TimeOut in Südamerika
Woche 3 26. April.-2. Mai 2008: Video und Tango
Ich hatte Karten fürs Metropolitain-Theater bekommen. Das Stück hiess Solas. Also machte ich mich fein. Dazu musste ich ganz unten in die Reisetasche greifen, die hohen Schuhe anziehen, ein paar Tropfen Chanel No. 5 hinters Ohr und als ich in die Rezeption kam staunte Massimo, denn er hatte mich bisher nur in Jeans gesehen. "Que elegante!" Er bestellte mir ein Taxi und während ich wartete, bat ich ihn, eine Foto von mir zu machen. Das schien ihm Spass zu machen, jedenfalls knipste er auch noch eine mit seinem Handy und zeigte mir die Fotos seines Enkels. Zum Glück kam dann das Taxi sonst hätte ich wohl die ganze Familie kennengelernt.
Das Theater war alt, das Stück eindrücklich, auch wenn ich nicht jedes Wort verstand. Und bevor der Vorhang aufging, wurde im Foyer ein kleiner Apero offeriert. Coca Cola mit Fernet, eine interessante Kombination. Später staunte der Typ im Internetcafé ebenfalls noch ein wenig, als ich in meinem Aufzug aufkreuzte. "Ich war im Theater", erklärte ich ihm, worauf er natürlich wissen wollte, in welchem, und wie es mir gefallen hätte.
Heute habe ich meine Cafeteria gefunden. Ganz in der Nähe des Hotels. Hier trinke ich am Morgen meinen Cappuccino und geniesse einen frisch gepressten Orangensaft samt Croissante. Wenn die Sonne scheint, wie heute, kann man sich an einen der kleinen Tische draussen setzen und wenn alle fünf besetzt sind, sitze ich hinein. Beobachte die Gäste und die Kellner, wie sie geschickt die vollbeladenen Tabletts auf einer Hand balancieren und flink die Tische wieder räumen, wenn die Gäste noch kaum die Türe geöffnet haben, um zu gehen. Sie servieren immer noch ein Glas Wasser zu jeder Bestellung und das kann man sich sogar gratis wieder auffüllen lassen. Und zum Kaffee gibt es ein paar Biskuits.
immer wieder: faszinierende Ansichten
Ich beginne mich einzuleben. Brauche ein paar Anhaltspunkte in dieser riesigen Stadt. Auch der Typ im Internetcafé kennt mich bereits und weiss, dass ich Word- und Explorer-Zugriff brauche, wenn ich am Abend mit meinem neuen Text auf dem Stick komme.
Und den Besitzer des Hotels habe ich unterdessen auch kennengelernt. Er ist ungefähr so alt wie das Hotel und mindestens so klapprig wie der antike Lift. Aber er ist der einzige, der mir eine Quittung ausstellen kann, wenn ich wieder für einen Tag bezahle. Dann kommt seine NCR-Registrierkasse zum Einsatz. Das Datum bestätigt er mir auf der Rückseite des kaum lesbaren Kassazettels. Massimo ist nur der Angestellte. "Aber ich arbeite immer so, als ob mir das Haus gehören würde," hat er mir gestern Abend gesagt.
Die Casa Rosada, das Regierungsgebäude
Erster Mai. Ich habe am Mittag im Internet die neuesten Nachrichten aus der Schweiz abgefragt, und sah als erstes einen schwer gepanzerten Zürcher Polizisten. In der Schweiz! Jetzt bin ich erst recht gespannt, wie der Tag hier weitergehen wird. Ich schlendere die Avenida Mayo entlang zum Regierungsgebäude. Die Polizisten sind immer noch da. Plaudern und stehen sich die Füsse in den Bauch. Ein paar Kriegsveteranen aus dem Falklandkrieg protestieren für ihre Rechte. Unauffällig. Mit ein paar Plakaten.
