Neustart
Erdweg
Ich will weiter, Popayan war nur Zwischenstation. Allerdings ein überraschend schöner Ort mit seinen weissen niedrigen Häusern. Viele Häuser sind nur ebenerdig, wenige haben einen zweiten Stock. Und wahrscheinlich gibt es überall schöne Innenhöfe.
Mein nächstes Ziel liegt nur gut 120 km entfernt, allerdings geht es über die Berge, durch einen Nationalpark. Mein Navi zeigt mir gut drei Stunden an, bei der Busgesellschaft verspricht man mir, dass ich in fünf Stunden dort sein werde.
Bin gespannt, immerhin zeigt mir mein Maps.me drei Ausrufezeichen an. Das heisst Erdweg.
Ein Taxi hat mich zur Busstation gebracht. Gebucht habe ich nicht, ich verlasse mich darauf, dass es eine Busverbindung gibt. Es gibt mindestens 20 Schalter von verschiedenen Busbetrieben, aber die meistein scheinen nach Cali zu fahren. Jedenfalls rufen die Angestellten hinter den Schaltern laufhals: Cali, Cali! Und ausserdem werde ich von verschiedenen Personen in der Halle darauf angesprochen: "Cali?" "Nein, San Agustin!"
Damit werde ich zu einem anderen Schalter geschickt und nach dem dritten Mal bin ich dann auch tatsächlich bei einer Gesellschaft, die nach San Agustin fährt. Innert fünf Stunden, Abfahrt in einer Stunde. Perfekt.
Ich sitze also in der Wartehalle, sehe den verschiedenen Bussen zu, den Leuten, die einsteigen. Den Leuten die warten, dem kleinen Jungen, der seelenruhig auf dem Buden liegt und auf dem Handy seiner Mutter herumtippt. Bis sie ihn holt, weil der Bus eingetroffen ist. Die Mutter mir gegenüber, die mit ihren beiden Kindern und viel Gepäck reist. Während das Mädchen beim Gepäck bleibt, ist sie damit beschäftigt, den Kleinen von allen Seiten der Halle zurück zu holen. Alles will er sehen, überall nimmt er Kontakt mit den Leuten auf.
Es ist ein ständiges Kommen und Gehen. Die meisten Leute haben sich noch mit Proviant versorgt, in der Schalterhalle gibt es jede Menge Kioske, die Chips, Süssigkeiten und Getränke verkaufen. Ich hab das Glück, dass ich das nicht brauche. Ich kann auf all diese Zwischenverpflegungen gut verzichten. Habe immer eine Flasche Wasser dabei, das genügt.
Es ist wieder ein kleiner Bus, der nach San Agustin fährt. Ich habe einen Fensterplatz in der dritten Reihe und bleibe allein. Kein Nachbar. Also eine sehr bequeme Fahrt.
Der Chauffeur bleibt vorne in seiner Kabine, ohne Kontakt zu seinen Reisenden. Die Fenster sind wie immer stark abgedunkelt und die Sicht nach vorne schlecht wegen der hohen Sitzlehnen. Ich stelle mich also auf eine Lesefahrt ein.
Bis wir die Stadt verlassen haben, geht das ganz gut. Doch dann merke ich plötzlich, dass sich mein Magen bemerkbar macht. Ich sehe hinaus. Wir sind auf einer sehr gut ausgebauten Strasse unterwegs, die kurvenreich in die Höhe führt. Der Chauffeur scheint die Strecke bestens zu kennen, jedenfalls ist er schwungvoll unterwegs. Wird wohl besser sein, wenn ich etwas mehr hinaus sehe und mich nicht so sehr auf mein Buch konzentriere. Mit dieser Fahrweise kommen wir ganz gut voran, meinen Magen kann ich wieder beruhigen, denn da ist kaum was da, das Frühstück ist längst verdaut.
In einem kleinen Dorf versucht sich einer der Passagiere in der ersten Reihe bemerkbar zu machen. Er klopft an die Scheibe zur Fahrerkabine, will anscheinend anhalten. Erst einen Kilometer nach dem Dorf hält der Bus an. Der Fahrer schaut fragend nach hinten. Der Passagier verwirft die Arme, er wollte im Dorf anhalten. Kopfschüttelnd dreht sich der Fahrer um, fährt weiter. Ich weiss nicht, worum es dabei ging, jedenfalls gibt es jetzt erst recht keinen Halt mehr.
Ich sehe nach, wo wir sind und merke, dass wir das erste Ausrufezeichen, das erste Stück Erdweg soeben hinter uns gelassen haben. Es scheint, dass die Baustellen, die wir in der letzten Viertelstunde passiert haben, sich dem Thema angenommen haben.
