Reise durch Indien
Menschliche Pyramiden
Heute kann ich zum ersten Mal seit ich hier bin, die Skyline auf der anderen Seite der Bucht deutlich sehen. Wegen dieser Sicht ist diese Lage hier am Marine Drive so beliebt Und deswegen sitzen hier wohl auch immer Leute am Quai und sehen hinaus aufs Meer. Heute sind es allerdings erstaunlich wenige. Gestern am späten Abend war die Mauer voll.
Ich habe mir ein Ziel ausgesucht. Beim Durchstöbern der Orte, die man sich in Delhi ansehen könnte kam ich auf den Hängenden Garten. oder Hanging Garden. Da kommt mir natürlich grad die hängenden Gärten von Babylon in den Sinn. Doch auch die werden wohl kaum gehangen haben, der Name kommt wahrscheinlich davon, dass der kleine Park auf einem Hügel liegt Und zwar genau am Ende der Bucht, da wo ich etwas grün entdecken kann.
Ich laufe am Quai entlang und begegne einem kleinen Jungen, der rote Rosen verkauft. Er scheint Erfolg zu haben, beim weiteren Gehen treffe ich immer wieder auf junge Paare, bei denen die Frau eine Rose in der Hand hält Jeder hat sein eigenes Geschäftsmodell. Das gibt doch wenigstens ein paar Rupien für den kleinen Jungen
Als der Quai mit einer Baustelle blockiert ist, halte ich ein Taxi an, und bitte ihn, zum Hanging Garden zu fahren. Wir fahren dem Strand entlang und dann steigt die Strasse langsam an. Wir sind in einem völlig anderen Quartier mit kleinen Verkaufsständen, Kiosken, Blumengeschäften. Die Blumengeschäfte könnten auf einen Tempel hinweisen, denn die finden sich immer vor oder neben Tempeln. Tatsächlich kommen wir bald darauf bei einem einfachen kleinen Tempel vorbei Doch etwas anderes fängt meine Aufmerksamkeit ein. Das heisst, eigentlich ist es der Fahrer, der kurz auf die andere Seite zeigt: Look!
Was ist das? will ich wissen. Covinda, meint er, und damit ist seine Auskunft erledigt. Doch ich will wissen, was ich da mit einem Auge erhascht habe. Es waren Männer, die aufeinander standen. Eine menschliche Pyramide. Also gleich mal googeln.
Menschliche Pyramiden in Indien gebe ich ein und bekomme tatsächlich den Hinweis auf ein Fest das vor allem in der Umgebung von Mumbai gefeiert wird. 19. August ist er Geburtstag von Krishna, dem höchsten indischen Gott. Dahi Handi heisst das Fest, bei dem junge Männer Pyramiden machen, die Covindas genannt werden und dabei versuchen einen Honigtopf herunterzuschlagen. Leider habe ich zuwenig davon gesehen und der Taxifahrer kann mir dazu nicht mehr sagen.
Aber er kann mir etwas zum Garten sagen, bei dem wir kurz darauf eintreffen. Nämlich, dass der erst um 12.00 Uhr öffnen wird. Das Tor ist geschlossen. Es fehlt noch eine Stunde bis zum Mittag. Eigentlich möchte ich nicht hier stehen und warten.
Lass uns zurück fahren, vielleicht machen die noch eine Pyramide. Natürlich haben die längst abgebrochen, die Männer sammeln sich auf der Strasse, steigen in einen Lastwagen. Und wir fahren hinunter zum Strand. Das Meer ist hier in der Bucht nicht ganz so wild, aber es ist keine Badesaison. Es liegen nur ein paar Fischerboote am Strand und zwei Buben schöpfen Wagen aus den Booten, spielen mit dem Wasser, und verstecken sich, als ich näherkomme.
Ich versuche die Tauben aufzuschrecken um ein paar aufregende Fotos zu bekommen, weiss aber sonst nicht was ich hier soll. Also zurück zum Taxi. Fahren wir zum Garten.
Das Tor ist noch immer geschlossen. Obwohl es eben erst Mittag war. Und wo steht das, dass es jetzt aufgehen sollte? Er weiss es nicht, diesmal macht sein Kopf wackeln auch für mich Sinn, ich entlasse ihn, will nicht, dass er auf mich wartet.
Hinter dem Tor entdecke ich einen Mann, der durch den Park läuft. Wann geht der Park auf? will ich von ich von ihm wissen. Er kommt näher. Aber der ist doch schon längst offen. Das Tor ist etwas weiter rechts. Na also. Es kann ja nicht jeder alles wissen. Jetzt finde auch ich den Haupteingang. Bevor ich hinein gehe sehe ich noch einen Moment dem Frühteverkäufer zu. Guave sind es, die er mit seinem scharfen grossen Messer aufschneidet. Sie scheinen noch ziemlich hart zu sein nicht wirklich süss aber dafür streut er eine Gewürzmischung darüber. Ich probiere etwas davon, mir ist die Frucht in ihrer Unreife noch zu sauer und zu hart. Aber sie sieht interessant aus.