Im Künstlerquartier San Telmo spielt die Musik. Eine junge Band unterhält die Leute, die auf dem Platz ihren Espresso oder ihre Cola schlürfen oder ein kleines Mittagessen einnehmen. Eigentlich hatte ich Tango erwartet, aber sie spielen rockigen Jazz und versprühen eine spritzige Stimmung. Daneben wartet eine fein gekleidete Dame auf ihren Einsatz. Und richtig, kaum machen die Jungen eine Pause, ertönt aus grossen Lautsprechern auf der anderen Seite des Platzes Tango. Die Frau ist eine Tänzerin und gehört zu einer Gruppe von zwei Tanzpaaren. Lasziv umgarnen sich die beiden Tänzer, lassen sich von der Musik treiben und spielen alle Emotionen durch. Spannung und Erotik gepaart mit Leidenschaft.
Tango in San Telmo
Und dann gibt es doch noch eine politische Demonstration. Die Sozialisten haben eine kleine Bühne aufgebaut, ungefähr 20 - 30 rote und schwarze Fahnen werden geschwenkt und irgendwann ertönt die Internationale. Daraufhin tritt eine Rednerin auf. Sie erklärt, dass heute kein Tag zum Feiern sei, sondern dass sehr viele Menschen noch immer nicht bekommen, was sie für das Leben brauchen würden. Dass die Bauern für ihre Produkte nicht genug bekämen und dass viele für einen zu kleinen Lohn arbeiten müssten. Der nachfolgende Redner lädt die Leute ein, sich ihnen anzuschliessen, und zur Plaza del Mayo zu marschieren, so wie aus allen Barrios (Quartieren) der Stadt die Leute zum Platz kommen würden. Es sind vielleicht 50 Leute, die am Schluss dieser Aufforderung Folge leisten, der Rest bleibt gemütlich sitzen, oder schlendert über den kleinen Markt, der sich auf dem Platz einwickelt hat.
Zu den erneuten Klängen der Internationale formieren sich die Teilnehmer zu einem Zug. Mir fällt auf, dass keiner beim Text mitsingt.
Es ist wieder Ruhe eingekehrt auf dem Platz. Junge Musikanten spielen mit Flöte und Tamburin eine traditionelle Melodie und ein junges Paar tanzt engumschlungen dazu. Auf der anderen Seite des Platzes haben auch die Tangotänzer ihren Tanz wieder aufgenommen.
Ich greife zu meiner Videokamera und - finde sie nicht mehr. Habe ich sie nicht in die Tasche zurückgesteckt? Unter der Jacke, auf dem Stuhl? Umgehängt? Ist sie heruntergefallen? Sie ist unauffindbar und wird es auch bleiben.
Schnell kontrolliere ich, ob der Rest da ist. Fotokamera, Notizbuch, Jacke, Portemonnaie. Alles da. Wie konnte mir das passieren? Niemand war in meiner Nähe. Ich bin geschockt und erkenne, dass es das erste mal ist, dass mir etwas geklaut wurde. Kann es kaum fassen. Und jetzt? Versicherung? In der Schweiz ist jetzt Feierabend. Meine Aufnahmen? Ich hatte soviel Musik aufgenommen.
Und dann schleicht sich eine eigenartige Erleichterung ein: ich muss sie nicht mehr mitschleppen. Hab etwas weniger auf das ich aufpassen muss. Ich habe sie erst im allerletzten Moment eingepackt. Und jetzt werde ich keinen Video schneiden müssen, den am Schluss niemand sehen will.
Ich will das Gefühl noch nicht wirklich zulassen, die Wut überwiegt noch. Mir ist jedenfalls die Lust vergangen auf Musik und Tango. Gehe zurück zur Casa Rosada. Ich bin frustriert. Und da läutet das Telefon. Eigenartig. Wer kennt schon meine Nummer? Es ist meine Schwester Elsbeth. Sie hat den allerbesten Moment ausgewählt für ihren ersten Anruf. 30 Minuten später und informiert über alle Neuigkeiten, geht es mir wieder besser. Ich werde der Kamera noch etwas nachtrauern und morgen die Versicherung anrufen. Kameras werden schliesslich täglich produziert. Und ich werde etwas mehr CD's kaufen und noch mehr fotografieren. Kann ja die Musik abspielen, wenn ich die Fotos betrachte.
