeschossigen Gebäuden, die um einen schönen Innenhof mit Swimmingpool und Bar gruppiert sind. Wie sich zeigen wird, der perfekte Ort um sich auf die Streifzüge durch die Stadt einzustimmen und sich von diesen zu erholen.
Wir sind nach der mehr als zwölfstündigen Busfahrt durch Texas und Louisiana ziemlich müde. Doch da ich um Mitternacht Geburtstag habe, machen wir uns nach kurzer Pause doch noch einmal auf den Weg ins French Quarter. Mit dem typischen Streetcar fahren wir die Canal Street wieder nach Süden, ins Herz der Stadt.
An der Ecke Bourbon Street steht bereits das "Empfangskommitee" bereit. Wir steigen aus und tauchen ein in die Musik einer etwa fünfzehnköpfigen Brassband, die hier am Straßeneck für eine Schar trinkender und tanzender Passanten aufspielt. Ein mindestens 150 Kilo schwerer Posaunist, gekleidet in Shorts, Flip Flops und ein ärmelloses Basketballtrikot streckt sein Horn himmelwärts und spuckt vor einem endlos sich wiederholendem Riff der Band ein heiseres, wildes Solo heraus, das die Tänzer im Rinnstein in Ekstase versetzt. Zwei berittene Polizisten sehen dem Spektakel lässig zu. Welch ein Auftakt!
Wir schlendern die neonfunklelnde Canal Street weiter entlang, umgehen die einschlägige Touristenmeile Bourbon Street, und biegen stattdessen, nahe dem Mississippi River in die stillere Decatur Street ein, die das altehrwürdige French Quarter im Süden begrenzt.
Wir sind zunächst einmal sehr überrascht von der unglaublichen baulichen Schönheit des Viertels. Wenn die Flut so viel zerstört hat, wie muss das hier dann vorher ausgesehen haben? (Wir werden bald lernen, dass die Häuser vor allem im Inneren hart getroffen wurden, die Schäden an der Oberfläche, zumindest hier im Touristenzentrum, sehr schnell repariert und verborgen wurden und dadurch nur wenig sichtbar sind.)
Es wird Zeit für ein Bier, die Hitze macht durstig, vor allem aber animiert uns die euphorisierende Atmosphäre der Stadt geradezu magisch. "Soup of the day - Whiskey" steht auf dem Schild einer kleinen Kneipe, in der noch kaum was los ist. Es ist so neun Uhr, Montag Abend und wir wissen gar nicht, was noch alles auf uns zukommen soll.
Nach zwei Bier empfiehlt uns die nette Bedienung das "Coops" ein Stück weiter die Straße hinunter fürs Abendessen. Das sei ein original New Orleanser Restaurant mit den typischen Cajun- und Creole-Spezialitäten zu noch nicht tourismusverdorbenen Preisen. Im knallvollen "Coops" stellt uns der backenbärtige, tätowierte, Chefmütze tragende Koch persönlich Jambalaya mit Hasenfleisch und scharfes Gumbo auf den Tisch. Dazu ausgezeichneten Coleslaw (Krautsalat). Da sage noch einer was Abfälliges über die US-amerikanische Küche! Doch diese fantastische Mischung kreolisch-karibischer und cajun-französischer Einflüsse ist wohl auch in den USA einmalig.
Überhaupt fühlt man sich hier in New Orleans dem klischeehaften puritanisch-protestantischen weißen angelsächsischen Amerika ganz weit entfernt. Natürlich stellt auch hier die schwarze Bevölkerung die Unterschicht, natürlich sind Geld und Geschäfte auch hier offensichtlich in weißer Hand und natürlich zeigten und zeigen die brutalen Übergriffe weißer Polizisten auf Schwarze nicht nur während der Flutkatastrophe in hässlich-krasser Weise die nach wie vor tief verwurzelten rassistischen Verhältnisse auch in dieser vergnügungssüchtigsten Stadt des amerikanischen Südens.
Doch die Luft vibriert hier an der Mündung des Old Man River im Rhythmus der mehrheitlich schwarzen Bevölkerung, die mit ihrer mitreißenden Vitalität und Intensität das Leben auf den Straßen und in den Bars und Kneipen deutlich prägt. Die Stadt bewegt sich zu ihrer Musik, zu ihrem Pulsschlag, zu ihrem Slang, zu ihren Ritualen und ihren Formen der Kommunikation. Und dieser Rhythmus hat eine ungeheure Infektionskraft.
