Reise durch Indien
Seiden-Produktion
Der Balkon ganz oben im Hotel sei der ideale Ort, um den Sonnenaufgang über dem Ganges zu beobachten, hatte mir Salim schon bei der Ankunft erklärt und er würde mich gern am frühen Morgen wecken. Heute habe ich den Wecker auf sechs Uhr gestellt, kämpfe ich mich aus dem Bett, in wenigen Minuten soll die Sonne aufgehen.
Leider verhindert der Dunst einen spektakulären Auftritt der Sonne. Es geht ziemlich lange, bis sich der Feuerball durchgesetzt hat und hoch über dem Horizont erkennbar wird. Es ist wohl einfach nicht der Zeitpunkt für die grossen Aufgänge. Ich verziehe mich zurück ins Bett. Bin definitiv kein Morgenmensch.
Dass Varanasi das Zentrum der Seidenproduktion ist, hat man mir schon in den ersten Tagen erzählt. Und dass ich gerne sehen möchte, wie die Seide gewoben wird, habe ich ebenfalls schon überall angemerkt. Darum bringt mich einer der Angestellten des Hotel heute in einen Seidenshop. Das Silk-Paradies ist ein Grosshändler, der ungefähr 150 Mitarbeiter hat. Geführt wird es von der Familie Kumar. Onkel und seine beiden Neffen Major und Anil.
Ich muss schmunzeln, als wir auf dem Weg zum Seidenhändler an dem Grafitti vorbeikommen, bei dem ich vorgestern Abend nicht mehr weiter kam. Hier also ist die Seidenproduktion.
Die Angestellten arbeiten in den Häusern im Quartier. Anil führt mich herum. Fast in jedem Haus verstecken sich kleine Werkstätten
Als erstes kommen wir in eine Färberei. Ein gelbes Farbbad ist in einem Eimer bereit und der Arbeiter senkt ein Stück Stoff immer wieder hinein. Nicht den ganzen Stoff, nur ein Teil, denn ein Sari besteht sehr oft aus zwei verschiedenen Farben. Die erste Farbe muss erst ganz trocken sein, bis die andere Seite in eine andere Farbe getaucht werden kann. Das Farbbad wird immer wieder ergänzt. Mit einem Becher Farbe und etwas Wasser. Umgerührt und wieder benutzt. Es kann also sein, dass sich der eine vom anderen Stoff minim im Farbton unterscheidet, denn natürlich ist alles Augenmass und Erfahrung. Die Saris hängen nach dem Färben an einer Stange. Ein Sari ist 6,5 Meter lang. Es ist wichtig, dass er für das Farbbad richtig gefaltet ist, damit er die Farbe durch alle Lagen genau gleich annimmt.
Das Muster in den Stoffen wurde eingewebt. Es ist ein Jacquard-Muster und wirkt auf dem uni-gemusterten Stoff durch seine verschiedenen Fadenverbindungen.
In der nächsten Werkstatt werden fertige Stoffe zusammengenäht. Mit einer Overlook-Maschine werden die Stoffe zu zweit durch die Maschine gezogen. Das geht so schnell, dass ich kaum nachkomme, wie sie das machen. Die Tücher sind bereits sortiert, es kommen nacheinander immer zwei in gleichen Farbtönen. Es sind immer einzelne Stoffbahnen, die für ein Kleid berechnet sind. Keine Meterware, die Stücke sind vielleicht 3 Meter lang.
Überall lagern Stapel mit fertigen Produkten. Darum gehen wir jetzt erst einmal in den Showroom zurück. Anil will mir die fertigen Produkte zeigen.
Der ganze Stolz sind die grossen Bettüberwürfe und das Prunkstück besteht aus reiner Seide, ist gut 2 x 2 Meter gross und glänzt in Rot mit Goldfäden. Selbstverständlich handgewebt. Dieses Muster wirst du nur bei uns finden, erklärt mir der Onkel. Es ist ein traditionelles Muster, das schon mein Grossvater gemacht hat.
Doch auch die anderen Bettüberwürfe sind fanastisch. Nicht alle sind so glänzend, nicht alle haben eingewebte Goldfäden. Man erklärt mir, dass man von Kaschmir und Rajasthan die Roprodukte bezieht, diese werden hier in Varanasi und Umgebung verarbeitet, versponnen und in der Stadt verwoben. Viele Stufen durchlaufen die Stoffe, bis sie so vor mir ausgebreitet werden können. All die kleinen Werkstätten sind auf einen Teilbereich spezialisiert. Am Schluss kommt alles hier im Showraum zusammen.
