TimeOut in Südamerika
Woche 15 19. - 25. Juli 2008: Yahoa-Indianer
Was für ein Erwachen. Mitten im Dschungel. Näher kann man nicht im Dschungel schlafen. Mein Haus hat zwar einfache Wände aus Bambus, aber anstelle der grossen Fenster gibt es feine Mückengitter. Alles ist offen. Ein leiser Wind weht die Vorhänge weg. Draussen wird es langsam hell. Der Dschungel erwacht.
Wir treffen uns beim Wasser, noch einmal fahren wir mit dem Kanu über den Weiher. Eigentlich sieht es aus wie ein kleiner Bach aber es ist ruhiges Wasser. Darauf schwimmt ein grüner Teppich. Kleine Pflanzen. Die Blätter sind mit Luft gefüllt. Wie kleine Luftmatrazen schwimmen sie. Jede Pflanze hat ihre kleinen Wurzeln, die im Wasser Nahrung suchen. Rundum Wasserpflanzen. Langsam steigen kleine Nebel aus dem Wasser. Steigen hinauf und werden von der aufgehenden Sonne weggepustet. Im Palmenhain raschelt es.
Es sind Hühnervögel, die hier geschlafen haben. Jetzt lassen sie ihr heiseres Schsch ertönen. Schanschoa heissen sie. Und jetzt flattern sie über uns hinweg, treffen sich auf den Baumwipfeln auf der anderen Seite. Und dort sitzt ein kleiner Vogel mit schwarzen Flügeln und einer leuchtend gelben Brust. Victori dia heisst er. Siegestag. Leise gleitet unser Kanu über das Wasser. Man wird ganz still, wenn man so durch den Morgen fährt. Heute sind sogar Freddy und José Miguel ruhig. Immer wieder zeigt Oracio auf einen Vogel, erklärt, wie er heisst.
Zum Frühstück sind wir zurück. Es gibt Rührei mit Schinken und Käse. Dazu Kaffee oder Tee und Papayasaft. Um neun geht es zur nächsten Expedition. Wir fassen hohe Stiefel und sind damit gerüstet für einen Spaziergang im Dschungel.
Auf gehts, zum Dschungel-Spaziergang
Diesmal kommt noch eine Holländerin mit, und Miguel, ihr Guia. Ein schmaler Weg führt durch den dichten Wald. Diese Fülle von Pflanzen, man spürt das Leben, das Vergehen. Riesige Blätter hängen über uns. Unsere Guias machen uns auf alles aufmerksam. Da schleppen Ameisen das fünffache ihres Körpergewichtes durch den Wald. Sie bringen Nahrung in den Bau. Dort klettert eine kleine weisse Spinne dem Baumstamm entlang.
Und dort oben liegt ein Perecioso. Ein Faultier. Oracio hat es gesehen. Ich weiss nicht, wie er das macht. Eine kleine Bewegung in den Blättern, ein Hauch nur, und er erkennt sofort, was es ist, während wir lange brauchen, bis wir zuoberst zwischen den Blättern überhaupt etwas erkennen können. "Es ist ein Macho, ein Männchen," erklärt er. "Es hängt da oben auf dem obersten Ast und frisst". Ja und jetzt dreht es den Kopf und auch ich kann das eigenartige Gesicht sehen.
Der Boden ist feucht. Immer wieder gibt es nasse Stellen. Gut, dass wir die Stiefel tragen, manchmal überqueren wir ganze Schlammfelder. Es wird heiss. Tüppig. Schmetterlinge fliegen vor uns her. Da oben in den Bäumen blühen Bromelien und Orchideen und rundum schwirren Geräusche. Das Hämmern eines Spechtes kommt von ganz nah. Und da sitzt er. Der Specht mit seinem leuchtend roten Kopfschmuck. I
Irgendwann lichten sich die Bäume über uns. Man kann den Himmel wieder erkennen. Wir sind in einer Bananenplantage. Dicht stehen die Bäume und bald gehen wir unter einem dichten Bananendach. Auch eine Maniokpflanzung sehen wir. Unter den mageren Bäumen wachsen die kartoffelartigen Knollen. Gestern gab es Maniok zum Mittagessen.
