Reise durch Indien
Ziellos
Ich habe meinen Aufenthalt um eine Woche verlängert. Merke, dass es mir zunehmend besser gefällt in dieser exotischen Stadt. In der nichts, aber auch gar nichts so ist wie ich es mich gewohnt bin. Langsam fühle ich mich hier zu Hause. Und bereits werde ich von den Menschen in der Umgebung des Hotels freundlich begrüsst. Natürlich gehöre ich nicht dazu, aber ich bin ein Teil dieses lebendigen Viertels. Eine ganz ähnliche Atmospäre habe ich schon in Agra erlebt.
Manchmal brauche ich etwas länger, kann nicht auf Anhieb sagen, ob mir eine Stadt gefällt, habe keine Meinung und lasse es einfach geschehen. Und dann kommt es, dieses Gefühl des nicht mehr ganz fremd sein.
Ich schlendere jetzt viel durch die Gassen auf der Suche nach Fotosujets. Manchmal suche ich gezielt nach Themen. Manchmal komme ich zufällig an ein Thema. Wie hier bei diesen Matratzennähern. Sie sitzen auf der Strasse und stechen mit ihren langen Nadeln durch die Matrazen. Achten darauf, dass die Füllung richtig verteilt ist und bringen dann ihre Knöpfe an. Ich bin für sie mindestens so exotisch, wie sie für mich, denn sie werden wohl nicht oft so intensiv beobachtet und fotografiert. Sie sind nicht jeden Tag auf der Strasse, manchmal ist keiner da, dann finde ich nur die Matratzen, die verkauft werden. Diese Produktion wird wohl nur nach Bedarf und Bestellungseingang durchgeführt.
Oder ich sehe mich nach Tieren um. Lebende Tiere, die hier in der Stadt wohnen. Das sind einerseits Kühe, die auch hier überall unterwegs sind Es gibt allerdings auch ein paar domestizierte Kühe. Der Mann, der mir auf der Strasse Yoghurt verkauft hat, hat mir seine Kuh vorgestellt. Sie steht hinter seinem Haus, angebunden an einem Pfosten. Er melkt sie täglich und macht aus der Milch Yoghurt, das er verkauft.
Eigentlich hatte ich ihn bei unserer ersten Begegnung fotografiert und ihm sein Bild gezeigt. Als ich zwei Tage später wieder bei ihm vorbei kam, meinte er, ich solle ihn wieder fotografieren. Und danach bot er mir eine Portion seines Yoghurts an. Und zu meiner eigenen Überraschung nahm ich an und es schmeckte sehr fein und frisch.
Doch nicht nur beim Yoghurt habe ich meine Hemmung überwunden. Bei den ausgebackenen Gemüsen liess ich mich ebenfalls verführen und versuchte frittierte Zwiebelringe und Kartoffeln. Die Chillis waren mir zu scharf, aber die Tomaten waren fein. Wie gesagt, langsam gewöhne ich mich an das Leben hier in der Stadt. Auch wenn ich natürlich nach wie vor lieber an einem Tisch sitze zum Essen. Und zum Beobachten. Darum gehe ich jetzt öfters am Morgen ins Monalisa-Cafe zu einem Cappuccino mit einem Croissant oder einer heissen Schokolade. Wenn ich Glück habe, bekomme ich einen der beiden Tische am Fenster, wo man so gut Leute beobachten kann. Oder ein paar Notizen machen. Oft funktionieren meine Texte besser, wenn ich sie spontan aufschreiben kann, doch da es hier in Indien nicht üblich ist, dass man sich irgendwo in ein Restaurant setzt um ein wenig zu verweilen, bleibt das eigentlich auf das Monalisa beschränkt.
Überall sonst wird sofort abgeräumt, sobald man ausgegessen hat. Augenblicklich kommt die Rechnung und wenn die bezahlt ist, wird sogar das halbleere Glas Wasser abgeräumt. Fertig, Du kannst gehen.
Ich weiss, die meinen das nicht böse, es ist einfach üblich. Man lässt den Gast nicht lange auf die Rechnung warten. Wenn er ausgegessen oder getrunken hat, will er bestimmt gehen. Nur im Monalisa, wo vor allem westliche Touristen einkehren, ist das etwas anders. Darum lächelt auch die indische Monalisa ihr unergründliches Lächeln an der Wand.