Nach dem Essen geht es weiter in die Frenchman Street, die an den südöstlichen Zipfel des French Quarters angrenzt. Wir besuchen eine Blues Session in einer wie ein Eisschrank klimatisierten Bar. Die Straße füllt sich mehr und mehr. Straßenmusiker, Instantpoeten, die ihre Schreibmaschinen auf dem Gehsteig aufgebaut haben und der Laufkundschaft Spontanlyrik hinterherschreiben, eine kunterbunte Mischung aus Touristen und Einheimischen in stilvoll verraucht und alkoholgeschwängerter French Quarter Atmosphäre: Der Traum eines jeden Flaneurs. Und Bar für Bar, Kneipe um Kneipe erfüllt mit fantastischer Live Musik, die, in den allermeisten Fällen, bei freiem Eintritt gegen Trinkgeld dargeboten wird. Wir landen vor der Bühne einer kochenden Soul-Funk-Band mit großem Bläsersatz und einer Percussionfraktion, die sich unters tanzende Publikum mischt. Sofort wird man in die brodelnde Atmosphäre hineingezogen, das Bier fließt in Strömen und es dauert nur Sekunden, bis Katharina, der Aufforderung eines coolen, Anzug tragenden, älteren Afroamerikaners folgend, über die Tanzfläche wirbelt.
Quer über der Straße im "Apple Barrel", einer winzigen Bretterbude von einer Kneipe, lernen wir zu den erdigen Sounds des traditionellen New Orleans-R&B-Quartetts "Andre Bouvier & the Royal Bohemians" Peter kennen, einen echten mitfünfziger Szenegänger, der uns nach Konzertende in eine Bar schleppt um uns einigen Musikern vorzustellen, die hier immer nach dem Spielen abhängen. Wir lernen zwei Schlagzeuger und Smokey, den Chef des "Eisschrank"-Blues Clubs, in dem wir am frühen Abend waren, kennen. Einer der Schlagzeuger nimmt uns im Auto mit in eine Kneipe ein Stück weiter Richtung Osten, wo wir ein paar seiner Freunde treffen. Die sitzen an der Bar und portraitieren einander auf Rechnungsblöcken, ohne auf das Papier zu sehen und freuen sich ausgelassen über die interessanten Ergebnisse. Katharina ist ganz in ihrem Element und beteiligt sich sofort, während ich mit einem der Freunde eine Runde Billard spiele. Mittlerweile ist es nach zwölf und die Freunde weisen mich auf einen New Orleanser Geburtstagsbrauch hin: Ich solle mir mit einer Sicherheitsnadel eine Dollarnote an die Hemdbrust pinnen. Es sei üblich, dass Passanten einem dann einen guten Geburtstag wünschen und der Dollarnote eine weitere hinzufügen. Mit dem Auto gehts dann weiter in die Wohnung des Schlagzeugers. Wir haben keine Ahnung mehr, wo wir sind und nachdem unser Gastgeber eingeschlafen ist, machen wir uns auf die Suche nach einem Taxi. Siebzehn Dollar später kommen wir am India House an. Es ist sieben Uhr morgens. Zwischen den ersten Frühstückern hindurch schleichen wir in unser Zimmer. Ein wahrhaft ansehnlicher Empfang in "Naawlins".
Nach Pool-Erholung im Innenhof unseres Hostels brechen wir halbwegs wieder hergestellt, am Abend wieder Richtung Frenchman Street auf. Wir schlendern die Canal Street entlang, ich habe meinen Dollarschein noch am Hemd hängen. Viele Schwarze wünschen mir alles Gute zum Geburtstag und eine junge Frau steckt mir tatsächlich einen Dollarschein ans Hemd! Am Ende des Tages werden es immerhin zehn Dollar sein, die mir von der Brust baumeln.
Für mein Geburtstagsessen suche ich mir noch einmal das Coops aus. Das war am Vortag einfach zu lecker. Danach gehts wieder in die Frenchman Street. Pete "The Foot" Bradish, einer der Schlagzeuger vom Vorabend hat mich eingeladen, heute bei seiner Band für ein paar Songs einzusteigen. Und so stehe ich an meinem 43. Geburtstag mit "Foot & Friends" auf der Bühne einer New Orleanser Kneipe und gebe, unterstützt von diesen fantastischen Musikern, den "Sudder Streeet Blues" über die Abgründe Kolkatas zum Besten. Träume ich?
