Neustart
In die City
Heute will ich ins Zentrum von Lima. Weil es vorgestern so gut geklappt hat mit dem Spaziergang und weil ich gestern den ganzen Tag nichts getan ausser geschrieben habe, finde ich, dass ich es noch einmal zu Fuss versuchen könnte.
Ich gehe allerdings nicht davon aus, dass ich noch einmal die ganze Strecke laufe, aber wie man weiss, beginnt auch die grösste Reise mit dem ersten Schritt.
Schon bei den ersten Häuserblocks bin ich überrascht, dass es im Quartier einen kleinen Markt hat. Als ich am ersten Abend einen kurzen Spaziergang um den Block gemacht hatte, kam ich nicht bis hierher. Ich war in der Dunkelheit sehr vorsichtig unterwegs. Doch heute bei Tag sehe ich, dass ich fast alles in der nahen Umgebung bekomme. Gemüse und Früchte, Lebensmittel, Kosmetik, Medizin, Getränke, Fleisch, ja ganze Hühner hängen da.
Als ich einen Schritt in den Markt, der in einem unscheinbaren Gebäude stattfindet, mache, wird mir von einem Aufseher die Temperatur gemessen und als ich anfange, die eigenartigen Stände mit den Plastikplanen zu fotografieren, will er wissen, wozu ich das mache. Ich versuche zu erklären, dass mir diese Verkaufsstände gefallen, dass ich im Moment aber nichts kaufen möchte, weil ich in die Stadt gehe.
Als ich weitergehe, merke ich plötzlich, dass mir jemand folgt. Es ist die junge Frau, deren kleinen Laden ich vorhin fotografiert habe. Sie ist ganz aufgeregt: Senora, Senora, ruft sie. "Sie haben vorhin meinen Lagen fotografiert, warum machen sie das?" will sie wissen. Die gleiche Erklärung, weil ich unterwegs bin und vieles fotografiere. Einfach so, für mich. "Ach so." Sie ist erleichtert und erzählt, dass sie bereits zweimal ausgeraubt wurde und jetzt befürchtet hat, dass ich sie ausspioniere... Sie wünscht mir einen guten Tag und que dios te bendiga (dass Gott mich segnen soll.)
Ich gehe weiter, komme durch ruhige Wohnquartiere. Es sind niedrige Häuser mit schönem Verputz oder farbigen Keramikplatten an der Fassade. Einige haben einen kleinen Vorgarten. Die Strassen scheinen nachts abgeschlossen zu werden, jedenfalls gibt s auf beiden Seiten hohe Gitterzäune mit Toren für Autos und Fussgänger.
Dann komme ich zu einer Bank, wo ich am Automaten dringend benötigte Nuevo Soles beziehen kann. Dass auch hier die Temperatur gemessen wird, muss ich wohl nicht mehr extra betonen. Es ist schon eigenartig. Überall steht jemand mit dem Mess-Gerät in der einen und dem Desinfektionsmittel in der anderen Hand.
Sogar als ich einen Blick in das auffällige Restaurant mit den beiden Fussballer werfen will, kommt der Kellner und will mir die Hände desinfiszieren. Ich will nur hineinsehen, kurz eine Foto schiessen und bin gleich wieder draussen. Hier geht es nicht um die EM sondern um den Copa America, der zur Zeit in Buenos Aires ausgetragen wird.
Ich gehe weiter, komme zu einer breiten Avenida. 4-spurig fahren hier die Autos in beide Richtungen. Es wird gehupt, Ess-Kuriere mit ihren farbigen Kisten auf dem Rücksitz drängen sich mit ihren Motorrädern zwischen den Autos durch, aber eigentlich ist alles ziemlich gesittet. Jedenfalls hält der ganze Verkehr, wenn die Ampel auf rot schaltet. Fussgängerstreifen werden nicht beachtet, aber die Ampeln stoppen den Pulk und lassen mich problemlos über die Strasse. Dass immer die Zahlen anzeigen, wie lange man noch warten, resp. wie lange man laufen kann, ist sehr praktisch und funktioniert überall.
Hier treffe ich auf eine Frau, die Süssigkeiten verkauft. Schokolade und Kaugummi. Ich kaufe zwei Schokoladen und frage, ob ich mich kurz zu ihr setzen darf. Sie breitet ihr Tuch neben sich aus, das sie sich über die Knie gelegt hat und bittet mich, Platz zu nehmen.
