Neustart
Metro linea 1 Lima
Bereits bei meinem ersten Ausflug in den Süden von Lima waren sie mir aufgefallen, die farbig bemalten Stützen unter dem Tren eléctrico, unter dem Zug, der den Süden von Lima mit dem Norden verbindet.
"Die würde ich mir gern etwas näher ansehen", hatte ich Juan gesagt. und heute sind wir tatsächlich wieder hier. Allerdings nicht mit dem Auto, sondern zu Fuss. Juan war es nicht ganz klar, was ich meinte, aber als er sieht, dass ich die Strasse überquerte und in der Mitte dem Randstein entlang laufe, versteht er, dass es mir ernst ist.
"Man kann hier nicht gehen", versucht er mich abzuhalten, doch dann schickt er sich in sein Schicksal und kommt mit. Einen guten Kilometer lang erstreckt sich das Trassee zwischen den beiden Stationen Ayacucho und Jorge Chavez. Einen ganzen Kilometer im feuchten Dreck der Rabatte. Tatsächlich laufen hier höchstens die Strassenverkäufer, die versuchen ihre Waren an die Autofahrer zu verkaufen, wenn der Verkehr kurzfristig stockt.
"Hay un poco de barro', (es hat etwas Schlamm) meint er noch, bleibt aber tapfer dabei und erklärt mir jedes Bild. Und das mit seinen glänzenden Lederschuhen, mit denen er dann wieder Taxi fahren muss. Viele Bilder sind selbst erklärend, aber auf einigen sind Persönlichkeiten des Landes abgebildet. So zum Beispiel Miguel Grau, ein peruanischer Kriegsheld, dem man hier überall begegnet, oder Jorge Chavez, der junge Pilot, der Bezwinger der Anden, der als erster mit seinem Doppeldecker über die höchsten Berge flog. Bei seinem Versuch als erster die Alpen zu überfliegen ist er dann mit 23 Jahren in Domodossola tödlich verunglückt.
Bei der Station Jorge Chavez ist die Gemäldegalerie zu Ende. Wir wollen mit dem Zug weiter fahren. Dazu müssen wir uns zwei Masken anziehen und einen Plexiglas-Schutzschild. Zum Glück steht da grad eine Verkäuferin und bietet diese für ein paar Soles an. Meinen musste ich nämlich irgendwann entsorgen, denn weil ich ihn immer in der Handtasche bei mir trug, war er so zerkratzt, dass ich kaum mehr durchgesehen hätte. Ich bin übrigens sehr froh, dass ich mich vor dem Abflug entschieden hatte, beim Fotografieren nur noch auf mein Handy zu setzen. Denn auch wenn meine Handtasche ziemlich gross ist, für die grosse Kamera mit Objektiv hätte ich keinen Platz mehr gehabt.
Vor der Station hat sich bereits eine ziemlich lange Schlange gebildet. Eine Kontrolleurin kommt auf uns zu und weist auf mich. Sie könne mich schneller reinlassen und Juan müsste mir dann einfach folgen, damit man sieht, dass wir zusammen gehören. Ich weiss gar nicht wie mir geschieht, sie lässt uns durch einen speparaten Schalter eintreten.
"Warum durfte ich so einfach hinein kommen?" will ich später von Juan wissen. "War das weil ich Ausländerin bin? Oder wegen meinem Alter?" "Nein, nein", beschwichtigt er mich, und als ich nachfrage meint er verlegen: "Wegen deinen weissen Haaren." Also doch das Alter.
Wenn ich mir jetzt die Foto ansehe, kann auch ich erkennen, dass die weissen Haare doch langsam überhand nehmen. Ist anscheinend alles für etwas gut.
Der Tren electric wurde 2011 eingeweiht. Bis jetzt ist erst die Linie 1 realisiert, aber wie ich in Wikipedia lese, sind insgesamt 6 Linien geplant. Wann diese realisiert werden, weiss wohl niemand.
