Neustart

Reisezeit: Juni 2021 - Januar 2022  |  von Beatrice Feldbauer

Spaziergänge

Ich schlafe lange aus in diesen Tagen. Habe keine Pläne für den Tag, gehe irgendwann hinaus, spaziere durch die Fussgängerzone oder durch andere Strassen, meist ganz ohne Ziel.

Heute aber habe ich ein Ziel. Gestern hat mir Juan erklärt, was mir vor ein paar Tagen, auf dem Weg zum Plaza San Martin gefehlt hatte, welche Fassade ich gesucht hatte. Die kleine Kirche La Recoleta beim französischen Platz wurde vor ein paar Monaten neu gestrichen. Sie ist nicht mehr blau, sondern jetzt weiss. Genau das war es. Zwar hatte ich die Kirche nie richtig beachtet, war noch nie zu Fuss daran vorbei gekommen, aber immer, wenn ich mit dem Taxi daran vorbei fuhr, ist mir die schöne blaue Fassade aufgefallen. Irgendwann wollte ich sie fotografieren. Gemacht habe ich es nie, es gibt ja überall so viele andere Fotosujets. Aber gestern hat mich Juan darauf aufmerksam gemacht und jetzt bedaure ich es, die Kirche vorher nicht besser beachtet zu haben.

Heute Morgen ist mir bei einem Facebook-Freund, mit dem ich seit längerem befreundet bin, sein Titelbild aufgefallen. Das ist sie ja, das ist genau die blaue Fassade, die es jetzt nicht mehr gibt.

Und damit habe ich mein heutiges Ziel gefunden. Ich will die Kirche fotografieren. Das Foto darf ich mit der Erlaubnis des Fotografen hier veröffentlichen und ich versuche, den gleichen Winkel zu finden. Das ist sehr schwierig und ich merke dabei, wie toll dieses Foto ist. Und beim genauen Betrachten, hat nicht nur die Fassade der Kirche die Farbe geändert, auch die Häuser an der Strasse wurden inzwischen neu gestrichen und sind farblos geworden.

Eine sehr spannende Beobachtung. Da sehe ich beim Schlendern durch die Strassen jede Menge Häuser, an denen seit Jahren nichts mehr verändert wurde, aber ausgerechnet diese Häuser wurden renoviert und sind trotzdem nicht schöner geworden.

Originalfoto von Horst Duschek-Medrano (ca. 2016)

Originalfoto von Horst Duschek-Medrano (ca. 2016)

Mein kläglicher Versuch, die Foto nachzustellen. Es fehlen nicht nur die Farben, auch den richtigen Winkel hab ich nicht hinbekommen.

Mein kläglicher Versuch, die Foto nachzustellen. Es fehlen nicht nur die Farben, auch den richtigen Winkel hab ich nicht hinbekommen.

Die Kirche ist sehr hübsch und ihr Stil ist eher zierlich. Da ich jetzt schon mal da bin und sie ausserdem grad offen ist, besichtige ich sie auch innen. Vor den Stufen des Alters findet grad ein Fotoshooting statt. Zwei Buben werden fotografiert, wahrscheinlich sind sie Zwillinge und feiern einen bestimmten Geburtstag.

Der Altarraum ist ziemlich ungewöhnlich, da er keinen schweren Holzaltar hat, sondern mit blauen Tüchern ausgestaltet ist. Das gibt ihm eine Leichtigkeit und hier kommt auch das Blau wieder zum Tragen.

Der Küster steht am Tor, will jetzt schliessen, nachdem die Gruppe mit dem Fotografen die Kirche verlassen hat. Ich benutze die Gelegenheit, frage, wann die Kirche die Farbe gewechselt hätte. Das war vor ungefährt sechs Monaten, erklärt mir der Mann und auf meine Frage warum, scheint er nur gewartet zu haben. Jedenfalls erzählt er mir, dass die Kirche in ihren ursprünglichen Zustand zurück versetzt wurde. Früher war sie weiss. Und zum Beweis zeigt er mir auf seinem Handy ein altes Foto von 1954. Die Jahrzahl steht darauf und die Kirche ist eindeutig weiss, jedenfalls sehr hell. Fünf Schichten Farbe seien bei der Renovation zum Vorschein gekommen, meint er noch, fünfmal wurde die Kirche neu gestrichen. Jetzt ist sie wieder so, wie sie damals war. Wenn ich sie im Internet suche, finde ich tatsächlich sehr viele Bilder der Kirche und sie erstrahlt von hellem Himmelblau (celeste) bis zu dunklem Marineblau. Es gibt nur ganz wenige alte Fotos, auf denen sie hell ist.

Schade, sage ich zum Küster noch, bevor ich mich für seine Auskunft bedanke und mich verarbschiede. Es war eine spannende Wahrheitssuche.