Sie heisst Maria Valentina, hat drei Kinder und ist schon sehr lange mit ihrem kleinen Verkaufsstand unterwegs. Sie wohnt dort, wo man besser nicht hingeht, in Callao, in einer dieser staubigen Strassen. Von dort geht sie durch die ganze Stadt bis ins Zentrum und versucht ihre Sachen zu verkaufen. Seit kaum mehr Touristen in der Stadt sind, ist es schwieriger geworden.
Zum Abschied wünscht sie mir einen guten Tag y que dios te bendiga.
Video dazu auf meiner Bison-Seite
An einer Strassenkreuzung stehen zwei Jungen. Es sind nicht die ersten, die ich sehe, aber für sie nehme ich mir Zeit. Sie warten bis die Ampel für die Autos auf rot wechselt. Dann nehmen sie ihren Musikblaster, stellen ihn zwischen die Autos und machen ein paar akrobatische Kunststücke. Einer dreht sich im Handstand mit dem Helm auf dem Kopf, der andere springt aus dem Stand Pirouetten. Dann packen sie ihren Blaster und versuchen, den bereits wieder losfahrenden Autofahrern ein paar Soles zu ergattern. Wenn sie ihre Aufführung ein paarmal durchgeführt haben, packen sie zusammen, ziehen weiter, zur nächsten Kreuzung.
In einer ruhigen Strasse, in der es kaum Verkehr und fast keine Fussgänger hat, spielt ein Mann Saxophon.
Ich glaube, das Leben ist hart, auf der Strasse. Ich habe gar nicht so viele Münzen bei mir, um überall etwas zu geben, aber wenigstens dort wo ich länger stehen bleibe, lege ich etwas in die Sammelbüchse.
Video dazu auf meiner Bison-Seite
Natürlich interessiert mich der kleine Mechanikerbetrieb. Stolz erzählt mir der Besitzer, dass er alle Marken repariert. Nein, eine Vertretung hat er keine, aber die Ersatzteile bekommt er alle von den grossen Händlern.
Im nächsten Ladenlokal werden alte Holzmöbel restauriert. Auf der Strasse stehen viele Bilderrahmen und Säulentische.
In der nächsten Strasse sind die Pneuhändler, das kann man schon riechen. Manchmal hat die Maske doch einen Vorteil, denn die Gerüche werden etwas gefiltert. Ansonsten ist es aber schon ziemlich mühsam hinter der Maske.
An einer Strassenecke steht einer mit farbigen Plakaten. Es sind Lerntafeln für Kinder mit dem Alphabet und Zahlenreihen.
Wer kauft sowas, will ich vom Verkäufer wissen. Vor allem Eltern, die mit ihren Kindern lernen, weil die meisten Schulen noch immer virtuellen Unterricht haben. Ob ich ihn fotografieren darf, will ich wissen. Selbstverständlich, lacht er, ich bin ja guapo! Ja, bestimmt ist er guapo (hübsch) Leider kann ich ihn hinter der Maske nicht richtig erkennen. Ich gehe weiter.
Auf meinem Weg komme ich auch immer wieder in kleine und grössere Grünanlagen. Meistens gibt es irgendwo einen Platz mit Spielgeräten. Doch sie sind alle abgeschlossen, versperrt. Warum nur, fragt mich eine junge Frau, deren kleines Töchterchen entäuscht am Ende der Rutschbahn hockt. Sie waren doch vor kurzem noch offen.
Ich weiss es auch nicht, an einem Ort lese ich, dass die Geräte in Revision seien, aber an den meisten Orten ist einfach nur der Zugang mit Plastik oder mit Holzzäunen versperrt.
Mein Navi weist mir den Weg, quer durch die Stadt. Ich überquere Avenidas und gerate auch wieder in ruhigere Strassen oder gar in kleine Fussgängerzonen mit vielfältigen Geschäften, kleinen Märkten, Bäumen, die aus den Verbundsteinen wachsen. Es ist alles sehr sauber, es sind aber auch überall Putzleute unterwegs. Oft sind es Frauen, ausgestattet mit Helm und Uniform und mit einem grossen Abfallkübel, in den sie mit dem Besen auch den allerkleinsten Abfall einsammeln.
