Reise durch Indien
Nationalfeiertag
Acht Uhr morgends. Ich bin unterwegs durch die Strassen, denn kurz vorher bin ich von eigenartigen Tönen erwacht. Es sind Trommeln und ich kann ein paar Strassen weiter einen Umzug erkennen. Schulkinder in Uniform, die durch die Strasse paradieren. An einem anderen Ort steht eine Gruppe vor einem Haus, sie singen. Auch hier sind es Schulkinder in blauen Uniformen mit ihren Lehrerinnen. An einem anderen Ort sind es Erwachsene, die vor einer Haustüre stehen, einer hält eine Ansprache, dann wird gesungen. Überall ist Polizei auf den Strassen. Kinder schwenken die grün-weiss-orange Fahne.
Beim Museum, dort wo gestern die Stühle aufgestellt wurden, sind schon alle besetzt. Vor allem von Kindern, aber auch von Erwachsenen. Ich drücke mich an die Wand und bin gespannt, was auf der Strasse passiert.
Dann beginnt eine Blaskapelle zu spielen und eine Gruppe Polizisten marschiert daher. In strengem Gleichschritt, Kopf hoch, gestreckte Arme, zackige Schritte.
Direkt vor uns bleiben sie stehen. Es gibt ein paar harsch ausgerufene Befehle, ein paar Stellungswechsel, ein paar Ablösungen, dann geschieht nichts mehr. Auf der anderen Seite der Strasse steht ein Rednerpult, dahinter eine Frau. Man wartet auf die Ehrengäste, die Prominienten, die noch immer eintreffen. Manchmal wird ein Stuhl über die Köpfe weitergereicht, aber eigentlich passiert jetzt gar nichts mehr. Es wird heiss. Heiss und feucht. Die Polizisten in ihren braunen Uniformen mit den Hüten die aussehen wie gefaltete Papierservietten, stehen noch immer stramm.
Eine Stunde warte ich, dann gebe ich auf. Mir tun die Polizisten leid. Sie können sich nicht bewegen, stehen noch immer stramm, während ich wenigstens manchmal den Fuss wechseln kann, mich an die Hausmauer anlehnen. Mit ein paar Sorry, Excuse me, drücke ich mich durch die Wartenden und gehe zurück zum Hotel. Zum Frühstück.
Da kommt eine Whatsapp-Meldung: "Simon hatte gestern einen Unfall, er ist im Krankenhaus. Er kann daher leider heute nicht kommen, wird sich aber im Laufe des Tages melden".
"Was ist passiert? Wie geht es ihm?" - ich bin etwas geschockt und verwirrt.
"Er hat Verletzungen am Kopf und am Bein, wird jetzt genäht, er kann nicht selber kommunizieren. Ich bin seine Angestellte und er hat mich gebeten, dich zu informieren. Er hat dein Hotelzimmer gecancelt und wird dir heute Nachmittag das Geld zurück bringen.
Irgendwo schlägt bei mir eine Alarmglocke. Gestern Abend hatte er einen Unfall, jetzt am Morgen wird er genäht. Ich will mehr wissen, doch die Person, die im Moment Simons Handy bedient, kann nicht mehr sagen, will mir aber Fotos schicken. Der Unfall war gestern Abend mit einem Taxi. Der Fahrer hat eine gebrochene Hand.
Im Hotel buche ich eine Nacht länger, denn ich habe mich inzwischen an den Gedanken gewöhnt, bis fast Mitternacht ein Zimmer zur Verfügung zu haben, vor der Zugfahrt noch einmal zu duschen.
"Alles klar, ich bin im Hotel, warte auf mehr Informationen." Auch wenn ich bereits einige Bedenken an der Wahrheit des Unfalls habe, lasse ich mir nichts anmerken.
Die Frau will mich informieren, wenn sie mehr weiss und ich frage mich, warum sie die gleichen englischen Abkürzungen braucht wie Simon.