Es wird wieder spät und flüssig. Im "Appel Barrel" fährt uns die Janis-Joplin-Hippie-Trash-meets-Billy-Holiday-Grandezza-Band "Big Pearl" direkt ins unermüdliche Tanzbein. Während unseres Aufenthaltes in dieser Stadt fällt uns auf, welch kaum mehr gekannte Trink- und Feierkondition New Orleans in uns zu wecken imstande ist. Und offenbar nicht nur in uns ...
Doch nicht nur feiern kann man in New Orleans. Tagsüber streifen wir durch eine ungeheuer vielfältige, an jedem Ort zutiefst atmosphärische Stadt. In der Gegend um unser Hostel, zwischen Mid City und Storyville bis hinunter zur legendären Basin Street und dem Louis-Armstrong-Park sehen wir die Spuren, die der Sturm Katrina hinterlassen hat, am deutlichsten.
Viele einstmals wunderschöne Häuser sind verfallen und verlassen, nördlich der Basin Street sind ein paar Backstein-Wohnblocks aus dem Boden gestampft worden, vor denen offensichtlich sehr arme Menschen herumlungern. Der Louis-Armstrong-Park ist wegen Bauarbeiten geschlossen, durch den Zaun hindurch kann man sehen, dass er sich in erbärmlichen Zustand befindet. Südlich der Basin Street beginnt das French Quarter.
Abgesehen von der ultrakommerziellen 24-Stunden-Partymeile Bourbon Street, in der sich rotgesichtige, grölende Touristen zu einem hörtechnisch kaum entwirrbaren Klanggewitter aus Dutzenden von Kneipen von früh bis spät hochprozentige Cocktails aus überdimensionierten Plastikbechern hinter die Binde gießen (und in dem wir trotzdem unseren Spaß haben als Katharina, ein Waschbrett mit zwei Löffeln bearbeitend, zum Entzücken der Musiker und Tänzer in den wilden Rhythmus einer Zydeco-Band einstimmt), ist dieses Viertel gerade auch bei Tageslicht eine Augenweide.
Ein Haus charmanter als das nächste, alles liebevoll und detailverliebt verziert und begrünt. Ein alle Sinne betörendes Erlebnis, wenn man sich mit einem mit Olivensalat und diversen Wurst- und Käsesorten gefüllten "Muffleta"-Sandwich auf einer der Haustreppen niederlässt und das Gesicht der heissen New Orleanser Sonne entgegenstreckt.
Weiter im Süden trifft man auf den Jackson Square mit der beeindruckenden St. Louis Cathedral, wo Wahrsager auf kleinen Klappstühlen sitzen und über die Zukunft der Passanten nachgrübeln. Dann schließlich erreicht man den Mississippi, an dessen Uferpromenade wir entlangschlendern bis zum Fähranleger. Dort nehmen wir die (für Fußgänger kostenlose) Fähre hinüber nach Algiers und wieder zurück, gönnen uns in der kühlen Brise einen Blick auf die abendliche Skyline.
Andere Ausflüge führen uns in den Westen der Stadt. Mit dem St. Charles Avenue Streetcar geht es vorbei an immer prunkvolleren Villen im klassischen "Vom-Winde-verweht"-Südstaaten-Stil, bis wir, ganz im Westen, noch hinter Loyola- und Tulane-Universität das sehr charmante Boheme-Viertel um die Oak Street erreichen. Kleine Klamotten-, Bücher- und Designläden, schöne Cafes aber auch Musikclubs wie das bekannte "Maple Leaf" prägen hier ein eher kleinstädtisches Bild. Auf dem Rückweg durchstreifen wir den Warehouse- und Artsdistrict mit seinen vielen kleinen und großen Galerien um Julia und Girod Street und besuchen im Contemporary Arts Center die Ausstellung " Freak Parade" des fantastischen surreal-absonderlichen Künstlers Thomas Woodruff.
Am Ende unserer ersten Woche in New Orleans erfahren wir von meinem Vater per Mail vom Tod meiner Tante. Wir müssen unseren Reiseplan ändern und buchen unseren Rückflug von New York um eine Woche vor. Mit Trauer im Herzen machen wir uns dennoch zu unserer geplanten Rundreise durch Mississippi auf.
Aufbruch: | 01.10.2009 |
Dauer: | 12 Monate |
Heimkehr: | 01.10.2010 |
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