Neustart
Der beste Pisco
Sonntagmorgen. Ein Blick hinauf zum Himmel zeigt mir, dass auch heute wohl kaum viel Sonne zu erwarten ist.
Also mache ich es mir im Bett noch einmal bequem und zelebriere mein normales Sonntag-Morgenprogramm: Ich höre die Talksendung 'Persönlich' auf DRS1. Narürlich mich 7-stündiger Verspätung wegen der Zeitverschiebung.
Danach bin ich bereit für einen Sonntagsspaziergang.
Trotz Sonntag ist heute die Putzequipe meiner Wohnanlage ausgerückt. Zwischen den beiden Häusern ist ein Mann mit Schaufel und Besen unterwegs um auch wirklich das letzte Stäubchen zu entfernen und die Treppe beim Eingang wird von zwei Frauen regelrecht geschruppt.
Der Himmel zeigt sich grau in grau und am Horizont vermischt sich das Meer mit dem Himmel. Also halte ich mich diesmal nicht so sehr mit der Aussicht auf das Meer auf, sondern befasse mich mit den Häusern auf der linken Seite der Strasse. Ich nehme mir vor mit Blumenbildern den grauen Tag etwas aufzuheitern. Das ist gar nicht so einfach, denn immerhin ist es hier Winter - mit feuchtkühlen 17 Grad.
Ich muss schon genau hinsehen, damit ich sie entdecke. Es gibt nur einzelne Blüten. Seien es an Bäumen, Sträuchern oder in einzelnen Rabatten. Sogar einen winzigen Schmetterling, der sich wohl in der Jahreszeit verirrt hat, entdecke ich an noch winzigeren Blüten eines niedrigen Baumes.
Lima ist eine Stadt, die nie fertig gebaut ist. Damit meine ich nicht die Neubauten, die Hochhäuser, die überall entstehen, sondern vor allem die Häuser, die schon längst stehen, aber nie fertig werden. Es ist überall noch Platz nach oben, es können weitere Zimmer aufgemauert werden, ganze Stockwerke dazu kommen. Wie man in diesen Häusern wohnen kann, kann ich mir kaum vorstellen. Bewohnt sind sie, das zeigt die Wäscheleine, die ich zwischen den Ziegelmäuern entdecken kann.
Zum ersten Mal sehe ich heute Spielgeräte, die von den Kindern benutzt werden dürfen. Zwar sind noch immer einige mit Plastikbändern versperrt, aber die meisten sind heute von Kindern belagert.
Überhaupt fällt mir auf, wie viele Menschen heute unterwegs sind. Immer wieder werde ich überholt von Joggern, von Fahrrädern, für die es fast auf der ganzen Strecke eigene Fahrradwege gibt. Je mehr ich mich der Stadt nähere, umso zahlreicher werden die Fahrräder. Ja es gibt sogar einen kleinen Markt bei dem man alles kaufen kann, was man zum Biken braucht. Helme, Shirts, Handschuhe, Schuhe und jedes denkbare Zubehör. Natürlich kann man auch Fahrräder mieten.
In San Isidro, das als vornehmes Wohnviertel gilt, ist eine ganze Avenida für die Autos gesperrt und an anderen Strassen gibt es grosszügig eingerichtete temporäre Velostreifen. Was ist in der Stadt los heute?
Ich sende eine Nachricht an Juan: Was ist heute für ein Tag? Tag des Fahrrades?
Juan ist am Arbeiten, aber die Antwort kommt prompt. Ein ganz gewöhnlicher Sonntag. Das ist normal so. Es sind viele Strassen heute nur für Fahrräder offen.
Jetzt verstehe ich, warum wir am letzten Sonntag so problemlos durch die Stadt fahren konnten. Es gab kaum Verkehr und den abgesperrten Avenidas sind wir natürlich ausgewichen, da sich Juan bestens auskennt.
Heute scheint die ganze Stadt auf Beinen oder Rädern unterwegs zu sein. Auch die Trainingsgeräte, die es überall in den Parks gibt, werden rege benutzt. Ich komme durch die gleichen Parkanlagen, wie schon letzte Woche, benutze die gleichen Wege und komme auch wieder auf die kurze Strecke, die extra aufgeteilt ist für Fahrräder und Fussgänger. Für die Fussgänger gibt es hier sogar einen Tartanbelag.
Ich bin schon wieder weit gekommen und langsam sehne ich mich nach einem Kaffee. Zum Glück ist das kleine Cafe mit der Aussicht hinunter auf das Meer auch heute offen und weil ich inzwischen Heisshunger habe, bestelle ich zu meinem Cappuccino eine Schokoladentorte.
Sie ist gross, süss und so sündhaft schokoladig, dass sie mir Mittag- und Nachtessen ersetzt und ich heute bestimmt nichts mehr essen muss.
