Mekong

Ich wollte sie sehen, ich habe extra noch einmal eine Bootsfahrt unternommen, um sie zu sehen. Und jetzt bin ich da und bin geschockt. Gleichzeitig traurig.

So habe ich mir das nicht vorgestellt. Da sitzen sie, die drei Longneckfrauen mit ihren zierlichen Köpfen, die über den dicken schweren Ringen zu schweben scheinen. Ich wage kaum, sie anzusehen, ja ich weiss gar nicht, ob ich sie überhaupt fotografieren soll. Das kommt mir wie ausgestellte Tiere vor.

Lächeln sie? Haben sie Qualen?

Die Frau, die mich am Schiffsteg abgeholt hat, versichert mir, dass die Frauen das so wollen, dass das ihrer Kultur entspricht. Und dass sie einer anderen Volksgruppe angehören, eine andere Sprache sprechen.

Ich bin nicht einmal sicher, ob sie sich mit den Menschen im Dorf unterhalten können oder ob diese Leute ein isoliertes Leben innerhalb der Dorfgemeinschaft leben. Nur noch fünfzehn Familien würden heute noch so leben, den Mädchen wird der Schmuck nicht mehr aufgebürdet. Ich bin so geschockt, dass ich vergesse, all die Fragen zu stellen, die ich mir hinterher stelle.

Dürften sie die Ringe ablegen? Müssen sie hier im Vorraum des Verkaufsladens arbeiten? Stört es sie, wenn sie fotografiert werden?

Auf dem Tisch daneben liegen die Ringe. Sie sind aus massivem schwerem Messing. Die Ringe seien ihnen von ihren Müttern um den Hals gelegt worden. Schon als kleine Mädchen. Man musste das Metall warm machen, um es zu biegen. Mir nimmt es den Atem, wenn ich daran denke, was für Torturen das waren, als die Ringe nach und nach immer mehr wurden. Das Gewicht immer grösser.

Wie kann man damit leben, essen, schlafen?

Die Ringe werden nie mehr abgelegt. Sie können gar nicht abgelegt werden. Sie haben den Hals verlängert und den ganzen Oberkörper in der Entwicklung gestört.

Und als ob das noch nicht reichen würde, tragen sie auch an den Beinen Ringe. Über und unter dem Knie. Ringe, die die Zirkulation unterbinden. Ringe die mehrere Kilos wiegen.

Ich habe sie trotzdem fotografiert, ich würde sonst kaum glauben, was ich hier gesehen habe.

Ich kaufe einen der schönen Schals, den sie weben. Obwohl er eigentlich zu teuer ist, kann er fast nicht genug kosten. Um diese Qualen und das Ausgestelltsein abzugelten, gibt es keinen Preis. Ob sie davon etwas profitieren?

Sie stellen diese dünnen zweifarbigen Schals her, deren Rückseite gegengleich die Farben wechselt. Im Moment weben sie an einem Stück für die Umhängetaschen, die hier vor allem die Männer benutzen, um ihre Utensilien darin zu verstauen.

Sie sitzen am Boden mit ihrem Hüftwebstuhl, die Beine gestreckt, mit geraden Rücken. Genauso wie ich es kaum zehn Minuten aushalte. Sie sitzen stundenlang so. Den Hals drehen sie nicht.

Was für ein Leben. Wie weit ist mein Leben vom Leben einer dieser Frauen entfernt. Und trotzdem leben wir zur gleichen Zeit auf dem gleichen Planeten und treffen hier aufeinander. Zwei Welten, zwei Universums.

Ich bin nicht sicher, ob die Frau, die den Laden führt, mit ihnen kommunizieren kann. Sie betont immer wieder, sie hätten eine ganz andere Sprache.

Draussen werde ich von zwei anderen Frauen in Booten bedrängt. Sie wollen mir unbedingt Silberschmuck verkaufen. Aber ich habe doch schon alles, was ich brauche. Ich will keine weiteren Ausgaben mehr.

Der Hut könnte mir gefallen, nur, den kann ich nicht in den Koffer packen. Aber ausprobieren kann ich ihn. Er ist ganz anders gemacht als alle Hüte, die ich bisher gesehen habe. Stabil aus Bambus mit sehr schönen Applikationen aus dünnen Bambustreifen.

Und jetzt? Fragt mich der Schiffsführer.

Ich weiss es nicht, ich bin im Moment ziemlich durcheinander.