Auf der Avenida de Mayo hat sich unterdessen eine Demonstration formiert. Sie tragen die Banner aus allen Quartieren. Und aus den Lautsprechern ertönt Musik und Trommelschlag. Aber eigentlich ist alles sehr friedlich. Es sind viele junge Leute, ganze Familien mit Kindern auf dem Rücken oder im Arm. Die Polizei ist unterdessen im Einsatz, sie regelt den Verkehr auf den Querstrassen. Ich gehe dem Zug entgegen und fotografiere. Verbanne den Gedanken an die guten Aufnahmen, die ich schon jetzt verpasse. Vor dem Parlamentsgebäude ist eine weitere Kundgebung im Gange. Es gibt feurige Reden die mit lauten Knallern und Rauchpetarden beantwortet werden. Oder wie heissen diese leuchtenden Dinger eigentlich? Ist jedenfalls ganz ähnlich wie ein Eishockeymatch in Langnau. Während ich mich im Hotel für den Abend umziehe, wird die Demonstration mit lautem Geknall beendet und schon bald rauscht wieder der Verkehr. Und ich bin in Gedanken beim kommenden Abend. Tango ist angesagt.
Vor dem Congreso
Tango
Kann man Tango erklären? Man muss ihn hören, sehen, fühlen. Ich hatte mich für eine der verschiedenen Tangoshows angemeldet. Mit Nachtessen. Also hiess das wieder herausputzen, gleiches Prozedere wie gestern. Allerdings mit dem ganzen Programm inklusive Make up und Smoked Eyes. Ich würde den ganzen Abend an einem mir zugewiesenen Platz sitzen. Ob allein oder mit anderen Leuten, auch für mich ist so eine Situation eine Herausforderung die hinter einer Maske einfacher zu bestehen ist.
Der Abholdienst war auf 19.30 Uhr vorgesehen und ich sass in der Lobby. Wer allerdings alle zwei Minuten an der Türe Ausschau hielt, war der Hotelbesitzer. Muss ihn ziemlich beeindruckt haben mit meinem Aufzug. "Wird wohl mehr Verkehr haben, heute Abend, wegen den Manifestationen," meinte er entschuldigend. Und dann kam der Bus doch noch gegen 20.00 Uhr und brachte mich zum Viejo Almacen. Dem alten Magazin. Nachtessen am Einzeltisch. Ausser mir lauter Paare, gemischte Dreiergruppen und neben mir eine ganze Gruppe Deutscher. Ich beobachtete die anderen Tische. Das Paar neben mir war ziemlich cool. Die Frau brachte kaum ein Lächeln zustande. War ja auch nicht wirklich attraktiv, mit ihrer Zahnspange. Ich entschuldige mich bei allen Zahnspangenträgern, aber ehrlich, bei einer 25-jährigen Blondine wirkt es einfach etwas eigenartig. Irgendwann wagte ich einen Blick auf ihren Begleiter - und erstarrte innerlich. Auch er trug eine Zahnspange. Wer hat nun wohl wen...? Meine Fantasie ging mit mir durch und was ich mir da so vorstellte, war eher komisch denn angenehm.
Dafür war es an meinem Tisch unterhaltsam. Ich genoss die volle Aufmerksamkeit von Hugo, meinem Kellner. Er stellte mir eine ganze Flasche Rotwein auf den Tisch, weil pro Tisch eine Flasche vorgesehen war und bei dem zweiten Glas erkundigte er sich höflich, ob ich vielleicht noch fahren müsste. Das Essen war fein und den Kaffee offerierte mir Hugo. Ausserdem versprach er mir, mich zur Tür zu begleiten, damit ich während der Show einen guten Platz hätte. Das fand ich sehr sympathisch, bis ich merkte, dass er das mit allen Gästen machte, um zu verhindern, dass der Preis für die Show nochmals kassiert wurde. Mir wurde also im Showlokal ein Platz zugewiesen von dem ich mitten im Gesicht eine Säule hatte, bevor mein Blick auf die Bühne traf. Da sonst noch niemand an meinem Tisch sass, wechselte ich schnell den Stuhl und hatte nun wirklich eine phantastische Sicht auf die Bühne. Dasss sich dann ein Typ Kojek mit Frau und zwei Kindern vor mich setzte konnte die Aussicht nicht mehr schmälern, denn es waren die Kinder, die direkt vor mir sassen.
