Neustart
Tango
Heute scheint ein Markttag zu sein. In der Fussgängerzone Florida sind verschiedene Marktstände aufgestellt. Es gibt Handarbeiten und selbstgemachte Lebensmittel. Konfitüren, Honig, Sirup, Naturkosmetik. Die ganze Palette von handgefertigen Sachen. Auch Stricken scheint in zu sein, ich staune über die wollenen Sachen für kleine Kinder. Ob das für die nicht viel zu heiss ist?
Gestern hat mich der Mann an der Rezeption gefragt, wie das denn mit den Partys in der Schweiz sei. Silvesterparty zum Beispiel. Oder Weihnachten. Er stelle sich das fürchterlich vor, wenn es da so kalt sei. Eine Party ohne Wärme wäre für ihn undenkbar. So sind die Vorstellungen eben von der Gewohnheit geprägt, eine Freundin hat mir kürzlich geschrieben, dass Weihnachten in der Wärme für sie eine Horrorvorstellung sei.
Was mich in dem Zusammenhang immer wieder staunen lässt, ist die Tatsache, dass Weihnachten tatsächlich in der Vorstellung immer mit Schnee verbunden ist. Auch wenn Schnee hier völlig unbekannt ist, gehören verschneite Tannen bei Weihnachtsdekorationen eben doch dazu. Tannen gehören hier natürlich zu den nicht vertrauten Pflanzen. Sie kommen nur für Weihnachten zum Vorschein. So wie bei uns Palmen zur Vorstellung von Sommer-Ferien gehören.
Was hier immer und überall dazu gehört, ist der Mate-Tee. Taxifahrer haben ihre Thermosflasche und einen vollen Becher neben sich auf der Ablage, an Schaltern habe ich die schönen Becher neben den Computerbildschirmen auch schon oft entdeckt und bei meinen Spaziergängen sehe ich oft Männer mit grossen Handtaschen. Darin ist das heisse Wasser und der Becher untergebracht. Ausserdem gehört noch ein spezielles Silberröhrchen dazu, das unten zu einem Sieb in Löffelform gestaltet ist. Dadurch wird der Tee gesippt. Noch habe ich keinen direkten Kontakt mit dem Getränkt bekommen, aber heute auf dem Markt fallen mir die Stände mit den wunderschönen Bechern auf.
Ebenfalls auffällig sind die vielen Geldwechsler. Cambio - cambio klingt es unaufhaltsam an mein Ohr. Es gibt keinen Ort in der Fussgängerpassage, wo keiner dieser Geldwechsler steht. Monoton und eindringlich suchen sie ihre Opfer. Sie wollen ihre Peseten zu Dollars umwandeln. Der Kurs, den sie bezahlen, ist doppelt so hoch wie der offizielle Wechselkurs. Jeder will sein Geld irgendwie retten, denn die Peseten verlieren täglich an Wert. Es sind so viele Geldwechsler unterwegs, dass ich vermute, dass tatsächlich jeder, der ein paar Peseten entbehren kann. hier in der Florida-Strasse einen Käufer sucht. Es ist ein verzweifelter Versuch, sein Geld in Sicherheit zu bringen. Dass die Reichen ihr Geld längst ins Ausland gebracht haben, habe ich irgendwo gelesen.
Madero-Tango steht auf einem Plakat, wo mich ein junger Mann anspricht. Ob ich mir eine Tango-Show ansehen möchte. Tatsächlich versuche ich seit Tagen, einen Platz bei Senor Tango, der wahrscheinlich besten Tango-Show von Buenos Aires zu buchen. Zwar sind die Daten in der Homepage aufgeführt, aber ich kann nicht buchen. Bin auch gar nicht sicher, ob das Lokal bereits wieder offen ist nach der langen Pandemie-Pause. Niemand kann mir das wirklich bestätigen. Taxifahrer meinten, es wäre offen, waren sich da aber doch nicht ganz sicher. Wahrscheinlich muss ich in den nächsten Tagen selber einmal hingehen.
Darum reagiere ich sofort auf das Angebot und sitze kurze Zeit später bei Oscar in seiner Agentur. Es ist nicht Senor-Tango, den er mir offeriert. Dieses Lokal würde tatsächlich noch nicht arbeiten. Aber die grosse Puerto-Madero-Show im Hafenquartier sei offen. Er offeriert mir ein ganzes Paket mit Transport von und zur Unterkunft, Nachtessen und Show. Heute Abend. Ich bin dabei. Da ich genügend Bargeld eingesteckt habe, kann ich das Ticket direkt kaufen. Kreditkarte würde er nicht nehmen, das sei im Moment nicht möglich, meint Oscar bedauernd, so als ob es sich nur um eine momentane Panne handeln würde.