Hatte mich so sehr gefreut, dass die Fahrt über den ganzen See ohne Regen verlaufen ist. Und jetzt haben mich diese beiden alten Frauen völlig durcheinander gebracht. Die dritte ist etwas jünger, ihre Messing-Spirale ist noch nicht so hoch geschichtet, der Kopf sieht noch in der normalen Proportion aus.

Ich hatte schon vor ein paar Tagen in einem Shop eine dieser Padaung-Frauen gesehen, aber auch hier war sie jünger und mir schienen die Ringe zwar exotisch, aber nicht so qualvoll.

Lunch?

Ja, genau, Lunch. Das ist das richtige Stichwort.

Wir legen bei einem Restaurant an, das hier mitten im See auf Stelzen steht.

Rundum blühen Wasserhyazinthen. Ich setze mich in eines der kleinen Häuschen, die um jeden Tisch gebaut sind, und bestelle ein Bier und einen Teller gebratenen Reis. Bis das Essen kommt mache ich mich auf Fotosafari. In Töpfen blühen ein paar Orchideen und Christusdorn in verschiedenen Farben.

Im letzten Häuschen treffe ich unverhofft auf einen Mann, der allein an einem Tisch sitzt.

Hello, how are you.

Er hat schon gemerkt, dass englisch nicht meine Sprache ist, und möchte wissen, woher ich komme, wie lange ich in Myanmar bin, was ich noch vorhabe. Ich erzähle, dass ich im Moment am Überlegen bin, die Zugsfahrt in den Norden von Mandalay zu machen.

It’s fantastic, meint er, er käme soeben von dort und würde mir das unbedingt empfehlen. Er erklärt mir genau, wie ich das machen soll, was ich mir ansehen soll und zeigt mir auf seinem Handy unzählige Fotos von englischen Landhäusern und Kirchen.

Ja, meint er dann, das interessiert dich vielleicht nicht alles, du bist an Blumen interessiert, es gibt da auch einen sehr schönen botanischen Garten.

Ich habe längst mein Bier und das Essen an seinen Tisch geholt und er erzählt, dass er sich für englische Architektur aus der Kolonialzeit interessiert, dass er am liebsten allein reist, weil dann alles einfacher ist. Vor allem wenn etwas nicht so funktioniert, wie man es sich vorgestellt hat.

Wenn man zu zweit ist, befasst man sich mit Erklärungen und Entschuldigungen, fühlt sich schuldig, weil man etwas nicht bedacht, das falsche vorgeschlagen hat. Wenn man allein ist, übergeht man die Panne und wendet sich dem nächsten spannenden Ereignis zu.

Ausserdem ist man viel offener gegenüber jeder Begegnung. Er ist seit gestern in einem Resort hier auf dem See und findet diese beiden Tage hier draussen in der Ruhe absolut regenerierend. Man wird an einem solchen Ort viel gelassener und toleranter.

Gestern waren im Bungalow neben mir vier Chinesen, die noch endlos am Abend nach dem Eindunkeln geschwatzt haben. Wäre das Hotel in der Stadt, hätte ich ein anderes Zimmer verlangt, hier hat es mich nicht einmal gestört.

Es ist unglaublich, worüber wir uns in unseren durchorganisierten Leben aufregen, hier ist das alles gar nicht so wichtig. Auch wenn mal ein Schiffsmotor so exorbitant laut ist, er fährt vorüber und ist wieder fort.

Er heisst Ian und kommt aus Australien. Er gibt mir noch ein paar weitere Tipps, bevor er sich verabschiedet und mit seinem langen Boot weiter fährt.

Du siehst aus, wie ein König, rufe ich ihm vom Restaurant aus zu.

Ich fühle mich genau so, schau mal, ich hab sogar Armlehnen im Boot. Und weg ist er.

Mir hat diese Begegnung sehr viel gebracht. Seit Tagen wäge ich ab, ob ich diese Fahrt machen soll, wer könnte mir raten, lohnt es sich, was soll ich tun? Und jetzt kommt die Entscheidung ohne dass ich sie hier gesucht hatte, einfach so auf dem Silbertablett.

Mein Motto für die Reise bewährt sich also bis zum Schluss: alles auf mich zukommen lassen und darauf vertrauen, dass das richtige im richtigen Moment eintreffen wird.

Auf dem Rückweg begegnen wir ein paar Fischerboote. Die Fischer rudern tatsächlich mit einem Bein und haben dafür beide Hände frei für das Einholen des Netzes.