Auch die Pashminas. Die grossen Tücher kannst du über dein Bett legen, du kannst darauf picknicken, dich darin einhüllen. Es wärmt im Winter und gleicht aus im Sommer. An so einem Stück wirst du das ganze Leben lang Freude haben. Auch beim Wandern kannst du es mitnehmen und wenn es in den Bergen kalt wird, hüllst du dich darin ein. Anil macht es mir vor und ich muss lachen. Kein Mensch würde in der Schweiz mit einem Wolltuch eingehüllt in den Bergen wandern. Unsere Wanderaurüstung schaut ganz anders aus mit wattierten Jacken, moderner Outdoor-Kleidung. Aber die Tücher sind sowieso wunderschön und im Verhältnis zu ihrer Grösse und dem Material nicht einmal so teuer.
Als nächstes werden mir die Schals gezeigt und ich lerne neue Qualitäten kennen. Baby-Pashmina. Das sind die Haare, die den neugeborenen Ziegen ausgekämmt werden, sobald es möglich ist. Pashmina wird vorwiegend von den Barthaaren der Ziegen aus Kaschmir gewonnen. Bart und Bauch liefern die feinste Wolle. Es kann auch noch Yak dazu kommen. Junge Yak-Wolle.
Andere Schals, die mit den wunderschönen Farben und Mustern sind aus einem Seiden und Paschmina-Gemsch. Auch die sind wunderschön, seidig glänzend, leicht und weich. Der Berg mit den gezeigten Stücken wird immer höher.
Willst du die Webstühle sehen, fragt mich Manoj, der ältere der beiden Brüder. Selbstverständlich will ich das. Doch dafür müssen wir mit der Vespa fahren, du kannst hinten drauf sitzen. Das braucht nun tatsächlich etwas Mut, vor allem weil ich seitwärts sitzen soll. Und mich an ihm festhalten.
Natürlich fährt man hier in den schmalen Gassen nie schnell, wir sind wenig schneller als zu Fuss unterwegs, aber es ist trotzdem Gewöhnungssache, um die Ecken zu fahren ohne anzuhalten, ja gar ohne wirklich nach rechts und links zu sehen und direkt vor einem Fahrrad oder einem Fussgänger einzuschwenken. Fahrrad wie Fussgänger haben es genau wie wir überlebt und rechtzeitig gebremst. Nicht angehalten, nur etwas langsamer gefahren oder einen Schritt verzögert. Zum Glück ist es nicht weit, bis wir zu einem Haus kommen, wo wir schon von aussen die Maschinen arbeiten hören. Es sind die grossen Webstühle, die Meterware produzieren. Halbsynthetik. Viele Frauen tragen Saris aus diesen Stoffen, erklärt mir Manoj. Denn auch für Inder ist die Handarbeit teuer zu kaufen.
Reine Seide, so erfahre ich, ist so fein, dass sie nicht mit der Maschine verwoben werden kann. Auf den Maschinen werden Mischgewebe mit Seide und Synthetik verarbeitet und Baumwolle.
Die Stoffe sind wunderschön. Und die Farben erst. Es ist fast nicht zu verstehen, dass aus diesen dunklen Werkstätten hinter geschlossenen Fensterläden solche Schmuckstücke entstehen. Mit denen die Frauen dann wie Sommervögel durch die grauen Gassen wandeln.
Starke Farben. Rot, violett, grün, rosa, golden leuchtet es auf den Webstühlen. Zwei bis vier Webstühle sind in einem kleinen Raum untergebracht. Der Lärm ist ohrenbetäubend. Wie lange wird gearbeitet? Acht Stunden. Bezahlt werden die Leute pro Tag nicht pro Stunde oder Stück. Denn zuviele Arbeitsprozesse sind nötig, bis ein fertiges Stück Tuch im Showraum gezeigt werden kann. Kinder? Nein, Kinder arbeiten hier nicht. Das ist schon vom Staat her verboten. Eigentlich wüsste ich auch gar nicht, wie man hier Kinder anstellen könnte, ich begegne auch in den Quartieren nicht so vielen Kindern.
