TimeOut in Südamerika
Woche 5 10.-16. Mai 2008: Nachtfahrt
Die Idee war bestechend. Abends in den Bus sitzen, Füsse hochlagern, einschlafen, durch die Nacht fahren und am Morgen ausgeruht und entspannt ankommen.
Mein Sitz No. 8, mein Königreich für diese Nacht. Pünktlich um 20.00 Uhr fährt der Riesenbus los. Von der Busstation mit den über 60 Plattformen, wo in dieser Nacht, wie in jeder Nacht Busse in alle Himmelsrichtungen ausschwärmen. Mindestens 40 Gesellschaften bieten diese Reisen an mit verschiedenen Standards. Bequemer Sitz, Halbliegebett und eben Suite, das heisst, der ganze Sitz kann zu einem Bett gekippt werden. Es gibt ein Kissen und eine Decke wird mitgeliefert.
Zuerst läuft ein Thriller im Bildschirm über unseren Köpfen. Dem englischen Text kann ich nicht folgen, er ist zu leise und wird zu sehr von Musik übertönt. Und den spanischen Untertitel will ich nicht lesen - zu mühsam. Also lasse ich es und hänge meinen eigenen Gedanken nach. Endlich, der Film ist fertig, aber dafür sind jetzt meine beiden Sitznachbarn in angeregter Stimmung.
Soll mir nie wieder jemand erklären, dass Männer nicht auch über alles reden. Die beiden hatten sich offensichtlich gerade erst kennen gelernt und sind bereits tief in sehr persönliche Gespräche vertieft. Das gipfelt darin, dass sie verschiedene Freundinnen anrufen und mit ihnen flirten. Mit eingeschaltetem Lautsprecher, damit der neue Freund mitbekommt, was für ein toller Hecht man ist.
Ich mag auch da nicht mehr mithören und lege mich flach, schiebe die Vorhänge vor und versuche, eine bequeme Position zu finden. Da flammt plötzlich die Deckenbeleuchtung wieder auf. Carolina, die Bordhostess erscheint: "Wir werden jetzt essen". Jetzt? So kurz vor Mitternacht? Sie verteilt Salat und Crackers und irgendwelche Kleinigkeiten. Dazu Cola und dann den Hauptgang. Hähnchen und Reis. Es schmeckt mir nicht, resp. es schmeckt sehr eigenartig und ich lasse nach ein paar Bissen alles wieder zurück gehen. Will jetzt endlich schlafen. Wir hatten seit der Abfahrt noch ein paar Mal angehalten und unterdessen sind alle Sitze belegt. Und auch die beiden Typen müssen auf ihre reservierten Plätze zurück, was ihrem Redefluss natürlich ein Ende macht.
Und dann fängt die Nacht an. In der man die richtige Position sucht und meistens nicht findet. Erschwerend kommt dazu, dass ich wegen meiner linken Schulter nicht sicher bin, ob ich eher links oder rechts schlafen soll. Am Besten auf dem Rücken aber da habe ich Angst, dass ich mit meinem Schnarchen den ganzen Bus am Schlafen hindere.
Es ist eine lange Nacht. Wir fahren durch schwarze Dunkelheit. Kaum ein Licht am Strassenrand, keine Sterne, kein Mond. Kaum Verkehr, nur dieses monotone Summen des Motors. In solchen endlosen Nächten könnte ich alles auf den Kopf stellen. Nichts hat mehr Bestand. Ein Gedanke schleicht sich ein, krallt sich fest, ruft nach einem neuen Gedanken, neuen Sätzen. Sie schliessen sich aus, steigern sich hoch, stellen alles in Frage. Schwarze Nebel umhüllen mich, umschleichen mich mit Schlaf und wilden Träumen. In solchen Nächten könnte ich mein Leben neu gestalten, auf den Kopf stellen und komplett durchschütteln.
Irgendwann muss ich auf die Toilette. Ich werfe einen Blick ins Cockpit. Auch hier: schwarze Nacht. Carolina scheint zu schlafen. Der ganze Bus schläft. Und trotzdem fahren wir durch diese Nacht. Durch diese pechschwarze Nacht. Ein Geisterbus, der nirgends ankommt, der durch diese endlose Dunkelheit fährt. Wie weiss der Bus, wohin er fahren muss? Es gibt schon lange keine Strassenlampen mehr, keine Schilder. Da draussen ist nichts.
Und irgendwann gibt es Frühstück. Immer noch Dunkelheit und gerade jetzt glaubte ich, in einen kurzen Schlummer zu versinken. Der letzte dunkle Gedanke, soeben entschwunden. Hinterliess ein paar schwarze Fäden. Spinnenfäden. Unfassbar und undenkbar.
