TimeOut in Südamerika

Reisezeit: April - August 2008  |  von Beatrice Feldbauer

Woche 14 12.-18. Juli 2008: Kindheitstraum

Seit ich als Kind zum ersten Mal eine Foto von dieser vergessenen Inka-Stadt in den Anden gesehen hatte, wusste ich dass ich diese Stadt einmal sehen möchte. Aber ganz ehrlich, eigentlich hatte ich gar nie daran gedacht, dass dieser Wunsch sich einmal erfüllen würde. Es war ein Traum und manche Träume behält man ein ganzes Leben.

Und jetzt bin ich trotzdem hier, nur noch Stunden entfernt von meinem Ziel.

Ich hatte wunderbar geschlafen. Nach dem Thermalwasser gestern, war ich so müde, dass ich gleich eingeschlafen bin. Um fünf Uhr gibt es Frühstück und Edison holt mich kurz darauf ab. Mein erster Gedanke, wie ich aus dem Fenster schaue: Es regnet. Es tropft von allen Bäumen. "Ist das normal?" "Nein", meint Edison, "das ist sehr selten. Eigentlich regnet es um diese Jahreszeit nie. Aber es ändert sich eben alles".

Mit dem Bus fahren wir hinauf nach Machu Picchu. "Gibt es eine Strasse bis Aguas Calientes, oder wie kommen denn die vielen Busse ins Dorf?" will ich wissen. "Nein, es gibt keine Strasse. Die einzige Verbindung ist die Bahn und der Fussweg, der Inka-Trail. Die Busse wurden mit der Bahn transportiert".

Die steile Anfahrt von Aguas Calientes nach Machu Picchu

Die steile Anfahrt von Aguas Calientes nach Machu Picchu

Steil geht es den Berghang hinauf. Auf einer engen Naturstrasse mit vielen Kurven und steilen Abhängen. Manchmal gibt es ein paar Meter Leitplanke. "Es braucht nicht mehr davon", sagt Edison. "Weisst du, die Verarbeitung ist bei uns so schlecht, dass es besser ist, wenn keine da stehen. Sie würden doch nichts nutzen". Die Busse fahren pausenlos und sie wissen, wo die Ausweichstellen sind.

Warum wir so früh unterwegs sind? Um den Sonnenaufgang über der alten Stadt beobachten zu können. Diese Rechnung scheinen wir heute aber ohne die Sonne gemacht zu haben. Der ganze Berg ist in dicken Wolken eingepackt. Zwar regnet es nicht mehr, es war nur ein kleiner Schauer in der Nacht, aber es dämpft in den Wäldern.

Bei der Endstation der Busse gibt es ein Hotel und einen Imbissstand, sowie Toiletten. Tickets werden kontrolliert und dann sind wir da. Auf den Terrassen von Machu Picchu. Ich habe Edison bereits gesagt, dass ich nicht zu schnell gehen kann und so steigen wir ganz langsam und gemächlich die vielen Stufen hinauf. Wir sind in der Agrarzone. Hier wurden verschiedene Gemüse angepflanzt.

Die Agrarzone von der Stadt her gesehen

Die Agrarzone von der Stadt her gesehen

Und dann sind wir ganz oben, beim Wärterhaus und sehen hinunter in die Stadt. Das ist der Ort, wo die berühmten Fotos geschossen werden. Heute ist damit gar nichts denn ich sehe nichts. Gar nichts von der Stadt. Alles ist in grauen Nebel gehüllt. Zwar versucht die Sonne unterdessen, das Grau zu durchbrechen, aber es gelingt ihr nicht so richtig. Edison erzählt davon, wie die Inkas einen Ort für ihre Städte gesucht hatten. Die Sonne musste an bestimmten Tagen einen ganz genauen Lauf nehmen. Das wurde abgeklärt und im nächsten und übernächsten Jahr noch einmal geprüft. Erst wenn man ganz sicher war, entschloss man sich, die Stadt an diesem Ort zu bauen.

Die Inkas waren Wissenschaftler, sie optimierten alles. Ich sehe hinunter in den Nebel. Der hat im Moment den Kampf mit der Sonne verloren und die Stadt taucht auf. Für Minuten nur taucht sie aus dem Grau aus. Ich sehe Mauern, Giebel, Häuser, ganze Strassenzüge und dahinter erscheint ein Teil des Berges, des Huayna Picchu Doch dann deckt der Nebel alles wieder zu. "Lass uns hinunter gehen, in die Stadt, du kannst später noch einmal hierher kommen und eine Foto machen." Doch bevor wir in die Stadt hinunter steigen, zeigt mir Edison, wo er geboren wurde. Hier, auf der anderen Seite der Stadt, da wo es tief ins Tal hinunter geht, da unten liegt das Haus, in dem Edison aufgewachsen ist.