Mit dem Ticket für heute Abend verabschiede ich mich von Oscar und laufe weiter, verlasse die Fussgängerpassage, laufe weiter über Plätze, überquere breite Strassen, komme an Parks mit uralten riesigen Bäumen vorbei.
Ich komme am Park San Martin vorbei, mit seiner Statue hoch auf dem Ross. Und beim Memorial, wo den Gefallenen des Falklandkrieges gedacht wird.
Irgendwo sehe ich den Uhrenturm wieder. Auf meiner Tour mit dem Citybus wurde erzählt, dass der ein Geschenk der Briten gewesen wäre. Mir kommt er vor wie ein Leuchtturm an Land.
Die Kirche San Jose steht offen, also trete ich ein. Sie ist reich geschmückt mit Fresken an der Decke, einer wunderschönen Kuppel.und farbigen Fenstern.
Endlich stehe ich vor dem Eingangstor von La Recoleta, dem berühmten Friedhof von Buenos Aires Doch inzwischen ist es fünf Uhr, das Tor wird verschlossen. Keine Möglichkeit mehr, hinein zu kommen. Auch die Gruppe, die vor mir steht, hat keinen Erfolg, auch wenn der Mann erklärt, dass er Guia sei und sie extra von weit her gekommen seien. Nur die beiden Frauen nach uns dürfen hinein. Familiares, ist die Begründung. Vielleicht besuchen sie einen verstorbenen Verwandten.
Ich schlendere noch ein wenig durch die vielen Stände wo Bilder verkauft werden und setze mich dann unter den Baum mit den riesigen Ästen. Unglaublich, wie weit sich die schweren Äste ausbreiten. Sie bedecken das ganze Restaurant und dabei ist der Baum eigentlich ganz niedrig. Ich habe den Kellner nach dem Namen des Baumes gefragt, hab ihn aber leider nicht aufgeschrieben. Auf jeden Fall ist es eine Gummibaumart. Der Baum ist mir auch an anderen Orten in der Stadt schon aufgefallen, aber dieser scheint nun tatsächlich der grösste seiner Art zu sein.
Ich bestelle eine frische Limonade und bekomme reinen Zitronensaft mit einer Flasche Soda und Zucker. So habe ich das noch nie bekommen. Ich staune immer wieder, wie die gleiche Bestellung überall anders serviert wird. So wie ein Capuccino jedesmal anders daher kommt. Ich mische mir jetzt also meine Limonade selber. Den Durst nimmt sie auf jeden Fall, und kühl ist sie auch, denn im Zitronensaft hat es Eiswürfel.
Danach bestelle ich ein Taxi und fahre zurück, gelaufen bin ich heute genug.
Kurz nach acht Uhr holt mich der Bus ab. Wir sammeln noch ein paar weitere Passagiere ein und nach Einbruch der Dämmerung kommen wir bei der Eventhalle an. Sie ist gar nicht weit weg vom Restaurant wo ich gestern so fein gegessen habe.
Es fahren dauernd Busse vor und die Halle füllt sich langsam. Ich werde zu einem Tisch geführt, wo bereits drei Leute sitzen. Es sind junge Amerikaner. Marissa und Alyssa sprechen kein Spanisch, sie sind aber mit ihrem Freund Duglas hier, dessen Mutter aus Uruguay kommt. Heute ist er das erste mal ohne seine Eltern in den Ferien und ich kann die Freude und Aufregung der jungen Leute spüren.
Später kommt noch eine junge Frau aus La Paz, Bolivien dazu. Pamela. Auch sie spricht etwas Englisch, so dass Duglas verkündet, dass die Tischsprache Englisch sei. Er will, dass seine beiden Freundinnen den Gesprächen auch folgen können. Doch das verändert sich, als zwei weitere Gäste dazu kommen. Selma und Isaque aus Salvador, Brasilien. Isaque spricht ganz gut spanisch, aber Selma leider nur portugiesisch. Sie scheint aber dem Gespräch folgen zu können. Ausserdem ist eine Unterhaltung über den ganzen Tisch nicht mehr so einfach, denn der Geräuschpegel im Lokal nimmt ständig zu.
