Neustart
Venus
Ich kann gar nicht anders, ich muss einfach fotografieren, wenn ich am Morgen aus dem Hotel komme. Die Sicht auf den Platz ist einfach jeden Tag umwerfend. Ich möchte mir das Bild verinnerlichen. Für später, wenn ich mir meine Fotos ansehe und mich zurück erinnere. An einen wunderbaren Ort mitten in Kolumbien.
Auf dem Hauptplatz steht wieder der grosse Bus, der hat anscheinend nicht zur Filmcrew gehört. Ich sehe mir die Info-Tafel etwas genauer an. Wenn ich es richtig verstehe handelt es ich um eine Gratis-Rechtsauskunft für alle, die etwas wissen wollen.
Da stehen so Dinge drauf wie:
Erhalte Gratis-Information über deine Rechte. gemäss Gesetz 1480 von 2011
Haben sie deinen Telefontarif erhöht, ohne dich vorher zu informieren?
Hast du Verträge unterschrieben mit missbräuchlichen Klauseln?
Hast du Produkte gekauft und jetzt gibt es keine Garantie?
Ich bin nicht ganz sicher, aber es könnte tatsächlich eine Dienstleistung des Staates sein. Eine Infokampagne.
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Nach dem Frühstück, diesmal mit traditionellem Pericco - Rührei mit Tomaten und Zwiebeln - gehe ich zurück ins Hotel, will noch ein wenig schreiben und versuchen, Fotos aufzuladen. Das ist plötzlich schwierig und langsam geworden.
Gegen Mittag bummle ich durch den Ort und entdecke einen deutschen Bratwurst-Laden. Mir ist allerdings mehr nach dem Schokolademuseum ein paar Häuser weiter. Es ist mir schon gestern aufgefallen, jetzt will ich es mir genauer ansehen.
Eigentlich ist es ja vor allem ein grosser Schokolade-Laden wo viel Schokolade verkauft wird. In Form von wunderschönen Pralinen, die hinten im Laden hergestellt werden. Und Schokolade in allen Formen und mit den verschiedensten Aromen.
Dazu werden aber auch Geräte ausgestellt, die man für das Herstellen und Servieren von Schokolade braucht oder was so gebraucht wurde, als Schokolade noch ein sehr wertvolles neues Getränk war. Ausserdem gibt es Säcke voller Kakaobohnen und Kakaofrühchte.
Und man kann sehen wie sie wachsen. Die Früchte wachsen direkt am Stamm und reifen dort, bis sie geerntet werden. Dann werden sie geschält, fermentiert und getrocknet, geröstet und gemahlen. Es ist ein langer Prozess und eigentlich hätte ich gern eine Kakaofarm besucht, aber ich hab noch immer nicht herausgefunden, wo man so eine Farm findet. Obwohl Kolumbien ein Hauptanbaugebiet für Kakao ist.
Zum Schop gehört auch ein sehr schönes Restaurant. Einerseits ist da der Garten mit versteckten romantischen Tischen und dann das Cafe, das über und über mit Blumengirlanden geschmückt ist, so dass man sich in einer besonders romantischen Pergola fühlt. Natürlich gönne ich mir auch eine Tasse Schokolade und vor allem ein grosses Stück Schokoladetorte.
Dass ich den exotischen Kakao mit dem flambierten Käsedeckel bestellt habe, liegt an meiner Neugier. Ich hätte es ja wissen müssen, Käse und Schokolade muss einem ganz speziellen Hirn entsprungen sein. Fein wäre ganz anders. Nachdem ich den geschmolzenen Käse, wieder aus der Schokolade gefischt habe, war diese aber himmlisch. Mild und cremig. Und der Kuchen sowieso. Ich brauche wahrscheinlich heute nichts mehr zu essen und start jetzt erst einmal zum Verdauungsspaziergang.
Sie ist etwas versteckt und ich habe sie nur zufällig von der Dachterrassse des Hotels gesehen, die zeite Kirche. Leider ist sie nicht offen. Ich setze mich eine Weile unter den riesigen Gummibaum, der im kleinen Park steht und studiere die ausladenden Äste. Ich liebe riesige Bäume und Gummibäume haben einen ganz besonderen Reiz.
Ich gehe weiter, auf dieser Seite des Ortes gibt es weniger auffällige Geschäfte und Boutiquen, aber der Blick in den einen oder anderen Hof zeigt mir schöne Hotelinnenhöfe oder einmal sogar eine kleine Brauerei.
Über den Strasse wird die Weihnachtsbeleuchtung angebracht, ich begegne den Männern mit der Leiter überall wieder. Sie ziehen lange Stränge mit unzähligen kleinen Lichtern entlang den ganzen Strassen. Wird bestimmt sehr festlich aussehen, wenn sie fertig sind.
