TimeOut in Südamerika

Reisezeit: April - August 2008  |  von Beatrice Feldbauer

Woche 10 14.- 20. Juni 1008: Stadt

Nach all den ruhigen Hafenorten und fast unberührter Natur habe ich mich auf die Stadt gefreut. "In zehn Minuten kommen wir in Santiago an", verkündete der Adjudante am Morgen im Bus, als er das Frühstück verteilte. Na dann. Zehn Minuten, um sich im Bett aufzurichten, die sieben Sachen zusammenzupacken und um zu frühstücken. Selbstverständlich hat es geklappt. Er hat geholfen, das Bett zu einem Sitz zusammenzuklappen, die Wolldecke und die Schaumstoffauflage wieder zusammen zu packen. So wie er mir gestern Abend geholfen hatte, das Ganze zu installieren. Es war das bequemste Busbett, das ich bisher hatte und ich habe es sogar geschafft, ein paar Stunden zu schlafen. Und die Strasse war auch etwas Neues: Eine richtige Autobahn mit Zahlstellen, an denen es während der Nacht gelegentlich einen kurzen Stopp gab. Chile ist definitiv ein anderes Land.

Draussen herrschte dichter Nebel, als wir knapp vor neun Uhr am grossen Busterminal in Santiago ankamen. "Ist das normal hier?" wollte ich vom Taxifahrer wissen. "Eigentlich nicht", meinte er, "aber du wirst sehen, um elf scheint die Sonne". Ja, er hatte Recht, bereits während der Fahrt schien sie durch den Nebel zu drücken. Endlich wieder eine Stadt mit schönen grossen Gebäuden, mit imposanten Fassaden, Erkern, Balkonen. Mit mehrspurigen Strassen und breiten Grünstreifen in der Mitte, auf denen die verschiedensten Bäume wachsen. Eine Stadt mit riesigen Hochhäusern, verglasten Bürogebäuden. Eine richtige Hauptstadt eben. Mit 6 Millionen Einwohnern.

Das Patiosuizo liegt in einem stillen Quartier, nicht weit weg von der Hauptverkehrsstrasse und dem Fluss. Hier habe ich ein Zimmer reserviert und ich werde von Armin begrüsst. Schweizerdeutsch. Auch die beiden, die noch am Frühstückstisch sitzen, sind Schweizer. Andrea und Larry sind auf einem Round-the-World-Trip. Sehr ungewöhnlich für mich, nach all den Wochen ausschliesslich spanischer Konversation, wieder einmal schweizerdeutsch zu sprechen. Und wie war das doch noch mit dem Spruch, dass man immer bekommt, was man braucht. Andrea und Larry haben mir einen Supertipp, wie meine Reise weiter gehen könnte. Eigentlich wusste ich im Moment nicht, welches Ziel ich als nächstes ansteuern könnte, da kamen die beiden gerade zum richtigen Zeitpunkt. Werde noch ein wenig weiter recherchieren.

Der Hügel heisst Cerro San Cristobal

Der Hügel heisst Cerro San Cristobal

Doch jetzt will ich erst mal diese Stadt erkunden. Armin gibt mir einen Stadtplan und ich ziehe los. Zum Aussichtspunkt Cerro San Cristobal. Es gibt eine Drahtseilbahn die hinauf fährt. Aber die nächste fährt erst in einer guten Stunde. Solange will ich aber nicht warten und so entschliesse ich mich für den Fussweg. Puh, das bringt mich ganz schön ins Schwitzen. Dann inzwischen scheint die Sonne von einem wolkenlosen Himmel. Nur die Stadt sehe ich immer weniger, je höher hinauf ich komme. Ich kann es kaum glauben, aber die imposante Skyline verschwindet immer mehr im Nebel.

auf halber Höhe

auf halber Höhe

Wie ich endlich schnaufend und prustend oben ankomme, fährt auch die Bahn ein. Das war mein Ziel, mindestens mit der Bahn anzukommen. Sehr knapp geschafft. Herz und Lunge wollen zwar fast zerspringen. Zum Glück hatte es auf dem ganzen Weg immer wieder Bänklein, auf denen ich mich ausruhen und die Vegetation studieren konnte. Sie erinnert mich stark an Spanien. Oleander und Eukalyptus, Palmen, Laubbäume, die noch ein paar braune Blätter festhalten. Ausserdem riesige Aloe veras, Kakteen, wilde Fuchsien und Geranien. Und die Mimosen haben ihre feinen Kügelchen schon bereit gemacht, um im Frühling die ersten zu sein, die mit ihren gelben Blüten die Landschaft prägen.

Um korrekt zu sein, für jeden einigermassigen berggängigen Schweizer wäre dieser Aufstieg ein Kinderspiel gewesen, es sind gerade mal gut 200 Meter Höhenunterschied, aber ich hatte schon immer extrem Mühe, wenn es bergauf geht. Jedenfalls bin ich jetzt oben und muss nur noch die paar Stufen bis hinauf zur Virgin schaffen, die da oben über die Stadt hinaus schaut.

der Blick von ganz oben gen Westen

der Blick von ganz oben gen Westen

Ich glaube, auch ihr gefällt nicht so sehr, was sie da sieht. Nur die Gebäude direkt am Fuss des Hügels sind noch sichtbar, alles, was dahinter liegt, verschwindet im Smog und ganz hinten ragen die schneebedeckten Anden in den blauen Himmel. Dahinter liegt Mendoza. Da war ich vor ziemlich genau fünf Wochen. Aber auch im Westen wird Santiago von Hügeln eingerahmt. Ob das hier immer so ist, will ich von einem alten Mann wissen, der mit seinem Rössli auf Kundschaft wartet. Auf Kinder, sie sich darauf fotografieren lassen. "Nein" sagt er etwas wehmütig. "Nein, nein, wenn es Wind hätte, wäre dieser Nebel weg. Auch Regen würde den Nebel wegputzen. Dann ist Santiago wunderschön, dann hat man hier eine tolle Aussicht bis zu den Anden und zu den Hügeln rundum".