Leider ist mein Zoom seit ein paar Tagen defekt. Ich weiss nicht wie das gekommen ist, und es bringt mich fast zur Verzweiflung. Immer wenn ich das Objektiv ausfahre und abdrücke, erscheint die Meldung: Error, Verbindung zu Objektiv unterbrochen – Kontakte reinigen.

Ich habe versucht, die Kontakte zu reinigen, soweit das möglich ist, aber es nutzt nichts. Ich kann mit dem normalen Objektiv fotografieren und mit dem grossen im normalen Modus, aber sobald ich das Zoom auch nur ein bisschen ausfahre, geht es nicht mehr. Das heisst, ich kann die Fischer nicht her zoomen und von weitem bleibt die Wirkung leider nicht die gleiche.

Zum Glück fahren wir bei ein paar Booten ganz nahe vorbei und mein Schiffsführer hat viel Geduld, drosselt den Motor bis ich das Zeichen fürs Weiterfahren gebe.

Aber die weissen Fischreiher, die am Ufer stehen und die Kormorane, die über den See fliegen, bekomme ich nicht ins Bild. Jetzt wo es endlich wieder Vögel gibt, kann ich sie nicht fotografieren. Ich werde auch keine Schmetterlings- und Blumenfotos mehr machen können, wie ich das vorher konnte.

Dafür habe ich heute keinen einzigen Tropfen Regen abbekommen und dabei ist der Plastik-Poncho wieder in meiner Handtasche.

Am Abend gehe ich ins Puppentheater. Ich kann mir zwar kaum vorstellen, dass es jeden Abend zwei Vorstellungen gibt. Dafür hat es doch einfach zu wenig Touristen in der Stadt.

Es ist ein winziges Theater, der Puppenspieler serviert gerade Tee, als ich komme. Eine junge Vietnamesin ist bereits da und drei Reservationen stehen noch aus.

Am Schluss sind wir acht Zuschauer, die der Puppenspieler zur heutigen ersten Vorführung des Abends begrüssen darf. Vor der Vorstellung hat er uns erklärt, dass die Puppen alle handgemacht seien. Sein Urgrossvater hat das Theater gegründet und nach seinem Grossvater und Vater ist er jetzt in der 4. Generation Puppet-Master.

Sein Sohn ist noch nicht sicher, ob er in die Fussstapfen treten will, denn heute ändert sich alles, aber er hilft mit. Jedenfalls kommt er kurz vor der Vorstellung und ist für den Vorhang zuständig.

Es sind einzelne Puppen, die auftreten und Szenen aus dem Leben spielen. Die Tänzerin, der Affe, das widerspenstige Pferd des Marktfahrers, der Dämon und ganz genial, der Ballspieler. Es ist der traditionelle Ball, der aus Bambusstäben geflochten ist, mit der die Puppe jongliert. Es ist fantastisch, wie sich der Kopf bewegt, die Hände und auch die Füsse.

Nach einer halben Stunde ist die Vorstellung vorbei, der Vorhang fällt.

Ein sehr schöner poetisch verspielter Abschluss dieses eigenartigen Tages.

Ich habe zum Thema der Padaung-Frauen noch ein wenig gegoogelt und einen informativen Artikel gefunden.

Demnach werden die Ringe in der Jugend immer wieder abgenommen und durch neue ersetzt. Es sind ja offensichtlich Spiralen, wie ich selber feststellen konnte. Ich hatte nur keine Erklärung, wie diese immer wieder ergänzt werden könnten.

Jetzt weiss ich es, sie werden abgenommen und durch eine neue Spirale ersetzt. Der Schmuck könnte also sehr wohl weggenommen werden, wenn es die Trägerin nicht mehr möchte.

Aber Tradition lässt eigenen Willen in solchen Gemeinschaften möglicherweise gar nicht zu. Und mit dem Tourismus kommt eine weitere verhängnisvolle Verbindung dazu.

Wir wollen die Exotik sehen und wir werden enttäuscht sein, wenn es sie eines Tages nicht mehr gibt. Ebenfalls werden diese Völker sich später fragen, wo ihre Traditionen geblieben sind. Tourismus hilft, diese zu behalten. Was richtig und gut für alle ist, diese Frage kann wohl niemand beantworten.

Persönlich habe ich in dieser Beziehung ein paar Erfahrungen mit den Boras und den Yahuas im Regenwald des Amazonas gemacht - doch das gehört nicht direkt hierher.

Hier der Wikipedia-Link

https://de.wikipedia.org/wiki/Padaung