Das Haus links unten am Fluss ist das Geburtshaus von Edison

Das Haus links unten am Fluss ist das Geburtshaus von Edison

Sein Grossvater wohnt noch immer dort. Er ist über 90 Jahre alt, aber eigentlich weiss er nicht, wie alt er ist. Er betreibt etwas Landwirtschaft und ist das grosse Vorbild von Edison. Von ihm habe ich sehr viel gelernt. Er spricht nur Quechua und er kann noch die Inka-Schrift mit den Schnüren entziffern. Er kann sich auch noch an die ersten Entdecker erinnern. Er spricht von Deutschen, die mit Pferden hier in die Schlucht vordrangen. Die vergessene Stadt auf dem Berg wurde 1911 offiziell vom Amerikaner Hiram Bingham entdeckt.

Die Lage der Stadt inmitten wilder Schluchten im Urwald ist unbeschreiblich

Die Lage der Stadt inmitten wilder Schluchten im Urwald ist unbeschreiblich

Aber den Einheimischen war der Ort schon immer bekannt und so erkaufte sich Bingham diese Information für einen Soles von einem einheimischen Bauern. Für Edison war das keine grosse Leistung. Ein Soles war zu jener Zeit ein Vermögen für einen armen peruanischen Bauern. Viel mehr gewichtet er das Stillschweigen von drei Bauern, die nachgewiesenermassen früher hier waren, ihre Namen hinschrieben, aber niemandem von der Existenz der Stadt erzählten.

Ring über dem Stadttor

Ring über dem Stadttor

Wir treten durch das Stadttor. "Bienvenida en la Ciudad de Machu Picchu." Willkommen in der Stadt Machu Picchu begrüsst mich Edison ganz offiziell. Er erklärt mir die Funktion des Stadttores, das an einem steinernen Ring aufgehängt und in zwei steinernen Oesen rechts und links fest gemacht worden war. Das Stadttor war aus Holz und existiert schon lange nicht mehr.

Bevor wir in die Stadt treten, erklärt mir Edison aber noch die beiden Mauern, die die Stadt und den Agrarbereich voneinander trennen. "In vielen Beschreibungen wird dies als Wassergraben bezeichnet. Doch was hätte das für einen Sinn, einen Wassergraben anzulegen, der direkt in den Abgrund führt. Da wäre das ganze Wasser wie in einem Wasserfall hinunter gestürzt. Nein, hier verläuft eine seismische Linie. Die Inkas hatten das entdeckt und schützten ihre Stadt indem sie die beiden Mauern genau neben dieser seismischen Linie bauten".

Magisch erscheint die Stadt im Nebel

Magisch erscheint die Stadt im Nebel

Es gibt auch sonst noch einiges, was Edison anders sieht. "Bingham erklärte sich bei seiner Entdeckung die Stadt so, wie er sich das vorstellen konnte. Aber er ist nur ein Mann und hat seine persönlichen Vorstellungen. Viele davon wurden bis heute übernommen, obwohl sie gar nicht stimmen".

Dies war ein Schlafraum. "Was glaubst du, wieviele Menschen hier schlafen konnten?" "Vielleicht zehn, ein Dutzend?" "Mindestens 40 Menschen konnten hier schlafen. Niemand bestimmt, dass man nur im Liegen schlafen kann. Die Menschen schliefen im Hocken. Sie gaben sich gegenseitig warm und hatten einen sehr bequemen Schlafplatz. Schau mal, der Raum ist hoch und gut durchlüftet. Es wohnten vor allem Frauen in dieser Stadt".

der Wohnbereich

der Wohnbereich

"Wie kamen denn all diese Frauen hier in den Dschungel, den steilen Berg hinauf?" will ich wissen und stelle mir unendliche Strapazen vor. "Ganz langsam. Die Inkas hatten viel Geduld für alles. Ausserdem, Frauen können soviel wie Männer. Schau dir doch mal die heutigen peruanischen Frauen an: Sie arbeiten den ganzen Tag, gebähren die Kinder und nähren und unterhalten die ganze Familie. Und schau dir die Männer heute an".