Nach meiner langen Pause und dem feinen Dessert habe ich etwas Mühe, mich noch einmal auf den Weg zu machen. Doch ich habe mir vorgenommen, die Ausgrabung der Huerta Pucllana zu erreichen. Das sind nur noch knapp 2 km. Ich verlasse die Küste, komme durch eine lange Parkanlage. Es ist spannend zu sehen, wie die Stadt sich entwickelt. Neben hohen Appartmenthäuser haben kleine Einfamilienhäuser überlebt. Jedes Haus hat seinen kleinen Vorhof, mit Gittertor. Manchmal wird dahinter ein Auto parkiert, manchmal gibt es einen kleinen Garten. Überhaupt fällt mir auf, wieviele Grünflächen und wieviele Bäume es in der Stadt gibt. Sie wachsen in den Grünflächen, aus den Verbundsteinen der Trottoirs, in den Gärten, in den Parks.
Ausserdem fällt mir auf, wie oft ich auf den Strassen von Lima gegrüsst werde. Trotz Maske bekomme ich oft ein buenos dias, wenn ich jemandem begegne. Auch wenn man sich andererseits oft aus dem Weg geht, eine direkte Begegnung vermeidet. Das bringt mich auf den Gedanken, dass auch eine Millionenstadt wie Lima letztlich nur eine Ansammlung von kleinen Dörfern ist. Menschen wohnen überall in ihren kleinen Welten.
Inzwischen spüre ich meine Beine, meine Füsse sind müde. Zum Glück sehe ich jetzt den grauen Hügel zwischen den Häusern und kurz darauf stehe ich davor. Vor der riesigen Anlage der Huerta Pucllana. Es ist eine faszinierende Struktur, von der ich nicht genau weiss, was sie bedeutet, wer sie gebaut und was hier einmal gestanden hat. Es kommt mir nur immer vor, wie ein riesiges versteinertes oder versandetes Büchergestell, eine antike Bibliothek.
Wie angenommen ist das Museum geschlossen. Das ist mir aber inzwischen egal, denn ich wäre im Moment nicht motiviert für einen Rundgang. Werde zu einem anderen Zeitpunkt noch einmal herkommen. Das Museum ist taglich geöffnet, ausser Sonntag.
Zum Glück ist das Restaurant offen. Es ist ein luftiges, zur Ausgrabung hin offenes Restaurant mit einer grossen Terrasse. Essen mag ich allerdings nicht, im Moment brauche ich nur ein Glas Wasser und den Blick auf die Anlage. Faszinierend, wie die aufgestellten Backsteine wirken. Zeremonien seien hier abgehalten worden, habe ich irgendwo gelesen. Und die Stadtführerin, die unserer Gruppe damals die Anlage vorgestellt - allerdings auch ohne einen detailierten Besuch - hatte, erzählte, dass sollche Strukturen noch an vielen Orten in Lima zu finden wären. Wenn man in Lima bauen will, kann man nur hoffen, dass im Baugrund keine antiken Stukturen gefunden werden, sonst kann sich ein Bau um Jahre verzögern oder sogar komplett verunmöglichen.
Im Restaurant habe ich vor Jahren einmal an der Bar einen unvergesslichen Abend verbracht. Mit Ruedi, einem Freund, der mich damals begleitete, feierten wir den Abschied nach drei eindrücklichen Wochen in Peru. Und dabei lernten wir Enrik kennen, der Barkeeper, der die besten Pisco-Drinks mischte. Ob er noch hier ist? Ich hatte ihn ein Jahr später noch einmal mit zwei Freunden besucht, aber jetzt, nach all den Schwierigkeiten, nachdem das Restaurant wie fast alle anderen auch, über Monate geschlossen war. Ob er noch immer hier arbeitet?
Ich erkundige mich an der Bar, brauche aber gar nicht lange zu fragen, denn Enrik erkennt mich auf Anhieb. Er hat zwar meinen Namen nicht mehr präsent, weiss aber sofort wer ich bin. "Du hattest doch damals dieses Hotel oder sowas im Dschungel" lacht er. Ich bin sprachlos. Und das hinter der Maske. Natürlich mischt er mir einen fantastischen Drink mit Fruchtsäften und Pisco und ich versuche anhand meines Facebook-Archivs herauszufinden, wann ich hier war. 2015 war das erse Mal." Das war im Januar", weiss Enrik und er hat Recht, das zweite mal war im April 2016. Seither war ich nie mehr hier.
Nach dieser überraschenden Begegnung lasse ich mich von UBER nach Hause fahren. Aber ich komme bestimmt noch einmal zur Huaca Pucllana.
Mein Handy zeigt elf gelaufene Kilometer an. Ich bin ganz zufrieden.
Aufbruch: | 20.06.2021 |
Dauer: | 7 Monate |
Heimkehr: | 29.01.2022 |
Kolumbien
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