Als nächstes kommen wir zu einem Seidenwebstuhl. Hier wird alles von Hand gemacht. Vor allem das feine Muster in Pastelltönen mit all den kleinen Fadenspulen, die einzeln verwoben werden müssen Es dauert immer einen Moment, bis die Kett-Fäden per Fusspedal wieder gewechselt werden können.
Das fertige Stück ist mit einem Tuch abgedeckt, so dass ich nur knapp zwei Zentimeter des definitiven Musters sehen kann. Bei einer so zeitaufwändigen Arbeit muss der Stoff vor Schweiss und Schmutz geschützt werden. Reine Seide. Hier geht der Fortschritt nur Millimeterweise und ein ganzer Schal dauert bis zu zwei Wochen bis er fertig ist. Oft arbeitet man hier zu zweit an einem Stück. Das braucht eine gute Zusammenarbeit.
In den nächsten Räumen kommen wir zu den Stickern. Viele Stoffe werden von Anfang an so konfektioniert, dass sie zu einem Kleid verarbeitet werden können. Dann werden die Ausschnittpartie und die Ärmel mit Pailletten und kleinen Perlen verziert. Oder mit aufwändigen Stickereien. Wenn man so ein Stück kauft, lässt man sich daraus ein Kleid nach Mass schneidern. Schneider gibt es genug und jeder Seidenladen arbeitet mit seinen eigenen Handwerkern.
Die Muster für die Bordüren werden von einem Designer entwickelt und auf die Stoffe übertragen. Danach kommen die Handsticker zum Zuge. Sie arbeiten schnell und präzise. Wie sie es genau machen, habe ich nicht wirklich gesehen. Mit der Nadel und dem Faden arbeiten sie von oben, haben aber immer eine Hand unten, wo sie die Stiche irgendwie festmachen. Jedenfalls entstehen hier wunderschöne Stoffe. Meist individuell und ganz oft auch auf persönliche Bestellungen. Auch Hochzeitskleider werden so bestickt.
Manoj bringt mich zurück in den Laden, wo Anil und der junge Helfer inzwischen wieder aufgeräumt haben. Wir trinken noch einen Chai zusammen und reden über verschiedenes. Dabei kommen wir auch auf die Pandemie zu sprechen. Ich weiss, dass niemand gern von dieser Zeit spricht, doch sie hat überall Spuren hinterlassen. Es war sehr schwierig für die Leute. Eine Zeitlang haben wir für die Menschen gekocht und Essen ausgegeben. Ihr selber? ich bin erstaunt. Ja, wir mussten für unsere Leute im Quartier schauen. Die Menschen hatten kein Einkommen, keine Arbeit mehr, wie hätten sie da überleben können?
Ich merke, dass wir gar nicht auf die Krankheit selber kommen, aber auf die allgemeine Armut, die noch schlimmer wird, wenn der Handel eingestellt wird, wenn all die kleinen Arbeiten und Geldbeschaffungsmöglichkeiten wegfallen. Weil keine Touristen mehr kommen, weil niemand mehr etwas kaufen kann.
Manoj erzählt, dass sie sogar eine Auszeichnung bekommen hätten für die Hilfe, die sie im Quartier aufgebaut hätten. Willst du sie sehen? Selbstverständlich will ich sie sehen Er holt sie, hat sie in einem Hinterzimmer aufbewahrt. Es ist ein Zertifikat des Rotary-Club Varanesi.
Es ist nicht das erste Mal, dass ich von privater Hilfe höre. Schon in einem meiner ersten Gespräche über die Pandemie, noch in Kerala, hat mir der Ladenbesitzer des Kaschmir-Shops erzählt, dass er und seine Familie viel Geld gespendet hatten, um ihren Freunden aus Kaschmir, die in Kerala leben, das Überleben zu sichern. Er erzählte, dass man zuerst aus der Kasse ihres Vereins Reis gekauft hatte, später musste auch Privatgeld gespendet werden. Viel Geld. Bis der Staat einen Extrazug organisierte, mit dem alle Kaschmiris von Kerala nach Kaschmir fuhren Mehrere Tage hatte die Fahrt gedauert. Aber zu Hause in Kaschmir war das Legen günstiger und das Überleben gesicherter.