Beim Weitergehen mache ich noch ein paar Bilder von Häuserreihen, bei denen wohl schon seit Jahren nichts mehr geändert wurde. Zum Teil würden sie auch eine neue Schicht Farbe vertragen, aber angesichts der Tatsache, dass sie dann ihre Farbe überhaupt verlieren könnten, ist es vielleicht besser, wenn sie so bleiben wie sie sind.

Beim Blick in Hinterhöfe und offene Tore fällt mir auf, dass hier vor allem Bücherläden sind. Alte Bücher, gebrauchte Bücher, Bücherbrokis nennen wir die in der Schweiz. Ich mag zwar nicht spanisch lesen, denn das geht mir zu lange, aber die Neugier treibt mich doch hinein.

Es ist ja doch spannend, bekannte Bücher in einer anderen Aufmachung, in einer anderen Sprache zu sehen. Sie sehen dann ganz anders aus, wenn man aber ein wenig blättert und ein paar Sätze liest, werden sie trotzdem ganz vertraut.

Mit einer Buchhändlerin komme ich ins Gespräch. Wir reden übers Lesen und über Bücher, die wir beide gelesen haben. Ich erkläre ihr, dass es mir sehr schwer fällt, spanisch zu lesen und auch für englische Bücher habe ich im Moment keine Geduld. Ausserdem bin ich seit neuestem mit meinem E-Reader unterwegs und brauche keine schweren Bücher mehr mitzuschleppen. Das kann sie verstehen. Trotzdem gibt sie mir zwei Buchtipps mit, die interessanterweise nicht von Peru, sondern von Deutschland handeln. Ihr scheinen sie besonders grossen Eindruck gemacht zu haben.

Das Deutsche Haus von Annette Hess und Der Junge der seinem Vater nach Ausschwitz folgte von Jeremy Dronfield.

Werde sie mir gelegentlich ansehen. Und einen alten Bekannten treffe ich ebenfalls bereits zum zweiten Mal auf dieser Reise. Liebe zu Zeiten der Cholera vom kolumbianischen Nobelpreisträger Gabriel García Márquez habe ich zwar vor Jahren gelesen, aber mit dem Hintergrund, dass die Geschichte in Medellin spielt, werde ich es mir noch einmal kaufen. Vielleicht zu Hause in einem Bücherbrocki.

Hier werden neuere Fotobücher angeboten

Hier werden neuere Fotobücher angeboten

Die Bücherangebote gehen von Romanen zu Erlebnisberichten, Kinderbüchern, Sachbüchern bis zu Comics und scheinen nicht sehr geordnet zu sein. Also genau richtig zum Stöbern Einzig in einem Laden beschränkt sich das Angebot auf Fotobildbände und Reisebücher. Wenn ich noch die Lodge im Dschungel hätte, würde ich hier bestimmt fündig werden, denn damals kaufte ich alles, was irgendwie mit Regenwald und Dschungel zu tun hatte, für meine kleine Lodge-Bibliothek. Damals war mein Koffer immer viel zu schwer von den Büchern, die ich nach Iquitos mitbrachte.

Inzwischen haben die Bücher allerdings wegen den tropischen Temperaturen und dem vielen Umziehen sehr gelitten. Einige wurden von Touristen mitgenommen, andere sind vergraut und ein paar hat Keyla in ihr Heim in Iquitos gerettet.

In diesem Zusammenhang stosse ich auf das Buch von Juliane Köepcke: Als ich vom Himmel fiel. Auch dieses Buch hatte ich gelesen und in meine Bibliothek integriert. Beim Stöbern im Buch fällt mir auf, dass das Flugzeugunglück, das die damals 17 jährige Juliane überlebt hatte, inzwischen fast genau 50 Jahre her ist. Am 24. Dezember 1971 war es, als das Mädchen sich nach dem Absturz aus 3000 m Höhe im dichten Dschungel wiederfand. Sie hat es geschafft, sich trotz einigen Verletzungen und mit nur einer Sandale, zu retten. Eine eindrückliche Geschichte, an die ich zu gewissen Zeiten oft gedacht, die mir aber inzwischen aus dem Gedächtins entfallen war.

alte Bekannte, sogar Anne Frank hat es bis hierher geschafft, zusammen mit George Orwell

alte Bekannte, sogar Anne Frank hat es bis hierher geschafft, zusammen mit George Orwell

Auf dem Weg zum Plaza San Martin fallen mir ein paar junge Leute auf, die mit Plastiksäcken und Krügen beladen die Menschen auf der Strasse besuchen. Sie verteilen offensichtlich Getränke und Geschenke an die Leute, die auf der Strasse leben. Denn selbstverständlich gibt es sie auch hier. Nur eben nicht auf dem Hauptplatz und in der Nähe meines Hotels, so dass ich mich am ersten Abend etwas täuschen liess.

