Neustart
Castillo Chancay
Das war also mein Geburtstag in der Fremde. In den letzten Jahren hatte ich ihn jeweils mit vielen Freunden zu Hause im Garten mit einem grossen Sommerfest gefeiert, jetzt bin ich in Lima und kenne niemanden hier ausser Juan. Dafür aber fanden sich unzählige Freunde aus der ganzen Welt virtuell zum Gratulieren ein. Das sind ganz kleine Begegnungen, nur ein kurzer Moment, wenn der andere mir schreibt und wenn ich es lese. Nur ein Augenblick und trotzdem kann er so viel bedeuten. Dass Menschen von all meinen Reisen sich an mich erinnern, berührt mich jedes Mal.
Ich will es an dieser Stelle wieder einmal sagen, wieviel es mir bedeutet, dass ihr hier seid. Jedes Like im Facebook auf einen meiner Post, jeder Anruf meines WhatsApp-Profils bedeutet einen kleinen Gedanken, eine kleine Verbindung, die ich brauche. Natürlich bin ich allein unterwegs, aber wegen diesen kleinen Begegnungen fühle ich mich nie allein, sondern sehr verbunden. Verbunden mit der halben Welt - oder wenigstens einem Teil davon.
Wenn dann am Geburtstag zusätzlich noch die Gratulationen eintreffen, gehe ich in Gedanken zurück. Zurück nach Hause, ins Ennigen, nach Ennenda, in die Familie, zu Freunden, Zurück nach Irland, England, Vietnam, Laos, Kambodscha, Myanmar, Marokko, Argentinien, Guatemala, Bolivien, Frankreich, Deutschland, Chile, Österreich, Paraguay. Meine Gedanken gehen dann auf Reisen, kreuz und quer durch Länder und Jahre. Meine Aufzählung ist völlig willkürlich und überhaupt nicht wertend und wahrscheinlich auch gar nicht vollständig.
Ich möchte mich an dieser Stelle einfach wieder einmal für all die vielen schönen Erinnerungen bedanken, die ich mit so vielen Menschen teilen darf. Freundschaft, und sei sie auch noch so flüchtig, bedeutet mir alles. Die Begegnungen mit Menschen ist die Essenz meines Lebens.
Gefeiert habe ich den Tag dann im vornehmen Restaurant Huerta Pucllana, das ich mir für diesen Tag aufgespart hatte. Mit Enrique, der sich wieder einmal beim Pisco mixen übertroffen hat und natürlich mit Juan, der mir seit ich hier angekommen bin, Lima mit allen Facetten zeigt. Ohne ihn wäre der Aufenthalt in Lima nur halb so spannend.
Nachdem ich den folgenden Tag dann ausschliesslich mit Lesen und Schlafen verbracht habe, ist heute wieder ein Ausflug angesagt.
Wir fahren Richtung Norden nach Chancay. Ich habe bewust nicht gegoogelt, was es mit diesem Ort auf sich hat, lasse mich überraschen. Was dann auch völlig funktioniert.
Ich hatte nur nachgesehen, wo die Stadt liegt. 2 Stunden, meinte Juan, auch wenn das auf meinem Maps.me viel weniger anzeigte. "Du wirst schon sehen", meint Juan, "dein Handy hat keine Ahnung von den Strassenverhältnissen".
Und so war es dann auch. Bis wir nur durch den Verkehr rund um den Flugplatz waren. Doch da kennt sich Juan ja bestens aus, Das ist seine tägliche Arbeitsstrecke. Und es gibt keine andere Route.
Bald waren wir in der grauen Vorstadt. Auch hier das gleiche Bild wie überall. Armselige Hütten auf beiden Strassenseiten. Hütten, die sich irgendwie zu einem Ort zusammenraufen, die sich bis hinauf auf die steinigen und staubigen Hügel erstrecken. Und auch hier, je höher je ärmer.
Wir fahren auf der vierspurigen Avenida Richtung Norden. An einer Stelle ist unsere komplette Fahrbahn weggebrochen, wir werden auf die Gegenfahrbahn umgeleitet. "Wie lange dauert diese Umfahrung bereits?" will ich wissen. Genau weiss es Juan auch nicht, aber gegen vier Jahre wird es bestimmt sein. "Es ist hier alles Sand hier. An dieser Stelle ist der Sand eingebrochen, das kann man nicht einfach so wieder aufschütten."
Also hat man hier ein vierjähriges Provisorium, eine Umleitung, die den gesamten Verkehr aufhält. Doch schnell fährt man hier eh nicht, die Limite sind 60 kmh.