Ich habe später mit dem Bose noch über diese Zeit gesprochen. Auch er hat mir versichert, dass viele reiche Inder sehr viel Geld gespendet hatten um den Armen das Überleben zu sichern. Ohne diese Hilfe, wäre die Pandemie für das Land zu einer viel grösseren Katastrophe geworden. Dann wären Millionen von Menschen verhungert. Man muss sich vergegenwärtigen, dass Indien 1,4 Milliarden Einwohner hat. Ein riesiges Land, ein Subkontinent.
Ich bedanke mich für die vielen Informationen und für den Chai, verspreche, gelegentlich wieder zu kommen und schlendere zurück zum Hotel, plaudere kurz mit Bose, dem Besitzer des Hotels. Er hat lange in London gelebt, sein Englisch ist richtig gut und wir verstehen uns auch sonst sehr gut. Was das eigentlich ist, neben seinem Hotel, will ich von ihm wissen. Immer wieder sind da Berge von Tüchern gestapelt und am nächsten Tag ist alles wieder weg. Eine Wäscherei vielleicht. Nein, eine Zeltvermietung. Was? ich staune, eine Zeltvermietung. Ja, für Hochzeiten werden immer grosse Zelte und Dekorationen gebraucht. Das kann man hier mieten.
Es schaut zwar gar nicht danach aus, aber ich habe schon öfters Hochzeits- Dekorationen vor Häusern oder in Hotels gesehen. Vielleicht werden die Tücher ja noch gewaschen und neu sortiert, bevor sie wieder in den Einsatz kommen
Nach einer kurzen Pause mache ich mich auf zu einem Spaziergang. Irgendwohin ohne Ziel einfach wo es mich hinzieht. In der Silk-Boutique von Sadhov wird noch gearbeitet. Er ist nirgends zu sehen,
Ob er die Farbschlieren an den Kacheln auch wegputzen wird, habe ich ihn gestern gefragt Ja hat er gesagt, aber inzwischen zweifle ich daran.
Auf meinem weiteren Weg komme ich zufällig bei der Spielzeugfabrikation vorbei. Die junge Besitzerin erkennt mich und grüsst mich freundlich, aber sie ist gerade dabei, ein paar junge Frauen anzulernen, hat keine Zeit zum Plaudern. Also setze ich mich in die Werkstatt, sehe den Frauen beim Malen zu und versuche eine Konversation. Doch leider geht es nicht über ein Lächeln hinaus. Die Fotos würde ich ihnen gern schicken, doch das Austauschen der Nummer ist nicht möglich, obwohl wahrscheinlich jede ein Handy hat.
Der Umgang mit Handys ist weit verbreitet, sogar die Babas, die heiligen Männer in ihren orangen Tüchern sehe ich oft mit einem Handy am Ohr oder beim Tippen und Lesen. Das gehört also bereits zum asketischen Leben.
Irgendwo begegne ich einem Mann, der Zeitung liest. Auch das sehe ich oft und mir wird bewusst, dass die Menschen, die mir sagen, dass sie nicht lesen und schreiben können, möglicherweise nur die englische Schrift meinen. Ihre erste Schrift ist Hindi und die ist so völlig anders als unsere Schriftzeichen. So bin ich eigentlich eher erstaunt, wieviele Menschen tatsächlich nicht nur reden, sondern auch schreiben können.
Meine Facebook-Posts können in Hindi oder Englisch übersetzt werden, so dass mir da inzwischen viele indische Freunde folgen. Manchmal bekomme ich auch Kommentare oder Ergänzungen zu meinen Beobachtungen. Und ein paar haben es sogar geschafft, meinem Blog in Englisch zu folgen. So wie Juan in Lima das gemacht hat. Er hatte meinen Blog in spanisch gelesen, als ob ich ihn so geschrieben hätte. Was für tolle neue Erungenschaften
Ich komme zum Fluss und laufe am Ufer entlang. Entlang den Ghats, was immer interessant ist. Immer gibt es hier gute Bilder, Menschen aus ganz Indien, ganz selten Ausländer. Allerdings muss ich gestehen, dass ich kein Auge für Ausländer habe. Ich suche sie nicht und ich begegne ihnen auch gar nicht. Darum habe ich immer das Gefühl, es wären gar keine West-Touris hier. Und manchmal bin ich ganz erstaunt, wenn ich an bestimmten Orten wie in der alten Pizzeria am Ghat dann doch auf den einen oder anderen treffe.
