Neustart
Neiva
Da ich meistens früh ins Bett gehe, da zwar noch lese oder sonst irgendetwas herumwurstle, bin ich morgens sehr früh wach. Dann würde ich gern schreiben. Klappt zwar nicht immer, manchmal bin ich dann auch am chatten, da es zu dieser Zeit in der Schweiz Vormittag ist, die richtige Zeit für einen kleinen Schwatz.
Wenn dann aber das Internet nicht funktioniert, bin ich schon am Morgen frustriert. Und ausserdem kann ich es dann überhaupt nicht verstehen, dass es nicht geht. So auch an diesem Morgen. Zwar habe ich mit meinem Handy dank der Tigo-Karte Facebook und WhatsApp unbeschränkt, aber für das Internet brauche ich das Wifi des Hotels. Und genau das funktioniert auch am Morgen noch nicht. Sie hätte telefoniert, es würde jemand vorbei kommen, verspricht mir die nette Mitarbeiterin an der Rezeption, die selber auch kein Internet hat und daher von ihrer wichtigsten Lebensader abgeschnitten ist. Also warte ich eben etwas, sehe mir die Fotos der letzten Tage an, überlege, was ich posten möchte. Und warte.
Irgendwann wird es mir zu blöd, ausserdem meint die junge Dame jetzt, dass der Techniker am Abend vorbei käme, also mache ich mich auf zu einem Spaziergang in die Stadt. Viel erwarte ich nicht, Neiva ist nur als Übergang gedacht, als Zwischenstop zu meinem nächsten Ziel, der Tatacoa-Wüste. Allerdings habe ich heute Morgen erfahren, dass ich dazu nicht extra in dem kleinen Ort Villavieja übernachten muss, sondern dass ein Ausflug auch sehr gut von Neiva gestartet werden kann. Also ist das mein Ziel für morgen: die Tatacoa-Wüste.
Und heute erkunde ich Neiva. Schon von weitem kann ich den hohen Kirchturm erkennen, das ist praktisch, damit muss ich nicht so oft auf mein Handy und den Stadtplan gucken. Seit meinem Erlebnis mit dem gestohlenen Handy in Lima bin ich eindeutig vorsichtiger geworden. Sehe mich um, bevor ich fotografiere und vor allem halte ich die Kamera nicht mehr am Strassenrand mit gestrecktem Arm in die Höhe.
Der Hauptplatz, da wo die Kirche steht, ist relativ gross aber ungepflegt. Kein gestutzter Rasen, Blätter sind in den Rabatten verstreut, Bänke zum Teil defekt, dafür ist der Plattenbelag auf dem ganzen Platz abwechslungsreich. Es hat noch vor kurzem geregnet, das macht den Platz nicht gemütlicher, auch wenn das Wetter jetzt aufhellt und die Temperatur schon ziemlich hoch ist.. Es gibt einen grossen Springbrunnen, vor dem die Leute ihre Selfies machen.
In der Mitte des Platzes steht ein stolzer Francisco de Paulo Santander, ein General und Politiker im Kampf für die Unabhängigkeit Kolumbiens.
Und aus der Kirche ertönt Musik. Es ist eine schöne grosse Kirche mit einer hohen Spitzbogen-Decke. Zwar sind nur sehr wenige Leute in der Kirche und das Tor ist weit offen, aber es ist eine Messe im Gange und so bleibe ich hinten stehen.
Für Essen ist überall gesorgt. Verhungern müsste man nicht. Nur bin ich eben kein Fan von Streetfood.
Statt CDs oder Kassetten werden heute Sticks mit dem gewünschten Musikstil verkauft. Alles improvisiert und kopiert.
Ich suche ein nettes Restaurant, aber es scheint wie verhext, es gibt nur die kleinen und grösseren Imbissbuden oder Verkaufsstände. Nach den Würsten, die auf dem mobilen Grill brutzeln gelustet es mich gar nicht, auch mit anderen Snacks kann ich nichts anfangen. Ich möchte mich irgendwo hinsetzen, etwas essen und Leute beobachten.
