Neustart

Reisezeit: Juni 2021 - Januar 2022  |  von Beatrice Feldbauer

Letzte Tage

El Laboratirio del Cafe - hier hat man den besten Überblick über den Boteroplatz und ausserdem gibt es den besten Cappuccino, und manchmal hat es noch Zimtschnecken dazu.

El Laboratirio del Cafe - hier hat man den besten Überblick über den Boteroplatz und ausserdem gibt es den besten Cappuccino, und manchmal hat es noch Zimtschnecken dazu.

Meine letzten paar Tage in Medellin sind angebrochen. Und es sind auch die letzten Tage in Kolumbien. Ich merke wie sich etwas verändert. Alles was ich mache, mache ich zum letzten Mal, sehe ich zum letzten Mal, erlebe ich nur noch jetzt. Andererseits muss ich das, was ich hier noch sehen oder besuchen möchte, jetzt machen.

Ich erlebe intensiver, mache aber nicht mehr viel. Der Spaziergang zum Boteroplatz wird zur Gewohnheit. Ich bin sehr froh, dass ich jetzt bei meinem zweiten Aufenthalt in Medellin ein Hotel im Zentrum gewählt habe. So kann ich jederzeit zu Fuss hingehen. Und jedesmal bewundere ich die dicken Statuen, sie sind mir irgendwie ans Herz gewachsen. Ich mag sie, diese schweren Figuren. Mit den Bildern von Botero ist das etwas anders. Ich hatte sie im Museum gleich neben meinem Lieblingscafe gesehen. Dort sind es die Farben, die mir zu grell sind, an diesen überdimensional dicken Menschen. Bei den Skulpturen aber gefallen mir die lieblichen Gesicher. Die Figuren strahlen eine Gelassenheit aus und sie füllen ihren Platz aus, nehmen sich ihren Platz. Man könnte ganz viel Philosophie darin interpretieren.

Ausserdem liebe ich es, die Menschen auf dem Platz zu beobachten. Die hübschen Frauen, die über den Platz flanieren, eingehängt am Arm ihrer Freundinnen oder mit enem männlichen Begleiter. Die Frauen, die aus ihren Wärmeflaschen Getränke anbieten, die Männer, die den Tag auf einem der Bänke verbringen. Den Hutverkäufer mit seinem riesigen Stapel Hüte auf dem Kopf. Der Sonnenbrillen-Verkäufer der seinen Verkaufsstand immer wieder an einem anderen Ort hinstellt, die Eisverkäufer, die ihre bimmelnden Eiswagen vor sich her schieben. Auch der Verkäufer mit den Handyhüllen schiebt seinen Verkaufswagen immer wieder über den Platz. Hin und her. Genauso wie der Früchteverkäufer mit den zugeschnittenen Mangostücken.

Und inzwischen erkenne ich auch die Prostituierten, die an den Rändern der Rabatten stehen. Ihre kurzen Röcke, ihre tiefen Decolltes. Gelangweilt stehen sie zusammen und sind doch jede ganz für sich.

Viele Menschen flanieren über den Platz, die Sitzgelegenheiten sind alle besetzt, wenn jemand aufsteht, kann ich sehen, wie sich jemand in der Nähe in Bewegung setzt, um den Platz zu besetzen, bevor jemand anders den Platz in Beschlag nimmt.

Vor den Statuen stellt man sich für Fotos auf. Es werden Selfies gemacht, Gruppenfotos, Kinderfotos. Und dazwischen bringen die Strassenkehrer mit ihren orangen Uniformen zusätzliche Farbe ins Bild. Sie wischen jedes kleinste Fötzelchen vom Boden auf, sind immer unterwegs nit ihren Besen und Schaufeln am langen Stil. Die Abfalleimer werden von Randständigen regelmässig nach Plastik und anderem Brauchbarem durchsucht, so dass sie überhaupt nie voll werden können.