Bald kommen wir an kleinen Verkaufsständen am Strassenrand vorbei. Riesige Erdbeeren werden angeboten und natürlich halten wir an, kaufen uns eine Zwischenverpflegung.
Aber eigentlich brauche ich jetzt dringend einen Cappuccino. Restaurants, in denen man gemütlich einkehren könnte, gibt es natürlich nicht, aber an einer Tankstelle kehren wir dann doch ein und lassen uns einen Kaffee schmecken. Juan hat sich inzwischen auch an Cappuccino gewöhnt. Ist wahrscheinlich nicht sein Costumbre (Gewohnheit), am Morgen einen Kaffee zu trinken
Frisch gestärkt fahren wir weiter. Der Himmel ist heute stark bedeckt, die Wolken hängen tief. Und die Strasse steigt langsam an, wir kommen den Wolken immer näher, respektive, wir tauchen ein. Es wird dunkel, die Sicht verschwindet jetzt komplett. Wir sind auf 400 m und fahren mit Pannenlicht im Schritttempo. Zwei Striche der Trennlinie zur zweiten Spur kann man noch knapp sehen. Zum Glück ist die Strasse vierspurig, und der Seitenstreifen gut erkennbar. Und man kann erkennen, dass die graue Steinwüste hier ergrünt. Winzige Pflanzen überziehen die Sandberge rechts und links. Wenn ich das abgedunkelte Fenster runter lasse, kann ich sie sehen. Es ist nassfeucht.
Sobald wir wieder etwas tiefer kommen, verschwindet das Grün, die Sicht wird leicht besser, das heisst man kann jetzt 4 Striche erkennen und auf den Seiten tauchen vereinzelt Häuser auf. Häuser in dieser Einöde, wo während der Hälfte des Jahres Nebel herrscht. Nur im Sommer, das heisst Dezember/Januar scheint hier die Sonne. Dann aber brütend heiss. Wie um alles in der Welt kann man hier wohnen, leben, seine Kinder aufziehen? Es bedrückt mich, ich kann mir so ein Leben nicht vorstellen.
Es sind zwei Anhöhen von 400 m die wir passieren. Beide Male herrscht oben dicker Nebel. Ich spotte, rühme die wunderbare Aussicht, die man hier eigentlich haben müsste. Hinunter aufs Meer. Doch auch die gibt es nur zu begrenzten Zeiten im Jahr.
Sobald wir tiefer sind, breiten sich wieder Pflanzungen aus. Und Siedlungen. Kann man das Städte nennen?
Nach zwei Stunden haben wir unser Ziel erreicht, Juan parkiert neben einer Mauer, die mir wie aus einer anderen Zeit erscheint, oder aus einer anderen Welt?
Schon die Sicht vom Parkplatz ist skurril. Ist das eine Ruine? oder wird das eben erst neu aufgebaut? Was ist das? dieses Gebäude mit den grossen Bogenfenstern, mit den Terrassen auf allen Stufen, dem Pool, den gedeckten Tischen weiter unten? Und das Ganze eingebettet in eine Baustelle.
Am Tor weist man uns darauf hin, dass man hier zwei Masken tragen muss. Dass die Temperatur gemessen wird und die Hände mit Alkohol besprayt werden, nehme ich schon fast nicht mehr zur Kenntnis. Nur meine Hände spüren es mit der Zeit, die Haut wird spröde, fängt an, sich zu schälen. Aber vielleicht bin ich ja eine Schlange und bei den Händen fängt es an...
Gleich hinter dem Tor begrüsst uns ein Tempelritter. Im Eingangsbereich steht ein Modell von Machu Picchu. Daneben ein Inka. Allerdings nur so lange, bis alle Umstehenden ein paar Fotos gemacht haben, dann marschiert er ab. Er wird in einer halben Stunde wieder kommen und eine kurze Zeremonie durchführen.
Es sind ziemlich viele Leute hier. Narürlich fast ausschliesslich Peruaner, Ausländer kann ich keine erkennen. Das Schloss ist ein Ausflugsort für die ganze Familie. Wir schreiben uns für eine Führung ein, müssen dazu eine gute Stunde warten, denn sie sind gut besucht. Wir dürfen aber inzwischen die Anlage auf eigene Faust erkunden.