Auch der zweiten Kirche am Hauptplatz statte ich noch einen kurzen Besuch ab. Auch hier ist eine Andacht und es sitzen verstreut ein paar Leute in den Bänken. Ich komme in die Einkaufsstrasse. Da gibt es nur Verkaufsläden und Marktstände, keine Restaurants. Und irgendwo eine kleine Band, die mit ihrer Musik ein paar Pesos verdienen will. Erst ein paar Strassen weiter finde ich ein kleines Cafe, das Capuccino macht und feine Kuchen und Torten anbietet.
Danach geht es mir schon bedeutend besser und ich entschliesse mich, Richtung Fluss zu laufen. Der Rio Magdalena verzweigt sich hier zu verschiedenen Wasseradern mit Inseln in der Mitte. Das müsste doch eine schöne Promenade ergeben.
Es ist besser, wenn man beim Gehen auf den Boden achtet. Überall lauern Unebenheiten und Stufen. Man läuft hier kaum je 10 Meter auf ebener Fläche.
Schon von weitem sehe ich eine Konstruktion, die weit über die Bäume ragt. Sieht aus wie ein Turm, ob man da hinauf steigen kann. Als ich näher komme, sehe ich, dass es ein Monsterturm ist. Weiss zwar nicht, was Torre de Mohan genau übersetzt heisst, aber für mich ist er der Monstertum und natürlich nehme ich den Aufstieg gleich unter die Füsse. Schaut ja nicht wirklich hoch aus. 32 Meter hoch ist das Ungetüm und 132 Stufen sind es bis ganz oben. Sowas nehme ich inzwischen locker. Einzig die Wärme macht mir etwas zu schaffen, die Temperatur steht bei gegen 30 Grad. Der Blick ist fantastisch. Über die hohen Bäume, die den darunter fliessenden Flussarm verdecken, über die Stadt, mit vereinzelten hohen Wohnblocken und bis in in die Berge.
Eine kolumbianische Familie kämpft sich auch grad hoch und will wissen, woher ich komme, was ich hier mache. Wie lange und warum und sowieso. "Ich möchte mitkommen in die Schweiz", schwärmt die Tochter. 20 Jahre alt ist sie und sie scheint noch nichts von der Welt gesehen zu haben. Nicht einmal in der Tatacao-Wüste, die hier ja gleich vor der Haustüre liegt, war sie.
Die Schweiz kann ich ihr nicht bieten, nicht einmal im Koffer, wo sie sich gern verstecken möchte, aber wenn sie will, kann sie morgen mit mir mitkommen auf den Ausflug in die Wüste. Da ich eine Privattour gebucht habe, sollte das kein Problem geben. "Sei einfach um neun bei meinem Hotel, ich würde mich freuen, wenn du mitkämst", lade ich sie ein. Sie will es sich überlegen. Mit ihrer Mutter absprechen, andere Pläne überdenken. Ich frage die Mutter, ob ihre Tochter mit mir mitkommen dürfte. "Claro", sagt sie "Claaaaaaro". Mit einem langgezogenen A und ich muss grad an Jefferson denken. Er hat mir vor ein paar Tagen in San Agustin erklärt, wie die Leute in Neiva reden. Mit langgezogenen Vokalen. "Weisst du, wo der längste Bus der Welt ist?" hat er gefragt. "In Neiva, die sagen Buuuuuuuus."
Ich bin gespannt, ob Erica, so heisst die Tochter sich traut, morgen mitzukommen. Wir tauschen WhatsApp-Nummern aus, damit sie mir den Entscheid mitteilen kann.
Bevor wir uns trennen, bestehen sie auf ein Foto mit der kolumbianischen Familie: Mutter und Tochter, kleiner Sohn, Tante und Freundin der Mutter. Heute würden sie gern noch einen Teil der Familie besuchen, die hier in der Nähe von Neiva ein Haus mit Pool haben, aber anscheinend fehlt es am Geld für ein Taxi. Man lebt hier tatsächlich mit kleinem Budget in grossen Familien.
Nachdem sich die Familie verabschiedet hat, sehe ich noch eine Weile dem Specht zu, der in den Ritzen des grossen Baumes Insekten sucht. Und dann entdecke ich weit unten, zwischen den Bäumen Tische und Hängematten. Eine Gartenwirtschaft. Genau das ist jetzt das Richtige.