Ich komme viel eher ins Gespräch mit Einheimischen, als mit anderen westlichen Touristen.
Eine Weile setze ich mich auf eine Treppe, sehe dem Treiben rund um mich zu. Sehe den Booten zu, die leicht auf dem Wasser dümpeln. Die Bootsführer suchen Passagiere, aber es ist nicht das Wetter für einen Ausflug auf dem Ganges. Nebel liegt über dem Fluss, die Sonne will sich nicht blicken lassen.
Plötzlich merke ich, dass ich wieder in der Nähe des Burning Ghats bin. Zwar nicht beim grossen, wo ich mit Dipa war, sondern beim kleineren, das in der Nähe meines Hotels liegt
Burning Ghat
Bevor ich zum eigentlichen Burning Ghat komme, komme ich zum Krematorium. Hier werden die Leute kremiert, die die Kosten auf dem öffentlichen Platz nicht bezahlen können. Hier kostet eine Verbrennung nur 500 Rupies und dauert ca. 40 Minuten. Das hat mir schon Dipa erzählt, als wir auf dem Fluss hier vorbei gefahren sind.
Doch neben dem grossen Ofen gibt es den öffentlichen Verbrennungsplatz, das Burning Ghat.
Es ist eine ganz besondere Stimmung, wenn man sich dem Platz nähert. Es riecht nach Feuer, nach Rauch und irgendwie nach etwas unbestimmten, das man lieber gar nicht so genau analysieren möchte.
Gerade wird eine Bahre hinunter zum Wasser getragen. Eingehüllt in orange Tücher ist darin ein toter Mensch. Ja vielleicht sollte man keine Fotos machen, doch wie soll ich davon erzählen können, wenn ich es nicht abbilden darf.
Den Mann, der mich anspricht und mir ein paar Sachen erklären will, scheint es nicht zu stören, wenn ich fotografiere. Nein, sagt er, von mir aus kannst du Fotos machen. Die Menschen sind tot, sie wird es nicht mehr betreffen.
Ausserdem ist er kein offizieller Guide, ist als Unbeteiligter hier. Er will auch kein Geld für seine Erklärungen, aber er möchte mich abschleppen, mich zu seinem Sari-Laden bringen. Doch ich habe jetzt keine Lust auf Seide und Saris, ich möchte mich jetzt tatsächlich mit den Kremationen befassen. Als er das endlich einsieht, drückt er mir seine Visitenkarte in die Hand. Prem heisst er.
Du findest mich hier ganz in der Nähe. Komm vorbei, ich habe ganz speziell schöne Stücke aus Seide. Ich stecke die Karte ein, verspreche, ihn gelegentlich zu suchen und gehe auf die andere Seite des Platzes.
Langsam gehe ich auf den oberen Stufen an den eisernen Gestellen vorbei. Im Moment sind sie leer, doch bereits ist man dabei, auf dem einen neues Holz aufzustapeln. Es sind grosse Eisengestelle, in denen eine Bahre gelegt werden kann. Zuerst muss allerdings das Holz gestapelt werden.
Es sind vor allem Männer auf dem Platz, Frauen, respektive Angehörige werden hier nicht gern gesehen, das hat mir schon der Guide auf dem grossen Verbrennungsplatz erklärt.
Doch ich kann unbehelligt weiter gehen, werde nicht beachtet, bin eine Touristin, gehöre nicht dazu. Auf der anderen Seite gibt es zwei Sitzbänke. Auf einer sitzt ein junger Mann. Er hat seine Kopfhörer eingesteckt, ein Notizbuch in der Hand. Ob er hier lernt? Notizen macht? Vielleicht ist er genauso neugierig wie ich.
Ich setze mich auf die andere Bank, beobachte. Die Bahre, die vorhin hinunter zum Wasser gebracht wurde, wird jetzt zu einem der Eisengestelle gebracht. Dort werden die orangen Tücher entfernt, zurück bleibt ein in weisse Tücher gewickelter Leichnam. Ein paar Blumen werden darauf gestreut, die Angehörigen laufen noch einmal im Kreis um den Toten, dann wird er auf den inzwischen aufgeschichteten Holzstapel gehievt. Eine kleine Flamme, bald darauf brennt der Haufen lichterloh.