Der Park ist dann eher eine Entäuschung. Zwar wäre er schön mit Spazierwegen und es gibt sogar ganz viele Bänke, was tatsächlich keine Selbstverständlichkeit ist. Aber die in Tierformen gestutzten Büsche, die ich auf einem Bild gesehen hatte, kann ich nicht finden. Nur einer könnte irgendwann mal ein Lama gewesen sein, aber die Formen haben sich ausgewachsen. Andere sind überhaupt nicht mehr vorhanden. Alles scheint etwas verlottert zu sein, Ich laufe trotzdem einmal rundum. Vielleicht gibt es ja ein paar Blumen, die ich einfangen könnte.
Die romantischen Laubengänge sind vernachlässigt, die Blumentöpfe stehen etwas verloren auf ihren Podesten, die Gartenzäune stehen zum Teil schief, ein paar Blumen blühen. Blumen sind immer schön, ganz egal wie die Umgebung aussieht. Und dann entdecke ich einen blühenden Strauch, der von ganz besonders schönen grün-schwarzen Schmetterlingen umflattert wird. Das beschäftigt mcih eine ganze Weile, denn sie wollen sich auf gar keinen Fall irgendwohin setzen, flattern immer weiter, wenn ich sie im Fokus habe, haben keine Ruhe.
Den Mann, der mir Auskunft gegeben habe, treffe ich noch ein paarmal an. Er zieht jeden Tag eine Stunde lang seine Runde im Park. Immer rundum. Nicht joggen, nur zügig laufen. Doch auch das ist schon eine ganz gute Übung, denn es ist auch heute wieder schwülheiss. Und auch wenn es heute wohl trocken bleiben wir, habe ich manchmal trotzdem das Gefühl, durch Wasser zu gehen.
Ich bin etwas entäuscht von diesem Garten und gehe zurück zum Ausgang. Dort treffe ich auf der anderen Strassen-Seite beim kleinen Parkplatz auf eine Gruppe Männer, die alle ein gleiches T-Shirt tragen. Ob sie auch Pyramiden bauen? Ich zeige einem mein Foto und frage, was es damit auf sich hat.
Ja, meint er, sie wären tatsächlich auf dem Weg zum nächsten Event. Sie würden hier nur eine kurze Mittagsrast machen. Eine junge Frau verteilt Teller mit gebratenem Reis, auch mir offeriert sie einen, ich lehne dankend ab. Da bringt sie mir ein kleines süsses Gebäck. Das müsse ich einfach probieren. Es ist eines dieser extrem süssen Desserts, fein. Einer der jungen Männer stellt mir seinen kleinen Bruder vor. Er wird auf der Pyramide ganz oben stehen. Hast du keine Angst? will ich wissen, doch der kleine strahlt über das ganze Gesicht. Wir haben geübt. erklärt mir sein Bruder. Seit 3 Monaten trainieren wir taglich. Nein, das ist alles ein grosses Fest.
Er erklärt mir, wohin ich gehen soll, doch ich merke, dass das zu kompliziert ist. Also bitte ich ihn, das dem Taxifahrer zu erklären, den ich vorsorglich schon mal angehalten habe.
Die Gruppe wird mit dem Lastwagen fahren, ich bin mit dem Taxi unterwegs. Gesehen habe ich sie nicht mehr, denn da wo mich der Taxifahrer auslädt, ist die ganze Strasse voller Pyramidensportlern. Sie tragen T-Shirts in allen Farben gern in auffälligem Neon. Über die Strasse ist eine Girlande gespannt, geschmückt mit Blumen und in der Mitte hängt ein runder Topf. Ob man den herunterschlagen muss?
Aus einem Lautsprecher ertönt Musik und eine Stimme erklärt wohl, wer grad dabei ist, die nächste Pyramide aufzubauen. Und plötzlich bin ich einfach mittendrin. Mitten in einer Meute von Menschen, die zusehen, die mitmachen, anfeuern, johlen. Damit ich bessere Übersicht habe, steige ich die Treppe zu den Moderatoren hinauf. Da oben sind die grossen Kameras und da oben sind ein paar Leute mit Mikrofonen.
Ich kämpfe mich bis ganz hinauf, immer wieder einen Schritt weiter, wenn jemand Platz macht und dann habe ich tatsächlich den besten Platz für diesen Event.