Bei der Menschenansammlung unterhält eventuell grad ein Zauberer mit seinen Tricks die Leute oder es gilt seine Geschicklichkeit zu beweisen. So wie da wo ich dazu komme. Da sollte man es schaffen mit einem an eine Schnur gehängten Ring eine Flasche die auf einer schiefen Ebene liegt, aufzustellen. Tänt einfach, sieht auch entsprechend aus, doch alle Versuche der Zuschauer scheitern, jedenfalls solange ich zusehe.

Ob er es schafft, die Flasche aufzustellen?

Ob er es schafft, die Flasche aufzustellen?

In einer Ecke tanzen vier junge Mädchen. Sie gehören zur gleichen Gruppe, wie die beiden jungen Frauen, die ich vor ein paar Tagen angetroffen habe. Die mit ihren schlafenden Kindern gebettelt haben. Sie sind öfters hier auf dem Platz, haben eine schwarze Box aufgestellt, aus der Musik ertönt. Dazu tanzen sie. Mit den Kindern auf dem Rücken. Völlig unbeteiligt, Sie kommen mir wie Marionetten vor.

Sie tragen ihre eigenen Kleider, diese plissierten Röcke mit den farbigen Mustern. Ihre Gesichter sind indigen. Ich weiss nicht, wer sie sind, woher sie kommen, darum will ich nichts interpretieren. Aber ihnen zuzusehen, macht mich irgendwie traurig. Sie sind wie aus einer anderen Welt, scheinen ihr Umfeld nicht wahrzunehmen. Auch wenn jemand etwas in ihr Sammelkörbchen legt, gibt es keine Reaktion.

Während ich über sie schreibe, sitze ich im Restaurant meines Hotels. Einen Versuch ist es wert, ich frage den Kellner, wer diese Leute sind, zeige ihm ein Bild.

"Es sind Embera, eine indigene Gruppe."

Ich google, aber viel finde ich zum Thema nicht. Nur dass sie aus Panama und Kolumbien stammen und dazu viele Touren, auf denen man die Leute besuchen kann. Darüber, was sie dazu treibt, in der Stadt zu betteln, finde ich nichts. Aber immerhin, jetzt weiss ich sicher, dass es eine indigene Gruppe ist. Aber ihre Heimat ist nicht hier, in der Umgebung von Medellin, sondern mehr im Norden.

Wenn ich den Boteroplatz verlasse, komme ich zu einem Früchte- und Gemüsemarkt. Er scheint in diesen Tagen grösser geworden zu sein. Viel mehr Händler bieten ihre Waren an. Ich laufe durch die Stände, fotografiere rechts und links, komme in kurze Gespräche mit den Verkäufern, erfahre, dass die frischen Erdbeeren aus der Gegend von Cartagena kommen und dass die Äpfel importiert sind. Ich freue mich über die alten Waagen, die überall aufgehängt sind.

Ganz am Ende des Marktes komme ich auf einen kleinen Platz wo ein paar Randständige auf den Bänken sitzen. Und zwar genau unter einem Frangipani-Baum, der eben üppig blüht. Etwas zögernd nähere ich mich einer Gruppe, will auf eine niedrige Mauer steigen, um die Blüten aus der Nähe zu fotografieren.

Ich komme also auf die Leute zu mit dem Handy in beiden Händen, als mich eine der Frauen anspricht. Schenk uns ein Bild.

Hab ich das jetzt grad richtig verstanden, möchte sie tatsächlich, dass ich sie fotografiere? Es scheint so, sie möchte fotografiert werden und auch ihre Begleiter machen entsprechende Bemerkungen. Natürlich muss man mir das nicht zweimal sagen.