Aber eben, die Kühe. Viele sind frei, bewegen sich in der Stadt, haben vielleicht irgendwo einen Schlafplatz und schlendern ansonsten durch die Gassen, stehen im Wege rum und werden überall geduldet.
Einmal an einem Abend sah ich zufällig einen Mann, wie er eine Kuh in sein Haus brachte. Ein Stall? Weil ich offensichtlich neugierig stehen blieb, lud er mich ein, einen Blick in das Haus zu werfen. Tatsächlich, mitten in der Stadt, neben all den kleinen Geschäften, den Tempeln und Kiosken ist da ein privater Stall. Oder vielleicht müsste ich sagen, eine Stube mit Kuhanschluss. Denn die beiden Frauen, sassen in ihrem Wohnraum, der zu einem grossen Teil den Kühen vorbehalten war.
Hunde sind auch so ein Thema. Sie sitzen und liegen überall. Manchmal kommen sie in kleinen Gruppen, oft allein oder zu zweit. Sie sind friedlich, kümmern sich nicht um die Menschen, ausser sie werden vertrieben. Denn sie geniessen nicht den gleichen Schutz wie die Kühe, sie können schon mal mit scharfen Worten weggewiesen werden. Dann stehen sie auf und legen sich ein paar Meter weiter wieder hin.
Ich habe Bose gefragt, wem die Hunde gehören und er meinte: sie gehören der Erde. Sie sind freie Tiere, können sich bewegen wie und wo sie wollen. Tiere werden respektiert, es gibt verschiedene Orte wo sie gefüttert werden. Irgendwo liegt gekochter Reis am Strassenrand. Nachdem ich angefangen habe, darauf zu achten, habe ich an verschiedenen Orten solche Hundefutterstellen gesehen. Daneben müssen sie sich natürlich ebenfalls vom Abfall der Stadt ernähren. Ich nehme an, dass sie alle Vegetarier sind, denn Fleischabfälle gibt es hier wohl kaum. An einem einzigen Ort habe ich gesehen, dass Poulet verkauft wird. Lebende Hühner, die gleich an Ort und Stelle geschlachtet und ausgenommen werden.
Einmal bin ich drei Mulis begegnet. Oder waren es vielleicht doch Esel? oder Ponys?
Jedenfalls schleppten sie schwere Sandsäcke durch die Stadt. Sie taten mir leid.
Welche Bewandnis das Pferd hatte, das da mit einer Frau durch die Strassen geschritten kam, weiss ich nicht. Vielleicht gehörten sie auch gar nicht zusammen und das Pferd war frei. Irgendwo ausgebüchst und in den Gassen der Stadt verloren gegangen.
Kühe gibt es nicht nur in der lebenden Form, nein, den Kühen begegnet man überall an den Hauswänden als Graffiti oder ganz gross bei den Ghats. Oder in den Tempeln als Statuen, die immer mit frischen Blumen geschmückt werden. Als ich eines Tages Anil, dem Seidenhändler erzählte, dass ich im Moment nach Kühen Ausschau halte, brachte er mir einen Bettüberwurf. Auch da gibt es Kühe.
Es ist ganz unterhaltsam, nach einem bestimmten Thema zu fotografieren, wobei ich natürlich alles durcheinander aufnehme und erst später nach Themen sortiere.
Öfters begegne ich auch Ziegen. Diese sind ja nebst den Chicken gelegentlich auf einer Menukarte zu finden und leben ebenfalls mitten in der Altstadt. Manchmal sind sie irgendwo an einem Fenstergitter angebunden, manchmal schlendern sie allein durch die Strassen und der Besitzer hofft wohl, dass sie sich nicht zu weit verlaufen.
Den farbigen Ziegenbock mit der speziellen Musterung habe ich beim Burning Ghat gefunden, als ich zufällig wieder einmal in die Nähe davon kam. Ich habe mich kurz umgesehen, liess dieses mal aber das Fotografieren sein, unterhielt mich eine Weile mit einem jungen Mann, der mir erklären wollte, worum es hier geht.
Nicht vergessen bei der Aufzählung der Tiere in der Stadt: Affen, die überall an den Häusern herumturnen und oft von den Ladenbesitzern vertrieben werden.