Der Zug ist sehr beliebt, denn er fährt fast durch die ganze Stadt über 35 Kilometer und hat 26 Stationen. Im Moment ist der Zutritt sehr limitiert, lediglich 10 Personen dürfen gleichzeitig hinein, die Zugangskontrolle ist strikt und auch eine kleine Warteschlange kann eine ziemlich lange Zeit bedeuten. Darum war das tatsächlich ein Privileg, dass wir gleich eintreten konnten.
Wir fahren bis zur Endstation, wo wir aussteigen. Den Bahnhof verlassen wir allerdings nicht, denn auch hier steht eine lange Schlange beim Eingang. Diese ist am Morgen noch viel länger, auch wenn hier in den leeren Zug jeweils 50 Personen durchgelassen werden. Die Schlange geht dann aber von der Station hinaus auf die Strasse, windet sich bis hinauf zum übernächsten Häuserblock, kommt wieder hinunter und ist ein langer Zickzack über die ganze Strassenbreite. Juan unterhält sich mit der Frau, die die Zugangskontrolle macht und diese meint, dass die Leute an den Endstationen schon um fünf Uhr morgens anstehen und dass sie zwei bis drei Stunden da stehen bevor sie einsteigen können.
Von einer Endstation bis zur anderen dauert die Fahrt fast eine Stunde. Und die Züge fahren alle vier Minuten.
Juan zeigt hinaus, über die Schienen der Station. "Schau mal, der Zug ist zwar hier fast zu Ende, aber die Stadt geht noch viel weiter. Siehst du die Hügel? Dahinter hat es noch mehr Hügel und dann noch mehr. Und all das ist überbaut. Überall hat es Häuser, wohnen Menschen".
Wir steigen in den jetzt leeren Zug an der Endstation. Von Station zu Station füllt er sich, doch es bleibt immer genügend Platz zum Stehen. Vor der Pandemie, ohne all die Zustiegskontrollen war der Zug jeweils voll, ja wohl überfüllt.
Juan möchte später noch einmal aussteigen, er möchte mir die Vorstadt zeigen, doch ich kann nicht mehr. "Es macht mich traurig, diese Verhältnisse zu sehen. zu sehen, wie Menschen leben, wie grau und aussichtslos die Zukunft für diese Menschen ist".
Ob er versteht, was ich meine? Ich glaube schon, denn er versucht, mir die Stadt mit all ihren Facetten zu zeigen. Er lässt mich hinter die Kulissen sehen. "Darf ich alles, was ich hier oder bei dir zu Hause sehe, in meinem Blog kommentieren?" habe ich ihn vor ein paar Tagen gefragt. "Ja selbstverständlich", hat er gemeint. "Ich weiss, dass du das anders siehst als ich, dass du manchmal schwarz siehst, oder grau, wenn ich noch immer etwas Positives sehe. Du kommst von einem anderen Ort, hast andere Erfahrungen". Es ist diese Toleranz, die mir immer wieder imponiert, nicht nur hier, auch mit vielen anderen Menschen, denen ich auf meinen Reisen begegne. Was wir als unhaltbare Zustände sehen, ist für diese Menschen der Alltag, der tägliche Überlebenskampf.
Juan liest übrigens meinen Blog mit. Auf seinem Handy kann er auf Knopfdruck alle Texte ins Spanisch übersetzen. Das ist dann für mich sehr amüsant, wenn er mir meine Texte vorliest. Auf Spanisch.
Bei der Station Gamarra steigen wir aus. Wir sind vor ein paar Tagen bereits hier vorbei gefahren. Allerdings mit dem Taxi und Juan hatte mich angewiesen, ganz besonders aufzupassen, dass mir beim Fotografieren kein Motofahrer das Handy aus der Hand reisst.
Entsprechend bin ich jetzt vorsichtig, halte es mit beiden Händen fest zum fotografieren.
Gamarra, das ist eine Stadt in der Stadt. Ein paar Häuserblocks zwar nur, aber die Strassen haben überall grosse Tore, so dass kaum Autos in diesen Bereich hinein fahren können.