Ja, das glaube ich ihm gerne, bin aber nicht sehr überzeugt, dass das oft der Fall ist. Von unten herauf hört man den Verkehr, einzelne Autos die hupen und manchmal ein paar Hunde bellen. An der Sonne ist es jetzt richtig warm und ich kann sogar meine Jacke ausziehen. Und ich habe seit Wochen das erste mal wieder Lust auf ein Eis. Wunderbar, in der Sonne sitzen, ein Eis geniessen und die Gedanken wandern lassen.

Als es irgendwann doch etwas kühler wird, gehe ich zur Luftseilbahn und entdecke - einen Biergarten. Mit der Bahn fahre ich zurück in die Stadt. Eigentlich wäre es eine fantastische Sicht. Vorn die neue Skyline der Stadt und hinten die höchsten Berge der Anden. Santiago boomt. Überall entstehen ganz neue Quartiere. Hohe Bürogebäude, verglaste Wolkenkratzer, überall wird gebaut, stehen Baukranen. Und der Dunst hüllt alles ein. Wie mit einem Weichzeichner, vor allem jetzt, wo die Sonne langsam untergeht und einen letzten rosa Schimmer über die Stadt schickt. Ich wandere dem Fluss entlang zurück Richtung Zentrum. Komme durch den Skulpturenpark, wo die verschiedensten Werke aufgestellt sind. Im nächsten Parkabschnitt gibt es schöne Gartenanlagen in denen noch die letzten Rosen blühen.

An einem Lichtsignal unterhält ein Gaukler die wartenden Autofahrer mit jonglieren und an einer anderen Strassenecke verkauft einer Rosen. Rosen mit Blüten, so gross wie ich sie noch nie gesehen habe. Genau das liebe ich in einer Stadt. Dieses Leben, ungewöhnliche Menschen, Parks mit Wasserspielen, Wasserläufe, Flüsse. Im Fluss hat eine Seemöwe eine tote Maus gefunden Sie reisst ein wenig an ihr herum. Und was macht sie jetzt mit ihr? Sie wäscht sie. Ich kann es kaum glauben, aber sie hat sie ins Wasser geschleppt, lässt sie da an einer ruhigen Stelle einen Moment liegen, zupft ein paar Mal daran herum und holt sie wieder heraus. Über den weiteren Verlauf dieser Mahlzeit kann ich nichts mehr sagen, denn ich schlendere weiter.

Cafe Literatur. Genau das ist es, was ich jetzt brauche, um meine Notizen zu schreiben. Leider schliessen sie gerade. Es reicht nur noch, das WC aufzusuchen, was auch nicht zu verachten ist. Also weiter. Ich sehe einen kleinen Hund, der über die Strasse gekommen ist und jetzt wieder zurück will. Geschickt beobachtet er den Verkehr und passt den günstigen Moment ab, um über die vierspurige Hauptverkehrsader zurück auf die andere Strassenseite zu gelangen. Da habe ich es viel schwieriger, ich muss immer warten, bis die Autos vor der roten Ampel stehen bleiben und diese Phasen scheinen in Santiago ziemlich selten zu sein.

Zum Nachtessen kehre ich in einem Restaurant in der Nähe meiner Unterkunft ein. Beer Hall steht draussen zwar angeschrieben, aber im vorderen Teil ist es ein sehr nettes Speiserestaurant. Der Kellner heisst Mario und er freut sich, eine Schweizerin als Gast zu haben. Zwar hat er zuerst Schweden verstanden und macht mich darauf aufmerksam, dass morgen Schweden gegen Russland spielt. Ja, über die Schweizer Fussballer verlieren wir beide dann keine Worte mehr.

Er muss mir sowieso zuerst mal das Tischtuch auswechseln. Von dieser Aktion profitieren auch die nächsten beiden Gäste, denn auch ihr Tischtuch schien nicht mehr den besten Eindruck zu machen. Und während ich mein Nachtessen geniesse, wechselt Mario gleich alle Tischtücher, die sich in meiner Sichtweite befinden. Wie heisst es doch so schön, man muss halt reden miteinander.

Beim Kaffee fange ich an, meine Notizen zu erfassen und Mario will wissen, was ich da schreibe. "Ich schreibe auf, was ich den ganzen Tag erlebe", sage ich und lasse ihn lesen. "Verstehe kein Wort", meint er, "warum hast du nichts von mir geschrieben?" "Aber das habe ich doch, schau mal hier: el camarero se llama Mario" übersetze ich und jetzt strahlt er.

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Die Reise
 
Worum geht's?:
Nicht Nichtstun steht im Mittelpunkt. Sondern etwas tun, wofür im normalen Alltag zu wenig Zeit bleibt. Meine beiden Leidenschaften Reisen und Schreiben möchte ich miteinander verbinden. Und wenn mich dabei jemand begleitet, umso schöner. Es sind vor allem Geschichten, die ich erzähle und erst in zweiter Linie Beschreibungen von Orten und Gebäuden. Ich möchte versuchen, Stimmungen herüberzubringen. Feelings, sentimientos. Wenn mir das manchmal gelingt, ist mein Ziel erreicht.
Details:
Aufbruch: 12.04.2008
Dauer: 4 Monate
Heimkehr: 03.08.2008
Reiseziele: Uruguay
Brasilien
Paraguay
Argentinien
Chile
Bolivien
Peru
Guatemala
Der Autor
 
Beatrice Feldbauer berichtet seit 20 Jahren auf umdiewelt.
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