Kurz darauf stehen wir vor dem Trevi-Brunnen von Rom. Und dann steht da eine riesige Sandburg mit einem Schloss und einem riesigen Drachen daneben. Wie man so etwas nur herstellen kann? Erbaut aus Sand und Wasser. Ich kann es kaum glauben, dass da nicht noch andere Zutaten vermischt wurden. Die Details sind so genau gestaltet, die Zinnen und Ziegel, die Zähne, die Schuppen des Drachen. Ich komme kaum aus dem Staunen, doch uns zieht es weiter in den Schlosshof.
Schon bald hat mich die Anlage gefangen. Diese Mischung von Dornröschenschloss, römischer Zitadelle, spanischer Burg und indischem Palast. Auch ein chinesischer Tempel hat hier seine Spuren hinterlassen.
Irgendwo treffen wir auf eine Fotosession mit einer hübschen jungen Frau. Ob das Werbeaufnahmen sind? Doch wofür. Ich frage nach.
15. Geburtstag. Klar, hätte ich sehen müssen. Nur, das junge Mädchen sieht viel erwachsener aus, als 15. Ihr Kleid ist perfekt abgestimmt auf die Kulisse, ihre Mimik erpropt, die Haare sitzen, das Makeup gekonnt gestylt. Alles ist absolut professionel. Begleitet wird sie von einem Fotografen und einer Freundin. Wir begegnen der Gruppe noch ein paarmal an den verschiedensten Stellen.
Wir schlendern durch die Anlage und zuerst glaube ich an eine Anhäufung europäischer Kultur. Abu Simbal ist da, die Pyramiden von Agypten, Petra in Jordanien, Heidelberg mit dem Brunnen auf dem Hauptplatz, Camelot und immer wieder Rom. Doch dann entdecken wir den fantastischen Palast von Indien mit der echten Inneneinrichtung, die wir später mit der Führung betreten dürfen, die Buddhafiguren auf einem Sims, das Piratenschiff mit dem Klabautermann, der einen Besucher zum Fechtkampf auffordert. Der Feldherr Alexander, der eine Besucherin köpfen will, den Grand Canyon, die Mayatempel von Guatemala und Mexiko.
Das Ganze ist eine Mischung von verschiedenen Kulturen aus der ganzen Welt, Theater, Show, Unterhaltung, Vergnügen.
Dazwischen gibt es ein paar Verpflegungsstände, einen arabischen Basar mit all den Souvenirständen, ein paar grössere Restaurants und verschiedenen Pools, die man bei anderen Temperaturen benutzen dürfte. Ausserdem ist es ein Hotel.
Erbaut wurde das Schloss 1920 von einer reichen Witwe zu Ehren ihres verstorbenen Mannes. Nachdem es lange Jahre unbewohnt blieb, wurde es vor ein paar Jahren wieder neu übernommen und wird seither laufend erweitert. Ein Vergnügungspark, ein Ort, an dem man mit der ganzen Familie einen anregenden Tag verbringen kann.
In einem der Restaurants essen wir ein typisches peruanisches Gericht. Chanco al Palo, Spanferkel mit kleinen harten Kartoffeln, die allerdings lange gekocht und jetzt in einer würzigen Sosse serviert werden. Ein typisches Gericht aus dem Norden Perus.
Nach einem letzten Blick hinaus auf das Meer, auf die Felsen, die vor der Küste aus dem Wasser ragen in Richtung des chilenischen Kriegsschiffes, das hier vor Jahren versenkt wurde, kehren wir zurück zum Parkplatz.
Wir fahren zurück über die jetzt noch dunkleren Berge, denn in der einsetzenden Dunkelheit wird die Fahrt noch viel schwieriger. Doch wir verkürzen uns die Zeit mit dem Necken, wer das bessere Navi hat. "Wir werden um 19.00 vor deinem Haus eintreffen", verspricht mir Juan. Die Rückfahrt dauert drei Stunden, denn der Verkehr in Lima um diese Zeit ist noch stärker als am Vormittag. Und er hat Recht. Die Uhr zeigt 19.05 Uhr, als wir auf dem Parkplatz einschwenken. Ich bin müde und will eigentlich nur noch schlafen. Zuerst muss ich aber noch die Fotoausbeute auf den Laptop übertragen.
Ich bin noch am Aussortieren der Fotos, als ich von Juan eine Nachricht bekomme. Er schickt mir ein Selfie mit Kravatte und weissem Hemd. Ich fasse es nicht, nach diesem vollen Tag, der ihm am Steuer alle Konzentration abverlangt hat, ist er zum Flugplatz zurück gekehrt. Vielleicht gibt es heute noch eine Fahrt.
Aufbruch: | 20.06.2021 |
Dauer: | 7 Monate |
Heimkehr: | 29.01.2022 |
Kolumbien
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