Im Schatten der hohen Bäume hängen breite Hängematten. Ich bestelle einen Maracujasaft und lege mich in eine der bequemen LIegen. Träume und hänge meinen Gedanken nach. An der Sonne ist es inzwischen richtig heiss geworden, aber hier unter dem Laubdach mit dem Gesang der Vögel und der Musik aus zwei verschiedenen Lautsprechern und zusätzlichem Verkehrslärm von der nahen Strasse, ist es richtig gemütlich. Man wird bescheiden, wenn man so unterwegs ist, Ruhe, wie wir sie kennen, ist hier eher ein Fremdwort.
Ich bleibe ziemlich lange, bin sogar kurz eingeschlafen und habe noch ein längeres Telefonat mit der Schweiz geführt. Dort ist es jetzt später Abend und ausserdem ziemlich kalt. Wahrend ich noch immer den Schatten schätze und meinen eisgekühlten Maracujasaft schlürfe.
Auf meinem Stadtplan habe ich gesehen, dass etwas weiter dem Fluss entlang ein Monument stehen muss. Irgendwann mache ich mich auf den Weg dahin und laufe auf dem Fussweg, der neben einem Radweg am Ufer entlang führt. Da kreuzt doch tatsächlich ein wunderschöner Leguan meinen Weg und läuft gemächlich Richtung Fluss, wo ein schwarzer Ibis mit seinem langen Schnabel Futter sucht. Was für ein Bild!
Ich bleibe auf der Flussseite, aber ich merke bald, dass die Gegend nicht sehr vertrauenswürdig ist. Überall unten am Ufer hocken halbnackte Männer, schmale Figuren, umgeben vom Müll, den sie in der Stadt gesammelt haben. Oder den irgendwer hierhin geschmissen hat. Ein paarmal ernte ich eigenartige Blicke, werde angesprochen, von weitem angemacht und so richitg wohl ist es mir dabei nicht. Ich hüte mich, die Kamera hervorzuholen, Laufe unbeteiligt weiter, schliesse die Ohren und bin unnahmbar. Wichtig scheint mir in solchen Situationen, trotz allem sicher unterwegs zu sein. Keine Unsicherheit aufkommen lassen, weder innen noch aussen.
Ich komme an ein paar Hütten vorbei, improvisierte Restaurants, aber ich habe keine Lust mehr, etwas zu konsumieren. Höchstens in dem grossen Restaurant, in dem ein paar Leute sitzen und wo als Dekoration grosse Schalen mit Früchten aufgestellt sind, könnte ich mich hinsetzen. Doch ich lasse es bleiben, mache nur ein Bild von der Schale mit Kakaofrüchten. Auch das ein typisches Erzeugnis von Kolumbien.
Und dann werde ich wieder von jemandem angesprochen. Doch diesmal höre ich hin. Es sind Bootsführer, die Rundfahrten auf dem Fluss anbieten. Da sage ich natürlich nicht nein und schon bald bin ich mit der Esmeralda unterwegs. Wir tuckern am Ufer entlang und der Fluss wird breiter. Er ist hier in viele Arme aufgeteilt und scheint manchmal wie ein kleiner See. Auf einem abgebrochenen Baum, der in der Mitte des Flusses liegt, kann ich einen Adler erkennen. Er sitzt da und beobachtet das Wasser, bis er etwas sieht, seine Schwingen ausbreitet und über das Wasser gleitet. Auf einer Sandbank stehen Enten und weisse Silberreiher. Wir versuchen, so nahe als möglich heranzufahren, um sie zu beobachten. Es scheint, als ob der Baumstamm und die Sandbank schwimmen würden, doch sie sind fest verankert, das Wasser ist an diesen Stellen nicht sehr tief. Aber dafür strömt es mit ziemlich viel Kraft vorbei.
Es ist eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang, ich verlängere meine Fahrt, bleibe sitzen, als wir zurück zum Ufer kommen. Noch einmal eine Runde Bootsfahrt, vielleicht gibt es einen goldenen Sonnenuntergang. Doch leider wird daraus nichts, die vielen Wolken stehen da im Weg. Aber die Wolkenbilder und Stimmungen sind trotzdem schön.
Später stehe ich vor dem Monument, das mir einen ziemlich wirren Eindruck macht. Eine Frau mit Pfeil und Bogen, ein stürzender Kentaur, halb Mann, halb Pferd, zwei Pferde, aufbäumend mit einem Pfeil im Hals und alles in der Luft wirbelnd.