Und jetzt, wollen sie Geld? Das wäre die normale Reaktion gewesen. Etwas zu trinken, meint einer der Männer. Da sie mir einen etwas betrunkenen Eindruck machen, will ich allerdings kein Geld dalassen, auch keinen Schnaps kaufen, denn mir ist nicht klar, was sie da aus ihren Wasserflaschen trinken. Kein Alkohol, sage ich daher, aber gern ein Erfrischungsgetränk. Also gehen wir zum Kiosk und ich kaufe ein paar Flaschen Cola. Und weil wir grad schon dabei sind, kommen noch ein paar Tüten Chips und Kekse dazu. Alles sehr gesund, ich weiss, aber das ist eben das Angebot von diesen Kiosken und die Leute stehen um mich herum und wollen dies und jenes. Hab ich sehr gern gemacht, wir sind am Schluss alle richtig happy und ich bin jetzt wieder ein paarmal mehr gesegnet und stehe unter Gottes Schutz.

Nicht nur der Gemüse- und Früchtemarkt ist grösser geworden. Auch das Angebot auf dem Warenmarkt bei der Station Berrio ist umfassender geworden. Zum Teil kommt es mir wie Ausverkauf vor. Da gibt es Wühltische, wo die Leute drum herum stehen und sich das beste heraussuchen.

Und es gibt all den Weihnachtsschmuck inklusive warme Mützen und Hüte. Wer will sich den sowas anziehen, wo doch die Temperaturen tagsüber noch immer fast auf 30 Grad steigen und auch die Nächte noch immer sehr warm bleiben. Ich hatte jedenfalls meine Jacke seit Lima nicht mehr in der Hand, sie bleibt ganz unten im Koffer verstaut da wo audh die langärmeligen Shirts ihr Dasein fristen.

Woran ich mich nicht gewöhnen will, sind die vielen Menschen, die auf der Strasse leben. Ja was heisst leben, sie vegetieren. Und viele betteln auch gar nicht mehr. Sie liegen da, ohne irgendetwas, oder eingepackt in Plastiksäcke oder ein Tuch. Manchmal glaube ich, dass da ein Haufen Abfall liegt, doch es ist ein Mensch. Sie liegen überall. In den Parks, auf oder hinter Parkbänken, in den Blumenrabatten, auf der Strasse, mitten im Markt, an Hausmauern, vor Kirchentüren.

Wie hält man das aus? Wie muss sich das anfühlen, gleich neben den Marktständen mit ihren vollen Tischen.

Und wir gehen alle daran vorbei. Weichen aus, sehen weg.

Manchmal gebe ich etwas, dann streckt sich mir eine verkrüpelte magere Hand entgegen und ich werde überschwenglich mit Dank übergossen. Den ich gar nicht verdient habe, denn ich bin auf dem Weg in mein Hotel mit dem weichen Bett oder zu einer Tasse Kaffee oder einem feinen Nachtessen.

Auch da liegt ein Mensch

Auch da liegt ein Mensch

Auf dem Mittelstreifen einer sehr breiten Strasse

Auf dem Mittelstreifen einer sehr breiten Strasse

Mit solchen Schuhen durchs Leben latschen...

Mit solchen Schuhen durchs Leben latschen...

Sitzt da mit seinem verkrüppelten Bein.

Sitzt da mit seinem verkrüppelten Bein.

Auf dem Berrio-Platz, der auf meinem Weg zum Boteroplatz liegt, ist immer viel los. Heute spielt da eine kleine Band mit Sänger. Und die Menschen tanzen dazu. Eine kleine fröhliche Szene. Ich bleibe einen Moment stehen, nehme die lachenden Gesichter tief in mich hinein. Freue mich über die Freude der anderen. Das gehört eben auch zu Kolumbien. Diese Freude, diese Frählichkeit. Kleine Momente des Glücks.

Gleich dahinter, vor der grossen Treppe, auf der ich grad vorhin noch gesessen bin, steht ein Mann. Er hält ein dickes Buch in der Hand und gestikuliert mit den Armen. Er hat sich ein Mikrofon umgeschnallt und predigt. Das Buch ist eine Bibel. Ob ihm überhaupt jemand zuhört. Eigentlich sehe ich bei keinem der Leute, die auf der Treppe hocken, irgend eine Regung. Doch der Mann ist so engagiert, so überzeugt von seinem Vortrag, dass er gar nicht merkt, ob er irgend jemanden erreicht.