Die Häuser werden besser, die Fassaden schöner und farbiger. Ich bin weiter gelaufen, als ich mir vorgestellt hatte. Ein Blick aufs Handy zeigt aber noch immer 6 km an. Zum Glück überprüfe ich noch einmal mein Ziel, denn ich kann es kaum glauben, dass noch immer soviel Weg vor mir liegt. Die Plaza de Armas, der Hauptplatz in der City ist mein Ziel und mit Schrecken entdecke ich, dass ich falsch fokussiert habe. Erst nachdem ich mich auf eine Parkbank gesetzt und die Lage noch einmal überpruft habe, entdecke ich, dass ich die Plaza de Armas de Independenzia eingegeben habe. Die liegt etwas weiter weg, zum Glück aber in der gleichen Richtung. Plötzlich sind es nur noch knapp 3 Kilometer. Also sammle ich noch einmal meine Kräfte und fasse das neue Ziel ins Auge. Ich bleibe beim Laufen auch wenn mich oft Taxis anhupen, um zu fragen, ob ich mitfahren wolle. Nein, will ich nicht, noch nicht.
Hier wird einer der Abfallkübel geleert.
Video dazu auf meiner Bison-Seite
Und dann bin ich tatsächlich an der Plaza San Martin. Jetzt geht es nur noch durch die Fussgängerzone der Shopping-Meile bis zum Hauptplatz.
Auf dem San Martin werden verschiedene Reden gehalten. Mit Mikrofon und Lautsprecher wird für die beiden Präsentenanwärter Werbung gemacht. Noch ist die Wahl von vor ein paar Tagen nicht entschieden. Eindringlich versuchen die Redner ihre Argumente an den Mann zu bringen. Und es sind tatsächlich fast nur Männer, die ihnen zuhören. Und wo sind die Frauen? Die sind auch da, aber sie kümmern sich um ihre Geschäfte. Verkaufen ihre Süssigkeiten und Manis (spanische Nüssli) , kümmern sich um die Kinder.
In der Fussgängerzone ist nicht viel los, aber aus allen Läden erklingt Musik, wird auf Aktionen aufmerksam gemacht und ausserdem stehen ein paar Gaukler als lebende Denkmäler. Mir ist nicht um Shopping, ich hoffe nur, dass das neue Restaurant, das ich bei meinem letzten Besuch entdeckt habe, noch besteht.
Tatsächlich, das Moyas besteht noch. Es liegt neben der Kathedrale im 4. Stock und hat einen fantastischen Blick auf die Kathedrale. Ich lasse mir einen Krug Maracuyasaft (Passionsfrucht) bringen und geniesse eine Portion Reis mit Meeresfrüchten.
Als die Beleuchtung unten auf dem Platz eingeschalten und die Kathedrale beleuchtet wird, schliesst das Restaurant und ich rufe ein Uber-Taxi. Dazu muss ich allerdings noch zurück zum Plaza San Martin, denn der Hauptplatz ist abgesperrt und autofrei. Bis die Wahlen entschieden sind, erklärt mir die Wirtin. Man will verhindern, dass hier Manifestationen stattfinden.
Auf dem Plaza San Martin gibt es inzwischen keine Reden mehr, sondern es schient, dass hier inzwischen eine Riesenparty zugange ist. Die Strassen sind verstopft, mein Taxi braucht etwas länger, bis es hier ist, und dann bleibt es auf der Rückfahrt überall stecken. Doch das ist mir völlig egal. Ich bin froh, dass ich hinten sitzen darf und mich nicht um den Verkehr kümmern muss. Neben uns stossen zwei Avocado-Verkäufer ihre Verkaufsstände zwischen den Autos hindurch und weil das Megaphon noch immer eingeschalten ist, ruft einer von ihnen immer mal wieder sein Angebot über die stehenden Autos: Palta. 4 für 2 Soles.
Mit all meinen Schlenkern waren es am Schluss laut meinem Handy gut 13 km
Dafür brauchte ich dafür gut 5 Stunden. Irgendwo gab es sogar einen Cappuccino.
Aufbruch: | 20.06.2021 |
Dauer: | 7 Monate |
Heimkehr: | 29.01.2022 |
Kolumbien
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