Jetzt kommt ein junger Mann zu mir. Er sei ein Mitglied der Familie, die für die Organisation der Verbrennungen zuständig sei, erklärt er mir. Schon in der 7. Generation leben sie hier an diesem Ort.
Nein, betont er, er wolle kein Geld, er möchte mir nur erklären, wie eine Kremation durchgeführt wird. Und nein, Fotos sind keine erlaubt. Da bin ich froh, dass ich vorher fotografiert habe, jetzt kann ich mich auf seine Erklärungen konzentrieren.
Burning is learning - cremation is education. Den Spruch habe ich auf dem grossen Platz bereits gehört, er scheint das Credo von Varanasi zu sein.
Eine Kremation dauert in der Regel 3 Stunden. Brandbeschleuniger wie Petrol wird dazu nicht gebraucht, nur Holz und vielleicht etwas gut riechendes Öl und Sandelholz-Pulver.
Danach bleibt von dem Holzhaufen und dem Menschen nicht mehr als Asche. Und ein verkohlter Hüftknochen. Das ist das, was jetzt von jemandem mit einer grossen Eisenzange aus den Überbleibseln eines Eisengestelles gezogen wird. Ein schwarzes verkohltes Stück, das ins Wasser geworfen wird.
Die Asche wird danach aufgefangen und von den Arbeitern des Platzes gesiebt. Manchmal finden sich darin noch Wertsachen. Gold von Schmuck oder aus den Zähnen. Die Sachen behält die Familie, verkauft das Gold auf dem Markt und hilft damit, armen Familien, damit sie sich das Geld für die Kremierung leisten können.
Ich bin nicht verpflichtet, alles zu glauben, was er mir erzählt, denn gleich nachher erzählt er von den Preisen. Diese sind verschieden. In der Mitte, auf dem runden Rondell ist der höchste Preis. Das ist der Ort für reiche Leute, das kostet gut 10'000 Rupies. Bei den anderen Plätzen variert es ab 4000 Rupies. Man kann in den Eisengestellen oder einfach so auf dem Boden kremiert werden. Der Preis ist für das Holz, das von der Familie des Brandplatzes verkauft wird. Wer gar kein Geld hat, lässt sich für 500 Rupies im Krematorium verbrennen.
Sterben in Varanasi und verbrannt werden ist der Wunsch vieler Inder. Damit wird die ewige Kette von Tod und Wiedergeburt unterbrochen. Wer hier verbrannt und dessen Asche in den heiligen Fluss gestreut wird, kommt direkt ins Nirvana.
Darum ist dies ein heiliger Ort, die heilige Stadt. Die Leichen werden täglich hergebracht. Die Feuer am Ganges gehen nie aus. Einige kommen mit Anmeldung, andere werden spontan gebracht. Auf diesem Platz gibt es 15 bis 20 Verbrennungen am Tag, auf dem grossen Burning Ghat sind es 150 - 200 pro Tag. Tag und Nacht. Viele kommen von weit her aus der Umgebung. Man bringt die Toten so schnell als möglich. Sie werden gewaschen und in Tücher gewickelt. Männer in weisse, Frauen in rote Tücher. Darüber kommen orange Tücher Und Blumen, ganz viele Blumenkränze.
Auf Bahren aus Bambus werden sie hergebracht. Mit dem Auto und manchmal werden sie auch durch die Stadt getragen. Angekommen am Ghat wird die Leiche erst hinunter zum Fluss gebracht. Dort hebt man die Tücher über dem Gesicht, die Angehörigen träufeln noch einmal heiliges Wasser in den Mund. Jeder macht das fünfmal. Danach beten sie und umkreisen den Leichnam. Inzwischen wird der Scheiterhaufen aufgebaut. Danach kommt die Leiche zum Brandplatz, die orangen Tücher werden entfernt und die Leiche, nur noch eingewickelt mit einem einfachen Leichentuch, auf den Haufen gelegt. Einer der Söhne, meistens der älteste wird vom Priester im nahen Tempel rasiert. Alles, betont mein Guide. Kopfhaare, Bart, Körperhaare, auch unter den Armen. Er wird in weisse Gewänder gekleidet und erhält die Flamme aus dem ewigen Feuer im Tempel. Mit einem Reisigbündel bringt er das Feuer zum Scheiterhaufen und entzündet ihn.