Ich habe später die Bedeutung des Monuments zu ergründen versucht und glaube, man wollte hier zu viel hineingeben. Sinnbild für die Eroberung durch die Spanier, Sinnbild für die Verbindung der Rassen, was mit dem Kentaur gemeint ist, Sinnbild für europäische Kultur und für die Unterdrückung der Natur.
Der Ort scheint ein beliebter Treffpunkt zum Sonnenuntergang zu sein.
Ich versuche, ein Taxi anzuhalten, doch inzwischen ist es dunkel und Taxis sind kaum mehr zu erkennen. Und ausserdem sind die meisten besetzt, was ebenfalls mit den dunklen Scheiben nicht zu sehen ist. Zu Fuss möchte ich jetzt nicht mehr unterwegs sein, denn abgesehen von diesem Platz, der noch etwas beleuchtet ist, scheint mir die Gegend zu unsicher.
Nach einiger Zeit frage ich zwei Uniformierte, die sich bei der Treppe die hinunter zu einem Kiosk steht, unterhalten. Erst auf den zweiten Blick merke ich, dass nur einer ein Polizist ist. Der andere hat eine fantasievolle Trapperuniform an und will wissen, wohin ich denn möchte.
"Ich suche ein gutes Restaurant für das Nachtessen." "Oh, da müssen sie gar nirgens hin, hier auf der anderen Seite der Plattform gibt es ein sehr gutes Restaurant für Meeresfrüchte udn Fische. Allerdings öffnet es erst um sieben.
Das tönt vielversprechend, solange kann ich hier warten, sind ja noch immer ziemlich viele Leute hier. Der Mann empfiehlt mir inzwischen, das Dinosaurier-Museum zu besuchen, das sich ebenfalls hier befindet. Direkt unter der Plattform mit dem Monument.
Es ist ein überraschendes Museum. Nach dem Eingang durch den roten Vorhang glaubt man in einer anderen Zeit zu sein. Der Mann in seiner Uniform orientiert sich an Indiana Jones, heisst aber Ricardo und das Museum heisst Huilassik Park. Huila ist das Departement, dessen Hauptstadt Neiva ist.
Ricardo, so heisst mein Indiana Jones, ist der Besitzer und Betreiber des Museums. Ausserdem hat er alle Figuren und die Landschaft selber erschaffen. Er zeigt darin die Entwicklung des Lebens von den kleinsten Mikroben im Meer bis zum grossen Mammut, das vor Millionen Jahren hier durch die Gegend gestampft ist.
Das Mammut ist auch gleich die letzte Figur, die er erschaffen hat, es fehle noch das Jungtier, und die Dekoration und Ausstaffierung. Eine eindrückliche Arbeit eines engagierten Künstlers. Er erzählt mir auch noch von seinem neuesten Werk: der grössten Christusfigur der Welt, die sich hier in der Nähe von Neiva befindet. Die sollte ich mir unbedingt ansehen. Ich merke mir den Tipp, will später darüber googeln, jetzt lasse ich mich in die Urzeiten ein und mache noch eine Foto von Ricardo im Saurierei, dann ist es schon bald sieben Uhr, das Restaurant öffnet jetzt.
Es stellt sich heraus, dass das wohl eines der besten Restaurants der Stadt ist. Hier stimmt alles. Die elegante Ausstattung, der Service und das Essen. Die Scampi an Currysosse schmecken wunderbar. Dazu ein Glas Weisswein, meine Welt ist in Ordnung. Am Himmel hängt der Halbmond. Schaukelt auf dem Rücken. Ich weiss noch nicht, wie man erkennt, ob er zunehmend oder abnehmend ist, denn hier auf der südlichen Halbkugel ist er wie eine Schaukel oder wie ein Dach, nicht in der Seitenlage wie wir ihn in Europa kennen.
Später lasse ich mir ein Taxi rufen und fahre zurück ins Hotel.
Für einen Ort, von dem ich nichts erwartet hatte, habe ich heute eigentlich ziemlich viel erlebt.
Um mit meiner Kamera den Mond richtig aufzunehmen, muss ich wohl noch etwas üben. Er liegt nur als Sichel über dem Wasser.
Aufbruch: | 20.06.2021 |
Dauer: | 7 Monate |
Heimkehr: | 29.01.2022 |
Kolumbien
Argentinien