Lima ist bekannt für seine Polohemden und T-Shirts. Doch nicht nur Polos werden hier produziert. Es gibt hier alles. Von der Massenproduktion bis zum Massschneider. Vor Jahren hatte ich hier mal 200 Polos gekauft. In fünf verschiedenen Farben, bestickt mit einem aufwändigen Logo für meine damalige Lodge. Am Dienstag bestellt, am Freitag abgeholt. In den oberen Stockwerken sind die Arbeitsräume. Da arbeiten ganze Familien stundenlang an den Nähmaschinen. Ich kann mich erinnern, dass ein kleines Mädchen die letzten Fäden von den Polos schnitt, bevor sie für uns eingepackt wurden.
Die Kleider werden in den Geschäften im Parterre verkauft. Da sind unzählige kleine Läden. Hinter jeder Theke steht jemand, fragt unentwegt: "Que buscas?" Was suchst du?
Es ist ein riesiger Ameisenhaufen, dieses Gamarra. Es gibt Verkaufsräume auf verschiedenen Ebenen. Im Untergeschoss, im Obergeschoss, in langen Gängen, die tief ins Inneres der Häuser führen. Kleine Lokale in denen alles überstellt ist mit Kleidern, Tshirts, Hosen, Hemden.
Juan möchte ein neues weisses Hemd kaufen. Er weiss genau, wo es diese gibt, denn trotz dem riesigen Chaos scheint alles irgendwie eine Ordnung zu haben. Hier werden eher Hemden verkauft, dort Kleidungen, Kleider, an der nächsten Strasse Dessous, Spitzen, Faden, Stoffe, Socken. Und dann ist doch alles wieder komplett durcheinander. Auf der Strasse überbieten sich freie Händler darin, ihre Waren anzubieten. Entweder sie rufen selber oder sie haben einen kleinen Lautsprecher dabei, aus dem unentwegt Aktionen verkündet werden.
Der Blick in den Himmel zeigt ein weiteres Chaos. Die Kabel, die hier kreuz und quer über die Strasse hängen wären eine ganzes Kapitel wert. Und dort steht tatsächlich einer auf der Leiter und scheint etwas zu reparieren.
Ich habe jetzt hier ein paar Bilder eingestellt, komme aber zum Schluss: Gamarra kann man nicht erklären, Gamarra muss man erleben. Mit all dem Lärm, dem Chaos, den Imbissständen, den Trägern mit ihren Handkarren, die auf Arbeit warten.
Juan hat sein Hemd gefunden und ich habe genug von dem Chaos. Wir nehmen ein Taxi und fahren in die City. Ich habe da ein schönes italienisches Restaurant gefunden. Dort lassen wir uns einen Teller Spaghetti schmecken und dann fährt mich ein UBER zurück.
In der City um den Plaza St. Martin und in Miraflores gibt es übrigens seit gestern vermehrt Manifestationen. Die Lage in Lima ist gespannt, in 9 Tagen hat das Land keine Regierung mehr, denn Pedro Castillo, für den mehr Stimmen gezählt wurden, wurde noch nicht bestätigt. Man spricht von Betrug. Aus den ländlichen Gegenden bekam Keiko Fujimori kaum Stimmen, während sie in der Hauptstadt die Wahl gewonnen hat. Es liegt Spannung in der Luft. Niemand spricht darüber, aber jeder weiss es. Auf den Plätzen sind die Brunnen und Statuen noch immer eingerüstet und verhüllt.
Es könnte sich also noch etwas anbahnen. Ich bin froh, dass ich bei Einbruch der Dunkelheit meistens zu Hause bin. In meinem Appartment ausserhalb der Innenstadt mit Rezeption und Sicherheitsleuten fühle ich mich sehr sicher.
Ich habe übrigens ein paar Videos zum heutigen Tag auf meiner persönlichen Seite gepostet, da hier keine Videos möglich sind.
www.bison.ch
Aufbruch: | 20.06.2021 |
Dauer: | 7 Monate |
Heimkehr: | 29.01.2022 |
Kolumbien
Argentinien