Dazu ist eigentlich nicht viel mehr zu sagen. Ich staune über Edison, wie leicht er solche Sätze von sich gibt. "Frauen waren in der Gesellschaft gleichwertig. Und Geburtenkontrolle wurde sehr ernst genommen. Man lebte nicht als Familie zusammen, sondern als Gruppe. Eine Frau bekam höchstens alle zwei Jahre ein Kind". Erstaunlich, wie schnell man bei solchen Informationen in sehr persönlichen Gesprächen steckt, die letztendlich mehr mit uns zu tun haben, als mit den alten Inkas.

Der Condor mit zwei Flügeln aus Felsen

Der Condor mit zwei Flügeln aus Felsen

Wir kommen zum Tempel des Condors. Ein wenig Fantasie braucht es schon, die beiden Flügel des Condors zu sehen, dessen Kopf und Körper am Boden in Stein gemeisselt ist. Aber es ist auch fantastisch, wie die Inkas den gewachsenen Felsen in ihre Konstruktionen einbezogen. Im oberen Teil sind Nischen eingelassen. Bringham interpretierte das als Gefängnis. "Nein, sowas gab es bei den Inkas gar nicht. Es gab auch nicht die Gesetze: nicht stehlen, nicht lügen und nicht faul sein. Das sind alles Interpretationen dieses Mannes oder der Spanier, die brachten Gesetze mit sich".

Edison im Wohnbezirk

Edison im Wohnbezirk

"Was ist Machu Picchu für dich? Heimat? Kultstätte?" will ich von Edison wissen. "Für mich ist der Ort alles. Früher spielten wir hier auf den Plätzen Fussball. Und wir rannten den ersten Reisebussen hinterher, schrien in jeder Kurve 'Hola, hola' und rannten die Abkürzung hinunter zur nächsten Kurve. Bei der letzten riefen wir 'Good Bye' und stiegen wieder hinauf auf den Berg. Irgendwann fragte jemand, ob ich den Ort zeigen könnte und so bin ich Guia geworden".

Wir steigen hinauf zum Observatorium, das wie eine Pyramide gebaut und die natürliche Form des Berges übernommen hat. Hier ist eine grosse Gruppe und hält sich an den Händen. Will mit einem Spruch die Energie des fein geschliffenen Steines aufnehmen. Edison lächelt: "Es gibt so viele Steine, die mehr Energie in sich haben, als dieser eine Stein, der die Wintersonnenwende anzeigt." "Bei uns umarmt man manchmal Bäume, um Energie zu bekommen" erkläre ich. "Oh, ja, das kann ich mir sehr gut vorstellen, das ist Leben. Lebensenergie."

Eine Treppe, in den Fels gehauen

Eine Treppe, in den Fels gehauen

Wir steigen Treppen hinunter und wieder hoch. Überall gibt Edison seine ganz persönlichen Erklärungen. Auch in der industriellen Zone, wie Hirham, den Bereich nannte. Hier wurde gearbeitet, gewoben, getöpfert. Er sah in den beiden runden Sockeln am Boden eine Art Töpferscheiben. Für Edison sind es astronomische Spiegel. Hier konnte man im Wasser den Himmel beobachten. Und je nach Sonnenstand schickte die Sonne ihre Strahlen durch die beiden Fenster direkt auf das Wasser.

Töpferscheiben oder astrologische Spiegel?

Töpferscheiben oder astrologische Spiegel?

Ganz am Schluss kommen wir zum Tempel der Mutter Erde. Sie liegt direkt unter dem Sonnentempel. "Nein, die Sonne war nicht der Gott der Inkas, sondern der Vater," korrigiert mich Edison.

"Und der Mond ist die Mutter. Sonne und Mond sind die oberste Schicht der dreiteiligen Welt der Inkas. Der Kondor ist das Sinnbild für den oberen Teil, er ist gleichzeitig der Bote der Sonne und wird deshalb verehrt.

Symbol für unser Leben ist der Puma, sowie Pachamama, die Mutter Erde, in deren Tempel wir jetzt stehen.

Und für den Untergrund steht die Schlange und hier im Palast der Pachamama führt eine Treppe hinunter in den Berg. Hier wurden wichtige Würdenträger beigesetzt. Es ist kein eigentlicher Friedhof, sondern letzte Ruhestätte für wenige".