Ein paar Schritte weiter, noch immer auf dem gleichen Platz hat sich eine andere kleine Gruppe aufgestellt. Es wird ein Lied angestimmt, begleitet mit Musik aus dem schwarzen Musikkoffer. Und dann fängt die Frau doch tatsächlich auch an, das Evangelium zu erzählen. Ich glaube, ich bin die einzige, die ihr Aufmerksamkeit schenkt. Doch nicht allzu lange, nur bis ich ein paar Töne von ihr aufgenommen habe, dann gehe ich weiter.

Schon länger wurden mir in diesen Tagen Lose angeboten. Heute sehe ich die Stände dazu. Aus dem nichts sind sie gekommen, diese Lotterien. An den Ständen könnte man wahrscheinlich die Gewinnnummern finden. Oder neue Lose kaufen. Ich befasse mich nicht damit, staune nur, wie plötzlich neue Angebote im grossen Stil da sind und wieviele Verkäufer sich damit befassen. Was haben die vorher verkauft? Sonnenbrillen? Schlüsselanhänger? Masken?

Ich habe mir heute bei einem Händler vor dem Hotel eine wunderschöne Avocado gekauft. Für einen halben Franken. Sie wird mein Nachtessen. Ich bestelle beim Kellner, Teller und Besteck und etwas Salz und Limetten. Himmlisch.

Es wird lange dauern, bis ich wieder eine so perfekt reife Avocado bekomme.

Es ist der letzte Abend, in gut 24 Stunden werde ich im Flugzeug sitzen. Heute morgen hatte ich ein paar Stunden mit den Vorbereitungen verbracht. Zuerst musste ich mich einchecken, das ging nicht vorher, den ersten Versuch hatte ich erfolglos Vorgestern gemacht. Danach konnte ich mich online bei der Immigration anmelden. Dazu musste ich aber erst die App herunterzuladen, dann auszufüllen mit Passkopie und Boardingpass und einer spontanen Foto ohne Brille und ohne Lächeln. So eines dieser scheusslichen Bildern. Und dann das ganze aufladen. Zehn Versuche hat es gebraucht, bis die Daten endlich übermittelt waren. Und jetzt bin ich noch nicht sicher, ob ich eine positive Antwort bekomme. Hab erst die Eingangsbestätigung erhalten.

Wird schon funktionieren.

Es geht zurück nach Lima. Als ich vor drei Monaten in Kolumbien einreiste, wollte man ein Ausreiseticket. Da ich keine Ahnung hatte, wie die Lage drei Monate später aussähe, hatte ich Lima - Medellin - Lima gebucht. Ob ich Morgen auch wieder ein Ausreiseticket brauche? Bisher stand nirgends etwas in den Anweisungen, die mir die Fluggesellschaft geschickt hatte. und die Situation ist noch immer dieselbe: meine Wunschdestinationen sind noch nicht offen.

Die Sonne geht zwar noch lange nicht auf, mein Drink heisst trotzdem Mango Sunrise
Mit Tequila, Mangosirup, Orangensaft und Erdbeerstücken. Salud

Die Sonne geht zwar noch lange nicht auf, mein Drink heisst trotzdem Mango Sunrise
Mit Tequila, Mangosirup, Orangensaft und Erdbeerstücken. Salud

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Die Reise
 
Worum geht's?:
Immer wenn der Mensch seine Zukunft plant, fällt das Schicksal im Hintergrund lachend vom Stuhl. Dieser Satz hat mich durch das Corona-Jahr begleitet. Eigentlich war mein Abflug nach Südamerika am 3. April 2020 gebucht. Doch dann kam alles anders.
Details:
Aufbruch: 20.06.2021
Dauer: 7 Monate
Heimkehr: 29.01.2022
Reiseziele: Peru
Kolumbien
Argentinien
Der Autor
 
Beatrice Feldbauer berichtet seit 20 Jahren auf umdiewelt.
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