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Reisezeit: Juni 2021 - Januar 2022  |  von Beatrice Feldbauer

Versteckter Dschungel

Ein versteckter Dschungel in Lima? Ein Ort der in keinem Reiseführer aufgeführt ist. Ich finde nicht viel darüber im Internet. Umso gespannter bin ich auf unseren heutigen Ausflug.

Juan holt mich ab, wir fahren durch den Santa Rosa Tunnel nach San Juan de Lurigancho. Es ist einer der am dichtesten bevölkerten Stadtteile von Lima, lese ich später im Internet. Und dabei war das hier bis vor 30 Jahren noch weitgehend Farmland. Kaum vorstellbar, dass sich hier Äcker ausbreiteten.

Hier sind aber auch zwei Gefängnisse von Lima. Das kleinere Penal Castro Castro und vor allem das berüchtigte Penal de Lurigancho. Das grösste Gefängnis Perus. Wir fahen daran vorbei, am grossen Tor und entlang der langen hohen Mauer hinter der sich eine andere Welt versteckt. Eine Welt mit eigenen Gesetzen, mit Geschäften, Drogenhandel, Prostitution, Arbeitsstätten, Schlafräumen. Gebaut wurde das Gefängnis für 2'000 Leute, heute sind darin gut 10'000 Gefangene untergebracht. Unter absolut misslichsten Verhältnissen. In Zellen von 40 m2 wohnen zum Beispiel bis zu 20 Menschen. Ich habe es ergoogelt, und kann tatsächlich hier gar nicht darauf eingehen, es ist zu schlimm. Wickipedia weiss darüber sehr viel. Selber habe ich vor ein paar Jahren ein Gefängnis in Iquitos besucht. Was ich da gesehen habe, war schlimm, aber hier in Lima muss es unsäglich sein.

Wegen der beiden Gefängnissen gibt es übrigens in der ganzen Umgebung kein Internet-Signal.

Hier im Bezirk San Juan de Lurigancho wohnt auch die Familie von Juan und sie hat mich heute zum Mittagessen eingeladen. Das heisst, seine Mutter und seine Schwester hatten ihm vor ein paar Tagen vorgeschlagen, mich mitzubringen. Das ist sehr ungewöhnlich, das ist mir bewusst und entsprechend zurückhaltend bin ich, als wir vor dem Haus anhalten. Es ist ein zweistöckiges Haus in einer staubigen Strasse. Vor dem Haus steht unter einer Plache ein alter Pickup. "Der gehört meinem Vater, er ist von 1985", erklärt mir Juan. Ich glaube nicht, dass der je noch einen Meter fahren wird, aber vielleicht täusche ich mich. Sein Vater ist soeben vorgefahren mit einem neueren Pickup, der aber auch schon seine vielen Spuren hat.

Wir treten ins Haus und sind direkt im Wohnzimmer. Ein Raum mit einem grossen Tisch, vielen Stühlen, ein Sofa, ein Regal mit einem Fernseher. Weiter geht es in die Küche und durch den Gang zu den Zimmern, auch eine Treppe gibt es nach oben. Carlos, sein Vater begrüsst mich offen und herzlich, auch Mutter Enriquette freut sich offensichtlich über meinen Besuch, aber sie ist noch etwas schüchtern. Genau wie ich, wir fühlen uns alle etwas unsicher. Im Haus wohnen noch die drei Schwestern mit ihren Kindern und der jüngere Bruder Hugo. Die Unterhaltung ist auf allen Seiten zurückhaltend.

Ich setze mich an den Tisch und schon bald steht ein Teller voller Reis vor mir. Arroz con Pollo. Reis mit Poulet. Es schmeckt sehr gut. Mit viel Koriander. Dazu ein Stück Hühnchenbrust. Ausserdem hat Juan eine Flasche Inca Cola besorgt. Es ist ziemlich viel Aufregung, einen ausländischen Gast im Haus zu haben.

Beim Essen wird die Unterhaltung einfacher. Woher ich bin, ist die Frage.
Hugo, der jüngere Bruder, kennt sich mit den Schweizer Fussballern aus. Ausserdem kennt er die Währung der Schweiz. Ansonsten ist nicht viel bekannt von dem kleinen Land in Europa. Ausser der Mutter war noch niemand im Ausland. Sie hat die Tochter besucht, die in der Nähe von Paris lebt. "Wie hat es dir gefallen?" will ich wissen. "Es war kalt." Das ist eigentlich die ganze Essenz von ihrem einmonatigen Aufenthalt. Ja, ihre Tochter hatte ihr eine warme Jacke gegeben, aber es war eben doch kalt. "Es war Februar und wir waren fast die ganze Zeit zu Hause".

Ein Onkel wohnt in Canada und vor vielen Jahren hat ein Amerikaner Carlos ein Angebot gemacht, in den USA zu arbeiten. Als Möbelschreiner. Das wäre ein guter und legaler Job gewesen, doch Carlos zog es vor, bei seiner jungen Familie zu bleiben. Langsam fällt die Befangenheit, ich fühle mich wohl.