Es gibt heissen Kaffee und ein Paket mit diesen unglaublich süssen Keksen. Ich mag nicht. Caroline sieht mich erstaunt an. Eigenartige Passagiere gibt es manchmal. Der Kaffee könnte gut tun. Ich speie ihn fast wieder aus. Der ist so süss, dass der Löffel darin stecken bleibt. Ich raffe mich trotzdem auf. Trinke in kleinen Schlucken, wie eine Medizin. Wir nähern uns einer Stadt. In völliger Dunkelheit. Neuquem. Kann den Namen fast nicht aussprechen und weiss auch kaum, wo er liegt. Ich frage den Chauffeur. 850 km sind wir in den knapp 11 Stunden gefahren. Es waren zwei Chauffeure, die sich abgewechselt haben. Ich bedanke mich für die gute Fahrt, bin froh, endlich irgendwo angekommen zu sein.
Ich will weiter nach Bariloche und habe Glück. In knapp einer Stunde fährt ein Bus dahin.
Acht Uhr Morgens. Es fängt an, hell zu werden. Wir verlassen die Stadt, deren Namen ich mir nicht merken werde und kommen hinaus aufs Land. Ich sitze oben, ganz vorn, genau über dem Chauffeur. Und wieder fahren wir durchs nichts. Mit dem Unterschied, dass ich es jetzt sehe. So habe ich mir das letzte Nacht vorgestellt. Rundum nichts. Ein langer Zaun auf beiden Seiten der Strasse, spärliches Gras, stacheliges Gestrüpp. Irgendwo unterwegs vier Kälber. Sind sie dabei, eine eigene Herde zu gründen? Mitten im Niemandsland. Wir fahren schon stundenlang. Die Landschaft ändert sich minimal.
Manchmal kommen wir über eine kleine Kuppe und auf der anderen Seite weitet sich das Land. Man sieht eine Kurve. Eine leichte Linkskurve, später eine Rechtskurve. Irgendwann ein Schild: Achtung Dinosaurier! Ja, das könnte eine Erklärung sein. Hier haben sie überlebt. Und sie fressen alles, was sie finden. Darum ist noch niemand hier zurück gekommen. Darum bleibt es ein Geheimnis. Jurassic Park live sozusagen. Nein, es ist ein Restaurant, das so heisst. Hier draussen im Niemandsland hat jemand eine Kneipe aufgemacht. Wir fahren vorbei.
Später halten wir kurz an. Bei eine paar Häusern. Ist jemand zugestiegen? Jemand ausgestiegen? Ich weiss es nicht, der Bus fährt schon wieder. Wir sind bereits vier Stunden unterwegs und ich frage mich einmal mehr: wo in aller Welt liegt dieses Bariloche und warum bekommen alle feuchte Augen, wenn man erzählt, dass man dahin fährt.
Eine Antwort bekomme ich einige Zeit später. Als sich die Landschaft ändert. Es gibt ein paar Seen, Flüsschen, farbige Herbstbäume und Berge. Schön. Aber bis Bariloche sind es noch immer 100 km. Irgendwann kommen wir an. Der Ort liegt an einem See. Und es fängt an zu regnen. Ich lasse den Taxifahrer die schwere Reisetasche heben. Möchte ein Hotel mit Innenpool. Checke im 4-Sternhotel ein. Was wollte ich? Einen Pool? Meine Augen sehen nur noch eines: ein Bett, riesig, mindestens fünf Meter breit. Noch nie habe ich ein so grosses Bett gesehen. "Soll ich ihnen noch die Bedienung des Tresors erklären?" fragt mich die tüchtige Hotelassistentin. "Nein danke, brauch ich nicht". Endlich ist sie weg und ich liege flach. Auf einem Bett, das mindestens fünf Meter breit ist.
Stunden später bin ich erwacht. Das Bett ist zwar breit, aber mehr als 3 Meter wird es kaum sein. Ich sehe mir kurz die Umgebung an. Pool, Fitnessraum (oh, ist es also bereits soweit) Spa, melde mich gleich für eine Massage morgen vormittag an und Restaurant. Internet in der Lobby. Im Moment reicht mir, was ich sehe, ich tauche wieder unter.
PS. Und ich habe zwar noch Zeit gehabt, diesen Text zu schreiben, aber die Kraft, nochmals in die Lobby zu gehen, um ihn noch vor Mitternacht aufzuladen, fehlte dann doch.
Aufbruch: | 12.04.2008 |
Dauer: | 4 Monate |
Heimkehr: | 03.08.2008 |
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