Nach dem Frühstück bleibe ich erst einmal im Hotel, setze mich an den Laptop, schreibe am Blog, denn da bin ich noch ziemlich im Hintertreffen. Irgendwann am frühen Nachmittag mache ich Pause und suche ein Cafe. Die Strassen sind wieder ruhig, vom Nationalfeiertag ist nichts übrig geblieben. Aber es fängt an zu regnen. Grad hab ich eine kleine Bäckerei gefunden, wo es sogar einen Cappuccino gibt, als sich die Wolken öffnen. Es Schauer geht nieder.
Und im WhatsApp kommen Fotos herein. Ein verbluteter Hinterkopf, ein Fuss mit einer grossen Wunde und ein Auto, das mit der Fahrerseite in einen Baum gefahren ist. Ob Simon wohl noch beim Frisör war, seine Haare scheinen kürzer. Und wie zieht man sich so eine riesige Schnittwunde im Fuss zu? Ganz abgesehen, dass das Unfallauto bei hellem Tageslicht aufgenommen wurde, wo der Unfall doch nach sechs Uhr abends passiert sein muss. Um sieben wird es dunkel.
Fragen über Fragen. Ich warte ab.
Nachdem der Regen nachgelassen hat, mache ich einen längeren Bummel, komme an den Fluss, der durch die Stadt fliesst, begegne einer Frau, neben der ein wunderschöner Schirm liegt. Darf ih mir den kurz ausleihen? Einen Schirm brauche ich nämlich heute noch, denn diese Nacht reise ich weiter.
Noch einmal schlendere ih durch die schmalen Gassen, bewundere die schönen Häuser mit den farbigen Fassaden, den Bogenfenstern, den kleinen Balkonen. Ignoriere den Dreck, den Schimmel, all die vernachlässigten Häuser. Die Strasse allerdings, in der ich Simon getroffen habe, lasse ich aus, Ich mag keine direkte Konfrontation, warte auf weitere Informationen. Bin gespannt, wie diese Geschichte weiter geht.
Im Park mit der hohen Skulptur, an der ich letzte Nacht schon vorbei gekommen bin, ist eine kleine Bühne aufgestellt. Hier treten Kinder auf. Ich setze mich zu den Zuschauern und versuche zu erkennen, worum es hier geht. Es sind Figuren, der Geschichte - Freiheitskämpfer, wie mir eine der Mütter erklärt - die die Kinder spielen. Liebevoll sind sie kostümiert und geschminkt. Kleine Jungs mit schwarzen Schnurrbärten und grossen Turbanen, kleine Prinzessinnen in glänzenden Saris. Sie sind ganz aufgeregt, vergessen ihren Text, schauen suchend zu ihren Müttern, sitzen verängstigt auf den Armen ihrer stolzen Väter und stellen sich dann auf die Bühne, wo sie kurz über sich hinauswachsen. Da rufen kleine Buben Parolen, recken die Faust kämpferisch in die Luft bis die Zuschauer in ihre Kampfrufe einstimmen. Ich bleibe fasziniert sitzen, auch wenn ich von all den Figuren höchstens Gandhi erkennen kann. Vielleicht noch die frühere Ministerpräsidentin Indira Gandhi, die restlichen Figuren sind mir unbekannt.
Beobachtet und beurteilt werden die Kinder von einer dreiköpfigen Jury, aber bei ihren Müttern hat jedes Kind bereits den ersten Preis verdient.
Ich bleibe ziemlich lange und als ich weiter gehe, komme ich zu einem Tempel, den ich bisher noch nicht gesehen habe. Hier gibt es eine grosse Halle und es schient, dss auch hier ein Kinderwettbewerb stattfindet. Ein paar der kleinen Künstler treffe ich hier wieder an. Es scheint, dass sie hier keine Rede halten müssen, dass hier lediglich das Kostüm beurteilt wird.