Doch vorhin bin ich bei einem alten Mann vorbei gekommen, der sich eben mit einer Flasche Wasser den Schlaf aus den Augen gerieben hatte. Jetzt wird er von den Jungen umringt, die ihm einen Becher zu trinken anbieten.

Auf dem Plaza San Martin treffe ich die jungen Leute wieder und ich frage sie, wer sie sind und was sie vorhaben. Es stellt sich heraus, dass es eine Gruppe Uni-Studenten ist, die gemeinsam gesammelt haben, um den Menschen auf der Strasse Weihnachten zu bringen. Die Gruppe sei spontan entstanden, aber sie haben grosses vor. Wie ich in ihrem FB-Portrait sehe ist ihr Slogen: Heute ist es Lima, morgen ganz Peru. Sie wollen etwas in Bewegung setzen. Wir tauschen kurz die Kontaktdaten aus, und ich gebe etwas für ihre Kasse und schon ziehen sie weiter. Auf der Suche nach den Menschen auf der Schattenseite des Lebens.

Später am Abend bedankt sich einer der jungen Männer für meinen Beitrag. Wir chatten einen Moment und ich erfahre, dass sie den ganzen Tag unterwegs waren und auch Menschen an abgelegeneren Orten der Stadt aufgesucht hatten. Er schickt mir ein paar Fotos und ich kann sehen, dass sie auch an höher gelegenen Orten waren, dort wo die Armen wohnen. Und bereits nächste Woche werden sie mit der nächsten Sammlung anfangen. Sie wollen die Kinder beim Schulanfang mit Schulmaterial unterstützen.

Eine fantastische Aktion.

Auf dem Platz blühen die Jaccarandas. Die violetten Blüten an den noch fast blattlosen Bäumen beleben die Anlage. Heute ist es ruhig hier, gestern fand eine Demonstration statt. Impfgegner waren unterwegs und verteilten ihre Parolen. Ich war ziemlich erstaunt, sie hier anzutreffen. Aber immerhin trugen die allermeisten die Maske. So wie man sie hier eben überall trägt und fast alle Menschen halten sich daran.

Neben dem Hotel Colon mit der klassischen Fassade steht noch immer eine Brandruine. Gebrannt hatte es vor ein paar Jahren und ich habe das Gefühl, dass die Ruine jedesmal schlimmer aussieht. Doch jetzt ist sie von einem Verschlag geschützt und es scheint, dass endlich etwas Bewegung in die Sache kommt. Vielleicht wird das Haus jetzt tatsächlich renoviert oder neu gebaut, jedenfalls verstehe ich die Hinweise auf den Schilder so.

Ich setze mich in eines der Cafes, die draussen aufgetischt haben, schaue dem Schuheputzer zu, der mit Inbrunst die Schuhe eines Passanten putzt. Er poliert die Schuhe und scheint jedes Stäubchen einzeln wegzupusten und den Glanz von allen Seiten zu überprüfen, während sein Kunde gemütlich die Zeitung liest..

Später schlendere ich durch die Fussgängerpassage zurück zum Hauptplatz. Ich habe Zeit, bleibe immer wieder stehen, versuche die Strasse aus verschiedenen Winkeln einzufangen, sehe den lebenden Statuen zu, wie lange es braucht, bis sie sich sich bewegen und höre eine Weile dem Santa Claus zu, der unter seiner Larve Mery Christmas singt. Es ist immer viel los, hier auf der Fussgängerpassage, die die beiden Plätze verbindet.

Ich setze mich ins Moyas, überblicke den Hauptplatz und lasse mir ein Lomo saltado schmecken. Es sind meine letzten Tage, ich möchte die Atmosphäre möglichst bewusst aufnehmen.

Später versuche ich wieder einmal ein wenig zu schreiben. Und staune wie jeden Tag über meine vielen Fotos, obwohl eigentlich gar keine grossen Entdeckungen auf dem Plan gestanden waren.

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Die Reise
 
Worum geht's?:
Immer wenn der Mensch seine Zukunft plant, fällt das Schicksal im Hintergrund lachend vom Stuhl. Dieser Satz hat mich durch das Corona-Jahr begleitet. Eigentlich war mein Abflug nach Südamerika am 3. April 2020 gebucht. Doch dann kam alles anders.
Details:
Aufbruch: 20.06.2021
Dauer: 7 Monate
Heimkehr: 29.01.2022
Reiseziele: Peru
Kolumbien
Argentinien
Der Autor
 
Beatrice Feldbauer berichtet seit 20 Jahren auf umdiewelt.
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