Darf ich ein Foto machen frage ich daher. Selbstverständlich, sehr gern. "Ich möchte es gern für meinen Blog benutzen und vielleicht auch ins Facebook stellen." Ob sie Facebook kennen? Natürlich kennen sie Facebook. Unerwartet habe ich drei neue Facebook-Freunde. Und die Foto schicke ich gleich an Juan per WhatsApp, damit er sie an seine Eltern weiterleiten kann.

Die Zeit vergeht schnell. Wir wollen in den versteckten Dschungel. Der liegt nur ein paar Strassen weiter. Kennt die Familie den Ort? Nein, niemand war je dort. "Dann kommt doch einfach mit, begleitet uns zur Selva escondida".

Es gibt ein Zögern, eine der Schwestern flüstert zur Mutter: "Der Eintritt kostet 5 Soles."

"Ich lade euch alle ein, und würde mich sehr freuen, wenn ihr mitkommt." Jetzt kommt Leben rein, kurz darauf sind wir unterwegs. Nur Vater Carlos muss zur Arbeit. Er arbeitet als Chauffeur, fährt mit seinem Pickup los.

Vor allem die Buben freuen sich, jede Abwechslung wird gern angenommen.

Vamos

Vamos

Tatsächlich sind es nur ein paar hundert Meter bis zum Haus am Hang, über dessen Türe der geheimnisvolle Name steht: Selva escondida, versteckter Dschungel.

Juan hat inzwischen Enrique abgeholt. Enrique, den Barkeeper der Huaca Pucllana. Die beiden Männer haben sich nicht gekannt, aber bald gemerkt, dass sie in der gleichen Gegend wohnen. Und ausserdem kannte Enrique den Ort auch nicht. Deshalb hatten sie schon beim ersten Pisco diesen Ausflug vereinbart.

Hinter dem Haus, nach einem langen Gang sind wir draussen im Garten wo ein steinigiger Pfad den Hang hinauf führt. Hier wachsen sehr viele Bäume. Ein Überbleibsel aus der Zeit, als hier noch Farmen waren. Alle anderen Bereiche wurden gerodet, Häuser gebaut, aber hier hat jemand ein Stück Land in seinem Ursprung belassen. In all dem Staub und der Wüste gibt es ein paar Bäume.

Viele Früchte wachsen hier und alle sind beschriftet. Bananen, Mangos, Oliven, Pacay, Lucuma, Papayas, Vieles kenne ich bereits, aber alles hier an diesem kleinen Ort zu sehen ist eine Überraschung.

Enrique und Juan Manuel

Enrique und Juan Manuel

Ausser Papayas und Bananen gibt es zur Zeit keine Früchte an den Bäumen. Eine rote Blüte präsentiert sich fotogen an einem kleinen Busch und dann stocke ich. Diese Blüte kenne ich doch, aber das kann gar nicht sein. Ich sehe mir das Schild an. Manzana. Tatsächlich Apfel. Ein einziger Blütenzweig hat sich an dem kümmerlichen Baum entwickelt. Früchte wird das hier wohl kaum geben.

Ganz oben gibt es einen kleinen Aussichtspunkt. Blick über die Stadt. Blick unter der Wolkendecke auf eine riesige Stadt und die Hütten, die auch hier am Hang kleben. Weit ist der Horizont heute nicht, die Aussicht ist schlechter denn je.

Unwillkürlich wird mir bewusst, dass ich in einer Stadt lebe, in der Wetter keine Rolle spielt. Es gibt während mehr als einem halben Jahr keine Sonne. Aber auch keinen Regen. Nur feuchte Luft, ausgetrocknete Flussläufe, bewölkten Himmel. Während ich in den letzten Tagen mit wachsender Sorge die Entwicklung in der Schweiz beobachtete, die Stürme, die überlaufenden Seen, die reissenden Flüsse, bin ich hier an einem Ort, wo man sich über Wetter nicht einmal unterhält.

Tatsächlich liegt Lima eigentlich in der Wüste. Nur am Meer und in den Tälern zu den Bergen gibt es Vegetation, die Berge und Hügel sind sofort trocken und steinig.

Und dabei gibt es in der Stadt selber auffallend viele Bäume und grüne Parkanlagen. Doch das braucht es, zu staubig wäre sonst die Stadt. Der Staub hat sich im übrigen auch auf die Blätter der Bäume gelegt und zwar so stark, dass er kaum mehr abzuwischen ist. Darum ist es kein Fehler in der Foto, dass alles grau erscheint, es ist tatsächlich alles staubig-grau.

Ein Äpfelbäumchen

Ein Äpfelbäumchen

Ein kleines Stücklein grün in der Einöde der Millionenstadt

Ein kleines Stücklein grün in der Einöde der Millionenstadt

Die Zuckerrohrstangen werden die Buben zuhause hacken und den Saft aussaugen.

Die Zuckerrohrstangen werden die Buben zuhause hacken und den Saft aussaugen.