Frauen sind dabei keine erwünscht, ja mein Guide erklärt sogar, dass diese per Gesetz seit ein paar Jahren ausgeschlossen sind. Man wüsste nie, wie diese reagieren, ob sie selber ihrem Ehemann ins Feuer folgen wollten.
Danach würden die Angehörigen in der Nähe bleiben, meist genau an dem Ort, wo wir jetzt stehen. Denn eigentlich wäre dieser Platz nicht für fremde Zuschauer, diese sollten auf der anderen Seite des Platzes bleiben. Das wäre dann da, wo ich vorher gestanden bin.
Nicht verbrennt werden übrigens schwangere Frauen, Kinder unter 10 Jahren, Menschen mit eingeschränkter Mobilität, Mönche und Menschen, die von einer Cobra gebissen wurden. Die Erklärung kann ich nicht ganz nachvollziehen, aber es scheint, dass diese Menschen bereits heilig sind. Sie werden in weisse Tücher gewickelt, mit einem schweren Stein belastet und in der Mitte des Flusses versenkt.
Ich möchte mir dieses Szenario nicht vorstellen, dann doch lieber öffentlich verbrennen.
Inzwischen ist es dunkel geworden und auch meinem Guide ist es aufgegangen dass ich eigentlich gar nicht da stehen dürfte, wo wir schon seit einer Stunde plaudern. Ob ich das ewige Feuer sehen wolle, fragt er und führt mich die Stufen hinauf. Da oben lagert das Holz in riesigen Stapeln. Der Tempel ist ein kleiner offener Raum, in dem ein paar Männer um ein grosses Stück Holz sitzen, das im Inneren glimmt.
Ich weiss gar nicht genau, was ich hier soll, doch sie laden mich ein, mich zu ihnen zu setzen. Durch meinen Guide bin ich allerdings schon etwas eingeschüchtert, so dass ich mich nicht traue, die Männer anzusprechen. Ich versuche es mit Lächeln, obwohl vielleicht auch das an diesem Ort nicht angebracht bin, setze mich kurz auf eines der Kissen, das einer der Männer mir hingelegt hat, falte die Hände zum Dank. Doch ich merke es meinem Guide an, er möchte mich da wieder draussen haben und so verabschiede ich mich kurz darauf mit einem Nicken in die Runde. Es bleibt ein eigenartiges Gefühl. Ich weiss gar nicht, ob das jetzt eine spezielle Einladung war oder ob Touristen hier generell willkommen sind.
Wir sind jetzt oben am Ghat, hinter dem Tempel, da wo mein Guide mit der Familie lebt. Ich sei eingeladen, etwas zu spenden. Nein, nicht für ihn, er sei Volontär, mache das freiwillig und gratis. Aber um das Holz für Bedürftige zu finanzieren würden sie hier auf dem Ghat Führungen machen. Es bleibe mir überlassen, ob ich 5000 oder mehr bezahlen möchte. Für eine Gratisführung finde ich das doch etwas dreist und drücke ihm eine 500-Rupies-Note in die Hand, was ihn etwas hilflos macht.
Doch er fasst sich schnell, liefert noch ein paar Erklärungen zu dem Hochwasser nach, dann würden die Verbrennungen jeweils hier oben zwischen den Häusern stattfinden. Er erzählt noch etwas von Astrologie und Palmreading, womit er meine Aufmerksamkeit wieder gewonnen hat und er seine Enttäuschung vergessen.
Ja, er kenne einen Mann, der das könne, wenn ich interessiert sei, könne er mich dahin führen. Dauert nur 5 Minuten zu Fuss.
Es dauert dann doch etwas länger, denn wir gehen durch die schmale Hauptgasse wo all die vielen Läden stehen. Viel Silk-Showrooms, Souvenirläden, Gemüse- und Obststände, Verkaufsstände für Betelnuss. Ja die gibt es tatsächlich fast an jeder Ecke. Und auch die Männer, die diese Droge kaufen und kauen. Und sie überall ausspucken. Das ist so ekelerregend. Manchmal meine ich, dass sich jemand übergeben muss, dabei hat er nur kurz den roten Speichel ausgespuckt. Darum gibt es auch überall auf den Strassen und in den Gassen nasse Stellen, die dann als rote Flecken liegen bleiben. Und die Männer haben furchteinflössende rote Münder und oft keine Zähne mehr im Mund. Ein ganz schlimmes Kapitel, auch wenn mir manchmal versichert wird, es würde gut schmecken, nähme Hungergefühle und ich soll das doch unbedingt auch einmal probieren. Gehöre zu den Erlebnissen einer Indienreise. Doch ich bin der Meinung, dass ich nicht alles mitmachen muss, um in das Land einzutauchen.