Ganz besonders genau und fein verarbeitet: der Tempel der Mutter Erde

Ganz besonders genau und fein verarbeitet: der Tempel der Mutter Erde

Und hier ist die Führung von Edison zu Ende. Er empfielt mir, später noch einmal hinauf zu steigen, denn unterdessen hat die Sonne die Wolken besiegt. Oder vielleicht möchte ich doch den Huayna Picchu besteigen. Es sind nur 40 - 50 Minuten bis da hinauf.

Zum Abschluss schenkt er mir das Herz der Pachamama, das in die Felswand eingelassen ist und verabschiedet sich mit einer richtig festen und starken Umarmung. "Ich wünsche dir viel Glück auf deinem Weg und hoffe, ich konnte dir etwas von unserer Religion, unserer Kultur und unserem Verständnis zur Natur mitgeben."

Das Herz der Pachamama

Das Herz der Pachamama

Und dann stehe ich da, mitten in der Inkastadt, schaue ihm nach, dem Sohn der Sonne, wie er zum Ausgang geht und lasse noch einmal alles nachwirken, was er erzählt hat.

Nein, ich werde nicht mehr weiter hinauf steigen. Zu viel bin ich auch heute Morgen schon wieder auf- und abgestiegen. Aber ich setze mich in eines der offenen Wärterhäuser und beobachte noch eine Stunde die Stadt. Stelle mir vor, wie es aussähe, wenn all diese Touristen in lange Tuniken gewandet wären. Obwohl jetzt sehr viele Menschen hier sind, teils in Gruppen teils allein, ist das Gelände ruhig. Vielleicht ist es die Höhe, vielleicht die Anstrengung, wahrscheinlich die Atmosphäre, die alle Touristen irgendwie ruhig und besinnlich werden lässt.

Später esse ich beim Imbiss eine Quiche mit Spinat und trinke ein Wasser und dann fahre ich mit einem der Busse zurück nach Aguas Calientes. Dort hole ich mein Gepäck im Hotel und setze mich ins Restaurant beim Bahnhof. Bestelle einen Primavera und versuche, die Gedanken und Bilder in mein Notizbuch einzufangen.

Primavera: Grenadine mit Orangensaft und Deko

Primavera: Grenadine mit Orangensaft und Deko

Auf der Rückfahrt sitzt eine Amerikanerin neben mir. Trotz 20 Jahren Altersunterschied finden wir rasch einen guten Draht und als sie überlegt, eine kleine Flasche Weisswein zu bestellen, schliesse ich mich ihr an.

Vornehm...

Vornehm...

So kommt es, dass ich zuletzt doch noch jemanden gefunden habe, um auf meinen Geburtstag anzustossen. Mein Englisch ist zuerst etwas holprig, aber bald erzählen wir uns gegenseitig aus unseren Leben und entdecken viele gemeinsame Wünsche und Sorgen. "Auf die erfolreichen und selbständigen Frauen, die wissen, was sie wollen", bringt es Reena auf den Punkt. Sie wohnt in San Francisco und vielleicht bleiben wir in Kontakt.

Es ist bereits dunkel, als wir in Cusco ankommen. Reena reist gleich mit dem Nachtbus weiter nach Puno und ich werde von Ever abgeholt, der mich ins Hotel bringt. Ich bin wieder einmal hundemüde und will im Moment nur noch eines: schlafen.

PS. Ich weiss, ich habe viel zu viel geschrieben und viel zu viele Fotos aufgeladen. Und mir ist auch bewusst, dass die Fotos nicht gar so toll sind, aber irgendwie muss ich versuchen, dieses Erlebnis zu dokumentieren.

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Die Reise
 
Worum geht's?:
Nicht Nichtstun steht im Mittelpunkt. Sondern etwas tun, wofür im normalen Alltag zu wenig Zeit bleibt. Meine beiden Leidenschaften Reisen und Schreiben möchte ich miteinander verbinden. Und wenn mich dabei jemand begleitet, umso schöner. Es sind vor allem Geschichten, die ich erzähle und erst in zweiter Linie Beschreibungen von Orten und Gebäuden. Ich möchte versuchen, Stimmungen herüberzubringen. Feelings, sentimientos. Wenn mir das manchmal gelingt, ist mein Ziel erreicht.
Details:
Aufbruch: 12.04.2008
Dauer: 4 Monate
Heimkehr: 03.08.2008
Reiseziele: Uruguay
Brasilien
Paraguay
Argentinien
Chile
Bolivien
Peru
Guatemala
Der Autor
 
Beatrice Feldbauer berichtet seit 20 Jahren auf umdiewelt.
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