Ganz oben gibt es einen kleinen Shop wo wir uns eine kleine Erfrischung kaufen. Es gibt ein paar Getränke und Cookies. Die Buben wünschen sich Zuckerrohrstangen. Beim Pozo (Brunnen) machen wir noch ein Erinnerungsfoto und dann sehen wir uns die Kaninchen und die Hühner in den Käfigen an.

"Schau mal, dieses Kaninchen ist traurig", erzählt mir Daniel, einer der Buben. "Ja, kein Wunder, das lebt hier ganz allein und ausserdem steht es auf einem Gitter, das tut ihm bestimmt weh." Tierhaltung ist hier eben völlig anders als bei uns, auch wenn man Tiere mag. Vor allem Enrique scheint Tiere zu mögen. Schnell hat er den kleinen Hundewelpen entdeckt, den eine junge Frau dabei hat. Auch mit den Kaninchen nimmt er Kontakt auf und mit den Gänsen auf dem Rückweg unterhält er sich einen Moment.

Wieder zurück beim Eingang entdecken wir ein paar Katzen, die hier wohl ein Paradies haben.

Danach geht es zurück nach Hause wo wir uns kurz darauf verabschieden. Doch bevor ich gehe, wollen mir die Buben noch ihre Tiere zeigen. Drei junge Kaninchen sind es. Noch leben sie gemeinsam in einem Käfig, aber es könnte sein, dass es bald mehr werden. Denn es sind zwei Männchen und ein Weibchen...

Wir verabschieden uns von allen. Es war ein heiterer Nachmittag, ich glaube, dass ihn alle sehr genossen haben. Jeder auf seine eigene Art. Leben in dieser Millionenstadt ist tatsächlich weit weg von der Natur. Der versteckte Dschungel war ein Erlebnis für alle.

Juan fährt zum Haus von Enrique. Er wohnt an einer sehr belebten Strasse mit vielen Geschäften auf beiden Seiten. Die Nachbarin hat einen grossen Früchteshop in dem sie all die Früchte verkauft, von denen wir die Bäume gesehen haben.

Und dann gibt es tatsächlich noch einmal eine ungewöhnliche Einladung. "Kommt doch rein, ich mache Euch eine Limonade".

Im Wohnraum sind Enriques Mutter und seine Schwester dabei, Kleidungsstücke zu überprüfen und in Plastikhüllen zu stecken. Sie führen einen kleinen Kleiderladen vor dem Haus. Am Abend werden sie ihre Kleiderständer hinaus stellen und Jacken und Hosen verkaufen. Sie haben sie in Camarra, dem grossen Textilbezirk von Lima geholt.

Jetzt überprüfen sie die Teile auf hängen gebliebene Fäden, ordnen, sortieren nach Farben, nach Modellen.

Ausserdem gibt es im Wohnzimmer einen neueren Verkaufsstand für Sandwiches. Seit der Pandemie versucht man mit dem kleinen Snackstand, etwas Geld zu verdienen. Am Morgen ist der kleine Platz vor dem Haus ein Verpflegungsstand, am Abend ein Kleiderstand. Angeboten werden die Kleider auch per Facebook. Genau so wie die Bücher, die die ältere Schwester anbietet. Enrique macht den Lieferservice und fährt mit seinem Fahrrad durch die Stadt, liefert die Bestellungen aus, bevor er am Mittag in einem der besten Restaurants an der Bar arbeitet. Man lebt zusammen, hilft sich gemeinsam. Auch in diesem Haushalt leben viele Menschen zusammen, anders wäre das Leben und Überleben überhaupt nicht möglich.

Er hat uns übrigens eine wunderbare warme Limonade gemacht. Mit viel frischem Zitronensaft.

Bevor wir ihn verlassen, schenkt er mir noch eine Pacay. Diese Frucht konnte ich bei den Bäumen in der Selva nicht zuordnen. Jetzt sehe ich sie und weiss, dass man sie mir in Iquitos als Eiscreme des Dschungels vorgestellt hatte. Weil die Kerne in der harten Schale kühl sind und etwas nach Vanille schmecken.

Juan fährt mich zurück zu meinem Haus. Dann fährt er zum Flughafen, vielleicht gibt es heute noch eine Taxifahrt.

Pancay - Eiscreme des Dschungels

Pancay - Eiscreme des Dschungels

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Die Reise
 
Worum geht's?:
Immer wenn der Mensch seine Zukunft plant, fällt das Schicksal im Hintergrund lachend vom Stuhl. Dieser Satz hat mich durch das Corona-Jahr begleitet. Eigentlich war mein Abflug nach Südamerika am 3. April 2020 gebucht. Doch dann kam alles anders.
Details:
Aufbruch: 20.06.2021
Dauer: 7 Monate
Heimkehr: 29.01.2022
Reiseziele: Peru
Kolumbien
Argentinien
Der Autor
 
Beatrice Feldbauer berichtet seit 20 Jahren auf umdiewelt.
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