Maniok-Pflanzung
Plötzlich hören wir Stimmen. Mit Rufen machen unsere Guias auf uns aufmerksam und zurück kommen eigenartige Antworten. Es ist nicht Spanisch, in der sich die Rufer verständigen. Plötzlich rennt ein nackter kleiner Junge vor uns her. Er führt uns zu einem grossen Rundhaus mit schattigen Bänken. Und da sitzt ein junges Mädchen, hängt Halsketten auf eine Stange.
Immer mehr braune Menschen kommen aus dem Urwald. Sie haben ihre Arbeit in der Plantage verlassen, kommen, um uns zu begrüssen. Zuerst erhalten wir alle eine Art Bemalung vom Chef persönlich. Er begrüsst jedes einzelne mit Handschlag und auch die Frauen kommen und begrüssen uns freundlich. Touristen sind eine willkommene Unterbrechung bei der Feldarbeit. Sie zeigen uns ihre Instrumente. Flöten und Trommeln aus Bambus und Holz. Und dann laden sie uns ins grosse Rundhaus ein. Nehmen uns mit in ihren Tanz, ziehen uns mit in ihren Reigen zu urigen Tönen.
Begrüssung durch den Häuptling
Die Frauen tragen einen roten Wickejupe und Bastoberteile während die Männer dichte Baströcke tragen. Sie spielen eigenartige nie gehörte Melodien und singen dazu. Später gehen wir hinaus auf den Platz und es wird eine Holzpuppe aufgestellt. Mit einem langen Blasrohr zeigt uns der Anführer, wie treffsicher er damit umgehen kann. Und jetzt sind wir an der Reihe. Sollen die leichten Pfeile auf den Kopf schiessen. Meine Pfeile gehen scharf daneben, aber Freddy trifft auf Anhieb. Vor lauter Freude kauft er darauf zwei schön dekorierte Blasrohre und für seinen Sohn einen verzierten Pfeilbogen.
Pocahontas
Selbstverständlich ist dies das Ziel der ganzen Vorführung. Für ein paar Soles verkaufen die Indianer ihre selbst gemachten Schmuckstücke. Es sind einfache Dinge, aus natürlichen Materialen. Samen und Steinen. Sie sprechen kein Spanisch, unterhalten sich in einer eigenen Sprache. Ich versuche, mit Lucy in ein Gespräch zu kommen. Sie scheint noch sehr jung zu sein, hat aber bereits zwei Kinder. Sie versteht etwas spanisch, aber leider spricht sie kein Wort. Sitzt nur da und lächelt.
Später erklärt uns Oracio, dass wir ein Trigo besucht hätten. So nennt man diese kleinen Gemeinschaften. Sie leben sehr autonom, profitieren aber vom Tourismus, der durch die Lodge in die Gegend gekommen ist.
Es sind Yahoa-Indianer, die versuchen, ihre eigene Lebensart beizubehalten. Sie führen ein sehr freies Leben, Heirat ist nicht bekannt. Man lebt zusammen, solange man Lust hat, trennt sich und es gibt sehr früh schon Kinder. Es scheint, dass der Häuptling mit verschiedenen Frauen lebt. "Es ist hier eben alles sehr fruchtbar", erklärt Oracio das Leben der jungen Mädchen.
Oracio ist selber in einer kleinen Dorfgeheimschaft aufgewachsen. Ungefähr zwei Tagesreisen entfernt von hier. Als er 10 Jahre alt war, kamen zwei Fremde mit einem Guia ins Dorf. Sie wollten ein paar Tage bleiben und Oracio hörte zum ersten Mal spanisch. Und er war fasziniert. Sie schenkten ihm einen Dictionario Spanisch - Englisch und weckten sein Interesse für Sprachen.
Mit 12 kam er in die Stadt nach Iquitos. Allein und ganz ohne Geld. Er wollte unbedingt in die Schule, wollte lernen. Bei einer Frau bekam er eine Unterkunft. Er half ihr im Haushalt und durfte dafür bei ihr wohnen. Für seinen Unterhalt fing er an zu arbeiten. Er verkaufte Früchte, Gemüse oder Eiscreme in den Strassen. Später fuhr er mit einem Mototaxi. Am Vormittag arbeitete er, am Nachmittag war Schule und nachts lernte er.