Hinter einem mit bunten Bändern geschmückten Tor entdecke ich einen kleinen Garten. Hier wächst eine Blume, die mich an Herbstzeitlosen erinnert, aber meine App sagt mir, dass es Windblumen sind..
Auf der anderen Seite der Strasse finde ich das Alma-Cafe. Ich trete ein und bin in einer anderen Welt. Schon das Entree ist sehr ansprechend mit den vielen Blumentöpfen an der Wand. Dahinter gibt es einen grossen Garten.
Eine Frau ist dabei, Weihnachtsschmuck aufzuhängen. Kleine Tonformen mit roten Bändern. Kein Plastik, betont sie, es soll alles natürlich sein. Sie macht mich auf die beiden Bücherhäuschen aufmerksam. Es hätte nicht nur spanische Bücher darin, auch ein paar englische würde ich finden. Man kann sie einfach mitnehmen. Und wenn man hat, legt man ein eigenes hinein, so dass ein Bücheraustausch stattfinden kann.
Im Baum hängen ein paar Vogelhäuschen.
Und dann fallen mir die roten Früchte am Baum ganz hinten in der Ecke auf. Ich habe sie schon an anderen Orten gesehen, aber noch nie bin ich ihnen so nahe gekommen, dass ich sie hätte fotografieren könne. Eugenien seien das, meint die Frau. die Frucht sei nicht geniessbar, aber sehr schön. Und sie hat sehr hübsche weisse Blüten.
Syzygium paniculatum erklärt mir Wikipedia später, ein Myrthengewächs.
Die gelben Nisperos kenne ich von Spanien. Manchmal findet man sie auch bei uns in den Supermärkten. Aber die Früchte sind sehr empfindlich und nicht gut für den Transport geeignet.
Ich sehe mir ganz hinten noch das Atelier eines Künstlers an. Es sind grosse Gemälde und Fossilien, die aussehen, als hätte man die Knochen so aus der Erde gebuddelt.
Im Restaurant bekomme ich einen richtig feinen Cappuccino. Ich sehe den beiden Kindern zu, deren Mütter am Nebentisch in ein intensives Gespräch vertieft sind. Dass die beiden eine Maske tragen, scheint den Knirpsen nichts auszumachen, sie lachen und kichern ungestört und arbeiten mit ihren farbigen Bauklötzen.
Als ich das Cafe verlasse, ist die Frau dabei, den grossen Weihnachtsbaum im Eingang zu schmücken. Mit vielen Pinienzapfen und roten Maschen.
Inzwischen steht die Sonne schon sehr tief und wird wohl bald hinter den Wolken verschwinden. Bei der Kirche stehen ein paar Lastwagen und zwei Fenster werden von grossen Scheinwerfern beleuchtet.
"Sie sind wieder am Filmen", meint der Mann, der neben mir auf der schmalen Bank an der Mauer sitzt. Irgendwie kommen wir ins Gespräch, reden über Gott und die Welt. Vor allem über die Welt. Er will wissen, woher ich komme, wie lange ich schon hier bin. Das übliche halt. Er gibt mir ein paar Tipps für meine Weiterreise. Und dann erzählt er von sich.
Von der schwierigen Zeit mit Covid. Es hatte ihn erwischt. Er wäre fast daran gestorben. Lag zwei Wochen im Krankenhaus in Tunja. Daran kann er sich aber nicht mehr erinnern, denn er lag im Koma. Er hat es überlebt. Knapp.
Inzwischen geht es ihm besser. Er ist hierher zurückgekommen. Da wo er aufgewachsen ist. Jeden Tag macht er seine Spaziergänge, manchmal geht er ein wenig in die Höhe, aber er muss noch immer sehr aufpassen. Es ist nicht mehr wie vorher. Aber es ist gut so. Er hat sich auch impfen lassen, er will schliesslich weiterleben, ist erst seit kurzem pensioniert. Es scheint, dass er einen guten Posten hatte. Als Ingenieur.
Und dann zeigt er mir die Venus. Vor kurzem ist sie aufgegangen und steht jetzt hoch oben am Himmel über den Häusern auf der anderen Seite des Platzes. Und während der Himmel jetzt immer dunkler wird, kann man die Venus immer besser erkennen.
Als es ganz dunkel wird, verabschieden wir uns. Francisco hat mir die Venus gezeigt. Ein wunderschöner Abend an einem wunderschönen Ort.
Viel später am Abend mache ich noch einmal eine Runde über den Platz. Die Filmcrew ist abgezogen. Heute ist Vollmond. Doch die Venus steht noch immer am Himmel. Sie wird mich in Zukunft immer an diesen Abend in Villa de Leyva erinnern. Und an Francisco.
Aufbruch: | 20.06.2021 |
Dauer: | 7 Monate |
Heimkehr: | 29.01.2022 |
Kolumbien
Argentinien