Wir bekommen einen Code, mit dem wir das Menu scannen können und schon bald wird serviert. Serviert wird beim Eintreffen der Gäste, nicht, wenn alle da sind, das wäre gar nicht möglich, denn noch immer kommen mehr Leute her.
Es gibt drei Gänge, die man einzeln wählen kann.
Ich wähle eine Komposition von 3 x Humus, ein Babybeef und als Dessert ein Yoghurtmousse. Es schmeckt alles sehr fein, auch wenn der Service eher an eine Massenabfertigung erinnert. Dazu gibt es ein paar Flaschen Wein auf den Tisch. Die Jungen bleiben allerdings lieber beim Wasser, nur zum Anstossen haben sie sich etwas eingeschenkt. Die Brasilianer aber lieben den Wein.
Ich weiss nicht, wie es gekommen ist, aber schon bald sind wir in ein Gespräch über südamerikanische Autoren vertieft. Isaque scheint sehr belesen zu sein, jedenfalls kennt er sie alle und empfiehlt mir, das eine oder andere Buch zu lesen. Zum Glück habe ich mir noch ein paar Notizzettel eingesteckt. Es ist bei dem Dämmerlicht gar nicht so einfach, etwas aufzuschreiben. Aber da ich ja eh gern lese und immer für neue Tipps zu haben bin, lohnen sich die Notizen bestimmt.
Duglas ist mehr am Essen interessiert. Er möchte wissen, wie die verschiedenen Menüs schmecken und hilft seinen Freundinnen, die Teller leer zu essen. Ich muss schmunzeln, er scheint seinen ersten Ausflug ohne Eltern richtig zu geniessen. Morgen werden die drei nach Uruguay fahren, um seine Verwandten dort zu besuchen.
Von Alyssa lerne ich, wie man Fotos ganz einfach via Dropbox zu einem anderen Handy übertragt. Direkt ohne WhatsApp und Nummernaustausch. Spannend, wie man überall und jederzeit etwas dazu lernt. Allerdings bin ich nicht sicher, ob ich das beim nächsten Mal noch weiss. Alyssa jedenfalls hat mein Handy ratzfatz im Griff.
Mit etwas Verspätung fängt die Show an. Wir müssen uns etwas arrangieren, damit wir trotz der Säule vor uns alle zur Bühe sehen. Isaque und Selma haben sich eine Flasche Wein geschnappt und sind zu einem der kleinen Tische gewechselt, der zufällig frei geworden ist und einen freien Blick auf die Bühne hat.
Die Show erzählt die Geschichte des Tangos von seinen Anfängen in den einfachen Quartieren von La Boca. Zwar kann ich der Geschichte nicht in den Details folgen, aber die Bilder und die Musik und natürlich vor allem die Tänze sind fantastisch.
Es gibt auch ein paar Auftritte einer Sängerin und eine Vorstellung mit der grossen Trommel, der Bomba und den Boleadores, kleinen Kugeln an langen Seilen, die aneinander geschlagen einen speziellen Klang erzeugen und von den Künstlern mit grosser Virtuosität gespielt werden. Eigentlich werden diese Kugeln für das Einfangen von Tieren durch die Gauchos benutzt.
Kurz nach MItternacht ist die Show vorbei. Der Abschied ist kurz, die Halle leert sich ganz schnell, denn draussen stehen die Busse bereit, bringen die Leute zurück in ihre Hotels. Es war ein fantastischer Abend in jeder Beziehung.
Weil ich weiss, dass es unter meinen Lesern ein paar Leute hat, die sich für Bücher interessieren und weil ich mir während des Gesprächs ein paar Notizen gemacht hatte, hier die Autoren, über die wir gesprochen haben.
Buch- und Autoren-Empfehlungen
Jorge Luis Borges - Argentinien - Das Aleph
Julio Cortezar - Argentinien/Frankreich - Rayuela
Gabriel Garcia Marquez - Kolumbien (Medellin) - 100 Jahre Einsamkeit
Pablo Nerhda - Chile - Zwanzig Liebesgedichte und ein Lied der Verzweiflung
Zygmunt Baumann - Polen (Phylosoph + Soziologe) - Gemeinschaften: auf der Suche nach Sicherheit in einer bedrohlichen Welt (Antiquarisch)
Das Buch ist keine Roman sondern eine phylosophische Abhandlung über die Moderne Gesellschaft mit flüssiger Liebe, einem Ausdruck, der von Baumann lanciert wurde.
Aufbruch: | 20.06.2021 |
Dauer: | 7 Monate |
Heimkehr: | 29.01.2022 |
Kolumbien
Argentinien