Zwei junge brasilianische Paare, kamen später an meinen Tisch und sie bemerkten das Hindernis ebenfalls sofort. Dass sie sich aber gegenseitig anlehnen konnten, entschädigte wohl ein wenig die eingeschränkte Sicht auf die Bühne.
Und dann fing sie an. Die Show. Tango in allen Varianten. Diese feurige Zurückhaltung, blitzenden Augen, diese Leidenschaft, Eroberung und selbstbewusste Hingabe. Diese wirbelnden Beine, die nie auf dem Boden zu sein schienen und doch jeden Schritt perfekt ausführten.
Hochgeschlitzte Röcke und tiefe Dekolletees, aber kein Zentimeter zu viel Haut. Beine in schwarzen Netz- nein keine Strümpfe, meine Herren, wir sind nicht in Paris. Netzstrumpfhosen waren es. Alles eindeutig und doch verhalten dekadent. Es war eine knisternde erotische Stimmung, die nichts, aber auch gar nichts mit Liebe zu tun hat. Auf Kinder schien sie keine Wirkung zu haben, jedenfalls schliefen die beiden vor mir schon bald tief und fest und es war eine Frage der Zeit, wann sie von ihrem Stuhl fallen würden. Darum sah sich Kojek irgendwann veranlasst, mit Frau und schlafenden Kindern das Lokal zu verlassen. Jetzt war meine Sicht komplett frei. Auf die vier Musikanten aus den Anden, die soeben die Bühne betreten hatten. Mit Trommel, Gitarre, Minigitarre und Panflöte zog eine wehmütige und sentimentale Stimmung ein. El condor pasa. Man könnte heulen. Und was der Musiker später seiner Flöte entlockte! Ob das meine Blockflöte im Schrank wohl auch könnte? Werde sie gelegentlich wieder hervorholen.
Und dann wechselten die vier die Stimmung und spielten lockere lustige Melodien aus den Anden und ich freute mich richtig darauf, dass ich auf meiner Reise auch in diese Gegenden kommen und bestimmt noch mehr von dieser Musik hören würde.
Sentimentale Lieder von einem Mann und eine starke alte Sängerin folgten bevor noch einmal die vier Tanzpaare den feurigen Abschluss lieferten. Alles in allem ein wunderschöner Abend, voller Gefühl und Leidenschaft, der nach dem anhaltenden Schlussapplaus jäh durch das Aufleuchten der Deckenbeleuchtung gestoppt wurde. Die verschiedenen Cars, Busse und Taxis warteten vor dem Lokal und die Touristen wurden in die Hotels verfrachtet.
Es sei kalt geworden auf die Nacht, er hätte darum die Heizung etwas eingeschalten, sagt Massimo, der wieder einmal an der Rezeption sitzt. Und dann erschlägt mich die Hitze im Zimmer fast. Was zum Teufel hat der Typ eigentlich in meinem Zimmer zu suchen? Und wo bitteschön ist der Schalter? Ich suche alle Wände ab. Schalte versehentlich den Deckenventilator ein, aber die Heizung heizt unbeirrt weiter.
Zurück zur Rezeption. "Ich brauche keine Heizung, ich komme aus der Schweiz, wo bitte stellt man das verd... Ding ab?" "Oh, das mache ich von hier aus, und ja, das hätte ich mir eigentlich denken können, dass man in der Schweiz tiefere Temperaturen gewohnt ist." Und dann macht er mir noch ein Kompliment zu meinem Parfüm. "Hermoso su perfum, muy lindo". Kann man da noch böse sein?
Nach dem einschneidenden Erlebnis mit der Videokamera hatte ich auch keine Lust mehr, Fotos zu machen. Darum gibt es heute, obwohl fotografieren erlaubt gewesen wären, keine visuellen Eindrücke.
Aufbruch: | 12.04.2008 |
Dauer: | 4 Monate |
Heimkehr: | 03.08.2008 |
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Guatemala