Doch unvermittelt wird die rasante Fahrt gestoppt. Die betonierte Strasse ist zu Ende, Erdweg. Es rummpelt, es schüttelt, der ganze Bus scheint ein Schüttelbecher zu sein. Ich kann es kaum fassen, wir fahren über und durch Schlaglöcher. Zwar versucht der Chauffeur schlingernd den grössten Löchern auszuweichen, aber das ist gar nicht möglich. Inzwischen hat es auch noch angefangen zu regnen und die Löcher füllen sich mit Wasser.
Ich erwarte, dass die Erdstrasse jederzeit zu Ende ist, aber das scheint kein Ende zu nehmen. Und jetzt kommt uns auch noch ein Lastwagen entgegen. Und die Strasse ist schmal. Kaum zu glauben, aber wir fahren einfach vorbei. Vorbei am schaukelnen Lastwagen, vorbei am Minibus, der uns entgegen kommt. Und den Lastwagen, der kurz danach vor uns auftaucht, überholen wir einfach. Manchmal stehen wir fast quer zur Strasse, aber es geht immer weiter. Die Strasse ist schmal, an den Rändern hat es Strassengräben, die sich langsam mit Wasser füllen, aber wir überholen und kreuzen, als ob wir auf einer normalen Landstrsse wären. Dabei sind wir auf gut 3000 m Höhe. Nach und nach haben wir uns über all die Kurven da hinauf geschraubt.
Die Vegetation ist üppig, dichtes Unterholz mit riesigen Farnen, hohe Bäume mit langen grauen Bärten oder komplett überwachsen von Schlingpflanzen. Wir fahren wie in einem Kanal. Meistens gibt es auf beiden Seiten Böschungen. Einmal kann ich ein grosses Kartoffelfeld erkennen, mit blühenden Pflanzen. Doch das meiste ist Dschungel.
Die Sicht ist schlecht wegen dem Regen und wegen den verdunkelten Fenstern. Ich versuche trotzdem ein paarmal zu fotografieren, kann aber die Kamera kaum eine Sekunde ruhig halten. Ich werde im Sitz herumgeschüttelt, versuche mich so gut als möglich mit den Beinen beim Vordersitz zu verkeilen. Andere Fahrgäste kann ich keine sehen, sie sind hinter den hohen Sitzlehnen versteckt.
Nur einmal kommt ein Junge von hinten und holt sich zwei von den weissen Plastiksäcken, die schon die ganze Zeit über mir baumeln. Da wird sich wohl auch der Magen gemeldet haben.
Ich habe die Zeit verloren, die wir schon unterwegs sind. Die Strecke wird nicht kürzer, wenn ich auf meine App sehe und immer noch zeigt es zwei Stunden an und das seit einer Stunde. Es scheint überhaupt nie aufzuhören.
Ich kann es überhaupt nicht fassen, dass man diese Strasse in diesem Zustand lässt, denn es scheint sich um eine wichtige Verbingung zu handeln.
Inzwischen hat es wenigstens aufgehört zu regnen, ich kann ein Stück blauen Himmel sehen. Oder täuscht das vielleicht durch die verdunkelten Scheiben. Einmal, als die Bäume sich kurz lichten, sehe ich sogar weit weg hinter einer Hochebene Berge auftauchen. Wir sind immer noch auf knapp 3000 Metern. Auch wenn ich immer wieder meine, das es hinuntergeht, es geht auch gleich wieder hinauf. Eine ungeheure Strapaze für die Wagen, die riesigen Lastwagen, die Touristenbusse und die wenigen PWs, die wir antreffen. Einer steht am Strassenrand. Aufgebockt, scheint ein Radwechsel zu sein. Kurz bleibt unser Bus stehen, der Chauffeur redet mit einem Mann, doch dann geht es weiter. Es scheint, dass der zweite PW, der ein paar Meter weiter vorne steht, Hilfe leistet.
Wir überholen noch einen Konvoi von drei Lastwagen und kreuzen mit einem Viehtransporter, wo ich zwischen den Brettern ein paar Rinder stehen sehe. Auch für die muss es eine Tortur sein.
Und dann ist plötzlich Ruhe, wir sind zurück auf der aspaltierte Piste. Doch jetzt gibt der Chauffeur erst recht Gas. Es scheint, als ob er alles aufholen will, was wir verpasst haben. Schwungvoll nimmt er die Kurven wieder, fast wünsche ich mir die Schüttelpiste zurück.
Ein abrupter Stopp, eine Schwelle auf der Strasse. Wenigstens weiss er, wo diese Abbremser sind. Und kurz darauf stehen wir still. Da steht doch tatsächlich ein Restaurant. Ganz allein auf weiter Strecke, ein einfaches Gebäude.