Unterdessen spricht Oracio perfekt Spanisch und Englisch. Er arbeitete ein ganzes Jahr als Volontario ohne Lohn in der Lodge. Nur für ein wenig Trinkgeld. Er machte die Zimmer, putzte, fuhr mit den Booten, half in der Küche, lernte überall worauf es ankam und seit einem Jahr arbeitet er als Guia. Das heisst, er wird tageweise engagiert, wenn Touristen da sind. Wenn es in der Lodge keine Arbeit gibt, mietet er ein Mototaxi und verdient sich so ein paar Soles dazu. Es gibt 50'000 dieser einfachen Vehikel in der Stadt. Immer wieder treffe ich auf solche Lebensläufe und mich fasziniert die Kraft, die darin steckt. Wenn er kann, unterstützt er seine Familie mit Grundnahrungsmittel. Er ist der erste, der es geschafft hat, aus dem Dschungel heraus zu kommen.
Inzwischen geht auch sein kleiner Bruder in die Schule. Im Dorf aber gibt es wie in vielen dieser kleinen Gemeinschaften keine Schule und keine Ausbildungsmöglichkeiten für die Kinder.
Inzwischen haben wir den Trigo verlassen und kommen ans Flussufer. Und wie gerufen, liegt hier das Boot, das uns innert wenigen Minuten zurück zur Lodge bringt.
Am Nachmittag verlassen uns Freddy und sein Sohn. Schade, war schön, mit den beiden unterwegs zu sein. So besteht also unsere Gruppe nur noch aus mir. Am Nachmittag nach einem kurzen Nickerchen machen wir uns noch einmal auf zu einem Spaziergang in den Wald.
Diesmal nimmt Oracio die Machete mit, denn wir gehen ins Dickicht. Oracio führt mich zu einem riesigen Baum. Es ist eine Ceiba. Ich kenne sie von Guatemala. Diese gewaltigen Wurzeln, die das Wasser aus bis zu einem Kilometer Entfernung herholen. Und hoch oben breiten sich die dicken Äste wie ein grosses Dach über den Dschungel. Dass die Bäume auch als Kommunikatinsmittel dienen können zeigt mir Oracio, indem er mit der Machete auf die Wurzeln schlägt.
Weit hallt der Klang davon über den Dschungel. Dass er mir aber auch so exotische Bäume, wie den Arbol de Amor zeigt und auch sonst auf verschiedene Elixiere aufmerksam macht, die aus den Blättern gewonnen werden können, liegt wohl an der Schwüle des Nachmittags. Wir kommen zum alten Baum, der über dem Weiher seine Äste und Wurzeln ausstreckt und sprechen über verschiedene Lebensweisen. Liebe und Freundschaft. Und haben uns für Freundschaft entschieden. Wird bestimmt besser halten über alle Alters- und sonstigen Grenzen hinweg.
1000 Mückenstiche und eine der schönsten Liebeserklärungen später tauchen wir aus dem Dickicht wieder aus. Ja, die Mosquitos. Bisher hatte ich keinen einzigen Stich abbekommen, aber hier im dichten Dschungel gab es auch für mich kein Ausweichen mehr. Meine Arme sind übersät von Stichen und als Oracio das sieht, verspricht er Abhilfe.
Später kommt er mit einer frisch aufgeschnittenen prallen Zitrone in mein Zimmer. Er drückt den Saft auf meinen Armen und meinem Rücken aus und verteilt ihn sanft. "Fünf Minuten einwirken lassen, danach duschen und nicht kratzen." Scheint zu wirken, jedenfalls beissen die Stiche weniger und ich kann es irgendwie lassen, zuviel zu kratzen. Allerdings waren die Biester wirklich sehr agressiv. Da half kein TShirt und keine langen Ärmel. Ich sehe aus, als ob ich die Masern hätte. Die Behandlung mit der Zitrone werde ich morgen noch einmal wiederholen.
Am Abend gehe ich ans Ufer des Amazonas, beobachte die untergehende Sonne und lasse die Träume schweifen.
Aufbruch: | 12.04.2008 |
Dauer: | 4 Monate |
Heimkehr: | 03.08.2008 |
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