In der Mitte einer Gruppe steigt plötzlich eine Pyramide auf. Zuerst sind es ein paar wenige Männer, die auf die Schultern der unten stehenden steigen, dann ist es ein weiterer Ring, noch einmal ein paar. Sie steigen über die Schultern hinauf. Die Manner bücken sich, warten bis der nächste auf ihren Oberschenkeln steht, dann stehen sie auf, der hintere kann weiter hinaufsteigen. Es ist eine ganz eigene Technik und es ist faszinierend zuzusehen. Manchmal, aber ganz selten, stürzt jemand ab, dann wird er von den unten stehenden aufgefangen die anderen machen weiter. Und ganz am Schluss steigt ein kleiner Junge hinauf. Mit einem Helm auf dem Kopf.
Und wenn er oben steht, einen kurzen Moment nur, dann jubelt die Menge und die Pyramide wird ganz schnell wieder abgebaut. Aber daneben entsteht schon eine weitere. Es sieht alles so spontan aus, also ob sie zufällig, da wo sie stehen, anfangen würden.
Und dann steigt tatsächlich eine sehr grosse auf. Ein breiter Ring, viele Hande, die sich in die Höhe strecken um sofort aufzufangen, falls jemand herunterfallen würde. Es geht alles ganz schnell, denn das Gewicht, das die untersten tragen ist wohl enorm. Die weiteren Stufen kommen wie eine Welle hinauf. Immer höher. Am Schluss sind es sieben Stufen und der kleine Junge wird gefeiert. An den Topf zu kommen hat allerdings trotzdem nicht gereicht. Es scheint, dass der extra hoch hängt und es ist gar nicht gedacht, dass der so schnell herunterkommt.
Unten an meiner Treppe steht ein Mann mit einem langen goldenen Horn. Immer wenn wieder eine Pyramide gelungen ist, bläst er hinein, dazu kommen ein paar Trommler, die die Leute anfeuern. Es ist wie ein Fieber und ich stehe tatsächlich einfach so mittendrin.
Als kurz ein paar Tropfen vom Himmel fallen, steige ich vom Podeste herunter und suche in einem Hauseingang etwas Schutz. Setz dich zu uns, meint eine Frau, die etwas zur Seite rückt und ein junger Mann will wissen, woher und wohin ich gehe. Es entwickelt sich ein kurzes Gespräch, während draussen ein Wolkenbruch niedergeht. Doch er ist bald vorbei und der junge Mann anerbietet sich, mich mit seinem Motorrad zum nächsten Ort zu bringen, wo die Gruppen auftreten. Es scheint in der ganzen Stadt solche Plätze zu haben. Hast du schon Lunch gehabt? Magst du mit mir kommen? Ich winke ab, für solche Ambitionen fehlt mir im Moment das Vertrauen. Ausserdem ist mir jetzt doch alles etwas zu viel. In meinen Ohren dröhnt es, meine Augen haben so viel aufgenommen und erst mein Kopf!
Sobald der Regen aufhort, kämpfe ich mich durch die Menge und suche mir ein Taxi. Den jungen Mann hab ich noch einmal kurz gesehen. Immerhin, das mit dem Motorrad hat gestimmt, er fuhr nämlich grad damit um die Ecke, als ich ins Taxi eingestiegen bin
Auf der Rückfahrt ins Hotel begegnen mir noch überall die Gruppen, die in Lastwargen zum nächsten Platz fahren. jedenfalls solange ich in der Altstadt bin. In meinem Quartier am Marine Drive scheint es keine Auftrittsorte zu geben.
Am nächsten Morgen wird ein Artikel in der Zeitung erscheinen, der von dem grossen Tag erzählt. Von der grossen Freude, dass der Dahi Handi nach zwei Jahren Pandemie endlich wieder durchgeführt werden konnte. Irgendwo scheint der Honigtopf von einer Gruppe erreicht worden sein und so wie die Bilder zeigen ging, das Fest noch bin in die Nacht hinein weiter.
Es gab 111 Verletzte, die zum Teil in Spitälern versorgt werden mussten.
Am Abend setze ich mich einen Moment ans Ufer und bewundere wie hunderte anderer die Aussicht auf die beleuchtete Skyline auf der anderen Seite der Bucht. Dann suche ich ein Restaurant und finde ein feines Cafe, in dem es ganz hinten Büchergestelle gibt. Ich bin nicht sicher, ob es auch ein Buchladen ist oder ob man sich die Bücher einfach mitnehmen und ein anderes hinstellen kann.
Ich jedenfalls bestelle eine Spinatpizza und geniesse einen ruhigen Abend nach einem sehr erreignisreichen Tag, der gar nicht so vielversprechend begonnen hat.
Aufbruch: | 01.06.2022 |
Dauer: | 8 Monate |
Heimkehr: | 30.01.2023 |
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