Der Chauffeur steigt aus, kommt um den Bus und öffnet die Türe: „Etwas essen und Toilette“. Mehr sagt er nicht, keine Zeitangabe, keine Erklärung. Etwas zittrig in den Knien steige ich aus.
Der Regen hat tatsächlich aufgehört. Über uns wölbt sich ein blauer Himmer, überzogen mit weissen Wolken. Die breite Strasse mit der doppelten Mittellinie, die höchstens die Mitte der Strasse anzeigen, aber keinesfalls als Sicherheitslinie zu deuten ist, ist trocken und liegt unschuldig da.
Ich frage bei der Wirtin nach einer Tasse Kaffee. "Mit Brot und Käse?" fragt sie zurück. Ich entscheide, dass das keine schlechte Idee ist, denn seit dem Frühstück sind Stunden vergangen, es ist schon nach fünf Uhr.
"Un cafe completo", ruft sie in die Küche und kommt schon bald mit einer Schale dampfendem schwarzen Kaffee und einem Stück Frischkäse mit einem Brötchen zurück. Das tut tatsächlich sehr gut. Auch wenn der Kaffee mit reichlich Zucker angereichert ist. Gibt Energie.
Schwungvoll geht es danach auf der gut ausgebauten Strasse weiter. Über weit ausholende Kurven verlieren wir jetzt rasch an Höhe. Es wird jetzt ganz schnell dunkel und irgendwo in einem Dorf bleiben wir wieder stehen es steigen ein paar Passagiere zu.
Carlos, stellt sich der Mann vor, der neben mir Platz genommen hat. Er ist mit seiner Frau Ruth und der kleinen Tochter Wendy unterwegs. Original Mexikaner und sie Kolumbianerin, wohnen sie in Toronto. Ganz automatisch spricht er englisch mit mir und ich bin etwas baff, komme dann aber ganz gut zurecht.
Lang ist die Fahrt jetzt nicht mehr. Schon wieder ein unvermittelter Halt. Sind wir angekommen? Nein, wir müssen jetzt aussteigen, der Bus fährt nicht bis San Agustin, ein Taxi wird uns abholen, der Bus fährt weiter.
So stehe ich also unerwartet auf der dunklen Strasse mit meinen neuen Reisegefährten. Und in den paar Minuten bis der Van kommt, haben sie mir ihr halbes Leben erzählt. Die Frau hat von ihrem Vater, den sie jahrelang nicht mehr gesehen hat, ein Stück Land geschenkt bekommen. Jetzt sind sie auf dem Weg zu ihm. Auf dem Land wollen sie ein Haus bauen, denn Carlos ist Architekt. Unglaublich, was man innert so kürzer Zeit erfahren kann. Die beiden laden mich ein, bei ihnen zu wohnen. Egal ob in Toronto oder in Mexiko. Im Taxi tauschen wir Nummern aus.
Bald erreichen wir San Agustin. Der Taxifahrer stellt sich als Guide vor und will natürlich gleich noch eine Tour für morgen verkaufen. Doch ich mag mich jetzt zu gar nichts entscheiden, will erst einmal ankommen, bin zu müde für Entscheidungen und Carlos und Ruth wollen zu ihrer Familie, die sie lange nicht mehr gesehen haben.
Kurz darauf bringt er mich zur Finca La Moca, wo ich mich für die nächsten Nächte angemeldet habe. Das Hotel ist etwas ausserhalb des Dorfes, ich werde also ein paar ruhige Tage einschalten. Mein Zimmer lädt jedenfalls dazu ein. Es ist ein Bungalow für mich allein.
Zum Nachtessen gehe ich ins eigene Restaurant und bestelle eine Pizza. Zu meiner Überraschung entdecke ich auf der Speisekarte neben den Pizzen und einem Thai-Curry auch eine Rösti mit Spiegelei. Das muss doch eine Bedeutung haben.
Inzwischen weiss ich es, das Hotel gehört einem Schweizer. Von daher die Rösti. Ich merke, dass ich die Ruhe ganz gut brauchen kann, und habe am folgenden Tag überhaupt nichts unternommen, obwohl doch San Agustin einiges zu bieten hätte. Aber im Moment geniesse ich mein schönes Bungalow, den Garten mit den vielfältigen Blumen und die Hängematte vor meinem Haus.
Ferien eben.
Und übrigens, das Internet ist extrem langsam. Ich hoffe, dass ich dieses Kapitel jetzt frei schalten kann, habe lange daran geübt. Geduld am Computer ist nicht so meine Sache.
Und dann werde ich noch versuchen, ein Video von der Fahrt auf meine Bison-Seite zu stellen. Bin aber nicht sicher, ob das gelingen wird.
Aufbruch: | 20.06.2021 |
Dauer: | 7 Monate |
Heimkehr: | 29.01.2022 |
Kolumbien
Argentinien