Als mir im Tempel ein paar Frauen mit ihren bunten Kleidern auffallen und ich verstohlen ein Foto mache, spricht mich der junge Mann neben mir an. Stolz erklärt er mir, dass das seine Mutter mit seiner Schwester und ihren Freundinnen sei. Und woher ich denn komme, wohin ich ihr Bild mitnehme. Und dann bedankt er sich, dass ich sie aufgenommen habe. Ich kann mich an diese Offenheit noch immer nicht gewöhnen.
Ich gehe zurück zum Hotel, frage zwischendurch mal nach Simon. Er ist noch immer beim Arzt, 22 Stiche hätte es gegeben und die Wunde am Fuss mache noch Probleme. Man könne noch nciht zu ihm, auch die Dame die das Telefon bedient, warte draussen vor dem Spital, bis sie mit ihm Kontakt haben könne. Aber er wolle mir unbedingt mein Geld zurück geben.
"Ich bin im Hotel, ihr könnt euch melden."
Später gehe ich zum Nachtessen hinaus. Finde bei der Kirche ein kleines feines Lokal mit typisch Goa-Küche. Soweit ich das verstehe, ist die Goa-Küche dem portugiesischen angelehnt und nicht vorwiegend Curry und vegetarisch, wie das bei der indischen Küche ist. Gut gewürzt ist es aber alleweil. Da passt ein kühles Bier bestens dazu.
Auf dem Rückweg kommt eine Meldung, Simon könne jetzt reden, er würde meine Hilfe brauchen, ob ich mit ihm sprechen wolle. "Selbstverständlich", schreibe ich zurück, worauf ich noch einen Moment vertröstet werde, sie müsse jetzt erst ins Krankenhaus gehen, um ihm sein Handy zu bringen. Würde ja nur zu gerne wissen, wie die beiden sich inzwischen verständigt hatten, wenn er im Krankenhaus ist und kein Handy bedienen durfte während niemand zu ihm durfte.
Endlich ruft er mich an. Seine Stimme ist ziemlich zerknirscht. Ob ich ihm mit 7000 Rupies aushelfen könne um das Spital zu bezahlen, er würde mir das Geld vor Abfahrt des Zuges zum Bahnhof bringen.
Ich lehne ab, worauf die Verbindung abbricht. Kommt noch eine lapidare Entschuldigung für die Umtriebe, er hätte nicht gewusst, dass ich gleich so angry würde.
Angry? ich bin alles andere als böse, aber ich bin enttäuscht und traurig.
Damit ist diese Episode erledigt und ich frage mich noch immer, was der ganze Aufwand denn hätte bringen sollen. Soviel Theater, soviel Lügen, soviel Umtriebe für so wenig Ertrag. Wahrscheinlich habe ich auf den Unfall zu cool reagiert, man hätte mehr Hilfsbereitschaft von mir erwartet. Doch dazu hatte er mir gestern wohl einmal zu oft erklärt, was für ein erfolgreicher Business-Man er doch sei.
Ich jedenfalls gehe jetzt zurück ins Hotel, schreibe, dusche noch einmal, warte entspannt auf das Taxi, das mich zum Bahnhof bringen wird, der im 40 km entfernten Margao liegt.
Etwas mulmig ist mir dann doch noch, als wir uns dem Bahnhof nähern. Simon weiss wann mein Zug fährt. Wird er oder einer seinen Freunde noch einen letzten Versuch machen, mich umzustimmen, von mir Hilfe zu bekommen. Es ist immerhin Mitternacht und ich fühle mich im Moment grad etwas hilflos Als ich aber zum Bahnhof komme, sehe ich dass da viele Leute sind, Ich falle in der Menge nicht auf. Das Thema Simon ist damit abgeschlossen, ich bin auf dem Weg zu neuen Abenteuern.
Aufbruch: | 01.06.2022 |
Dauer: | 8 Monate |
Heimkehr: | 30.01.2023 |
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