Dass der Weg länger dauert als 5 Minuten hat vor allem damit zu tun, dass ich überall stehen bleibe auf der Suche nach Fotosujets. Nach schönen Türen, kleinen Geschäften, pitoresken Fassaden. Farbkleksen, Gesichtern. Mein Begleiter drängt weiter, ich bleibe stehen.
Irgendwann kommen wir aber doch zu dem schmalen Eingang wo der Seher lebt. Inzwischen hat mir mein Begleiter schon von seinen Fähigkeiten geschwärmt Schon Michael Jackson wäre bei ihm gewesen und auch andere Prominente hätten schon seine Hilfe in Anspruch genommen. (Michael Jackson sei nie in Varnasi gewesen, aber George Harrison habe zeitweise tatsächlich hier gelebt, wusste Bose später zu erzählen.)
Doch alle Werbung hat nichts genutzt, als wir ankommen, ist der Mann gar nicht da. Er wäre krank, würde heute nicht mehr kommen. Vielleicht komme er morgen, ich könne einen Termin vereinbaren. Doch das möchte ich nicht. Ich habe mir den Ort gemerkt, habe ein Foto von der Abzweigung gemacht und versuche nun, meinen Begleiter vom Ghat zu verabschieden.
Ich möchte ganz langsam zurück kehren, erkläre ich ihm. Möchte mich noch ein wenig umsehen. Er versteht das, bleibt aber dann doch bei mir kleben. Erst als ich in eines der Restaurants eintrete sieht er ein, dass bei mir nichts mehr zu holen ist. Wir verabschieden uns, vielleicht sehen wir uns ja wieder. Beim Ghat oder auf der Strasse. Begegnungen kann man nie voraussehen.
Ich bin im Monalisa Cafe gelandet, das gleich bei der German Bakery liegt. Hier kehren tatsächlich vor allem westliche Touristen ein. Ein Nest sozusagen. Auch ich werde wieder herkommen, denn der Cappuccino schmeckt hervorragend und der Schokolade-Bananen-Kuchen erst recht.
Für den Heimweg lasse ich mir richtig viel Zeit. Treffe ein paar heilige Männer, die mir bereitwillig in die Kamera lächeln, schäkere mit dem Früchteverkäufer und kaufe ein paar Bananen und Mandarinen. Es ist inzwischen spät geworden und dunkel, doch ich merke, dass ich mich hier richtig sicher fühle. Und dabei ist der Ort so exotisch, wie es gar nicht mehr sein könnte. Wie ein Film von vor 100 Jahren hat ein Facebook-Freund geschrieben. Und er hat Recht. Abgesehen vom Licht und den Handys, die nicht aus dem Strassenbild wegzudenken sind, könnten die Szenen uralt sein.
Die Gasse ist hier so schmal, dass nur noch Motorräder und Fahrräder durchfahren können. Tuctucs sind hier nicht erlaubt und könnten vor allem nicht ausweichen.
In der Nähe des Hotels treffe ich auf einen Erdnuss-Röster. Zusammen mit schwarzem Sand röstet er die Nüsse in einem grossen Wok. Bevor ich kaufe, bietet er mir ein paar zum Versuchen an. Dann füllt er sie mir in einen kleinen Sack aus Zeitungspapier und legt noch ein Briefchen mit etwas Salz dazu. Wünscht einen schönen Abend.
Beim Abfalldepot, wo die Abfallwagen tagsüber ihren Unrat deponieren begegne ich zwei Kühen. Sie suchen wohl noch etwas zum Nachtessen. Das ist tatsächlich eines der schwierigsten Themen, wie die heiligen Kühe hier gehalten werden. Auch wenn diese Tiere in Varanasi bedeutend besser aussehen, als ihre Kollegen in Mumbai.
Aufbruch: | 01.06.2022 |
Dauer: | 8 Monate |
Heimkehr: | 30.01.2023 |
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