Burning is learning, so fing er seine Erklärungen an, worauf ich ihm bald erklärte, dass ich schon länger in der Stadt sei. Darauf meinte er, er würde mir gern seinen Shop vorstellen. Er hätte die schönsten Seidensaris der Stadt. Hermes, kennst du Hermes? Ja wir liefern auch für die und wir arbeiten mit Gucci aus Italien, erklärte er grossspurig. Wobei er konsequent in der Ich-Form blieb. Er machte mich neugierig und da ich nichts anderes zu tun hatte, liess ich mich von ihm abschleppen, da sein Laden gleich in der Nähe sei.
Um ein paar Ecken und Gassen mussten wir dann doch gehen und dann standen wir, ich konnte es kaum glauben, vor dem kleinen Laden von Prem. Dem Seidenhändler, der mich ebenfalls beim Burning Ghat angesprochen und mir seine Visitenkarte zugesteckt hatte. Natürlich habe ich ihn nie gesucht, aber jetzt zufällig gefunden. Von Hermes und Gucci haben wir dann nicht mehr gesprochen und der junge Mann ist auch ziemlich schnell wieder verschwunden. Zurück zum Ghat um zu versuchen weitere Touristen anzulocken.
Ich aber bekam wieder einmal eine ausführliche Vorführung von seidenen Bettüberwürfen, von weichen Pashmina-Schals und Tüchern, aus denen man sich indische Kleider nähen lassen kann. Denn Prem liess es sich diesmal nicht nehmen, freute sich wie ein Maikäfer, dass ich hergekommen bin, wenn auch mit dem Anlocktrick. Aber der klappt eben doch.
Er liess es sich auch nicht nehmen, mir zu zeigen, wie man einen Sari trägt. Dazu gehört eine kleine kurze Bluse und dann wird der Stoff in Falten gelegt und um den Körper geschlungen. Gekauft habe ich den Sari nicht, aber mindestens ging ich wieder einmal mit einem kleinen Einkaufssack aus dem Laden. Denn meinen Einkaufsstopp konnte ich in den letzten Tagen nicht mehr aufrecht erhalten. Bereits ist inzwischen ein Paket auf dem Weg in die Schweiz. Darin ein wunderschöner Sari den ich im Silk-Paradies von Manoj und Anil gekauft hatte. Was ich damit anstellen werde, weiss ich noch nicht, denn mit einem Sari kann man ja in der Schweiz kaum ausgehen.
Hinterlassen habe ich einen Berg von Stoffen, mit denen Prem oder sein Assistent eine Weile beschäftigt sind, bis alles wieder an seinem Platz ist.
Was mich ebenfalls fasziniert, sind die vielen Friseure. Sie arbeiten im Freien an einer Hauswand oder in winzig kleinen Geschäften. Einen Spiegel, eine Schere, einen Kamm. Viel mehr braucht es nicht. Doch, vielleicht noch ein Messer, um den Bart zu stutzen.
Die Inder legen grossen Wert auf einen guten Haarschnitt. Wenn sie nicht grad Babas mit Dreadlocks sind oder Sikhs, die ihre langen Haare unter einem Turban verstecken, dann wollen sie ein gute Frisur. Mir fällt auch immer wieder der diskrete Kontrollblick der Männer auf, sobald irgendwo ein Spiegel hängt.
Eines Abends bekam ich eine Whatsapp-Nachricht von Manoj. Wir haben ein kleines Konzert heute Abend, magst du kommen? Selbstverständlich mag ich. Es war eine Gruppe kanadischer Touristen, deren Guide mit den Brüdern bekannt ist und sich eine Aufführung im Seidenladen gewünscht hatte.
Es ist ja nicht so, dass mir die Musik wirklich gefallen würde, aber ich werde später wohl nicht mehr oft Gelegenheit haben, Sitar und Trommeln zu hören.
Jedenfalls war es ein schöner Abend, eine kleine Auflockerung. Vor allem weil nach den Musikern noch eine Tänzerin auftrat. Ihre starke Ausdruckskraft, ihre Energie, und ihr Rhythmus gefielen mir sehr gut.
Früher, meinte Manoj, noch vor der Pandemie, haben wir hier im Laden oft Konzerte organisiert. Doch jetzt ist alles ganz anders. Es muss sich erst wieder aufbauen, die Geschäfte laufen noch nicht, wie wir es brauchen würden.
Es ist das erste und einzige Mal, dass er antönte, wie schwierig die Zeit nach der Pandemie für sie und für alle in dieser Stadt, ja wohl im ganzen Land ist.
Aufbruch: | 01.06.2022 |
Dauer: | 8 Monate |
Heimkehr: | 30.01.2023 |
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