Neustart
San Agustin
Heute gäbe es im ganzen Ort keinen Strom, hat mir Yolanda gestern Abend erklärt. Und dadurch natürlich auch kein Internet.
Das heisst ausruhen, in der Hängematte den Tag abhängen, später vielleicht ein Spaziergang ins Dorf. Tatsächlich weiss ich überhaupt nichts von San Agustin. Dass ich hierhergekommen bin, war nur weil ich in den ersten Tagen in Medellín etwas über die wichtigsten Ausgrabungen einer alten Kultur gelesen hatte. Der Ort kam auf meine to-go-Liste und wurde nicht mehr gestrichen, auch wenn keiner meiner Tipp-Geber ihn je erwähnt hat.
Der zweite Grund, dass ich noch immer hier bin, ist weil es mir hier in der Finca so gut gefällt. Beim Frühstück bin ich der einzige Gast. Bis gestern, 1. November waren noch viele Touristen hier, aber jetzt ist es ruhig geworden. Kolumbianer sind abgereist, das lange Wochenende ist vorbei. Mir ist das gerade recht. Ich streife durch den Garten, liege in der Hängematte, chatte ein wenig mit einer Freundin über exotische Blumen. In der Schweiz hat man die Uhren auf Winterzeit zurückgestellt. Dadurch ist der Unterschied nur noch sechs Stunden. Das macht das Rechnen einfacher. Beim Zeiger der Uhr muss ich jetzt nur noch auf die Gegenseite gucken, um zu wissen, wie spät es in der Schweiz ist. Ich hinke nur noch sechs Stunden hinterher.
Gegen Mittag verlasse ich das Ressort, gehe die steile Strasse hinunter und erreiche nach einem kurzen Spaziergang den Ort.
Ich komme an einem Schulhaus vorbei. Es scheint, dass hier der Unterricht wieder aufgenommen wurde. Vor dem Haus entdecke ich verschiedene Skulpturen, die die Kinder aus Plastikflaschen und anderem Abfall gemacht haben. Auch eine Mauer mit schönen Grafitti fällt mir auch.
Die meisten Geschäfte sind noch geschlossen, noch sind wenige Menschen in den Strassen. Ich komme zum Hauptplatz mit der mächtigen Kirche aus Backsteinen. Vor allem gefällt mir das wunderschöne hohe Portal mit den spitzen Bügen aus Holz und dem relativ niedrigen Eingang. Als ich eintrete sehe ich einen Moment nur Dunkelheit. Ich muss mich einen Moment in einen der Bänke setzen, bis ich Details erkenne. Spannend, wie sich das Auge (und meine sich abdunkelnde Brille) sich auf die Lichtverhältnisse einstellt. Plötzlich kann ich alles erkennen und der Raum, der durch hohe farbige Fenster erhellt wird, erscheint plötzlich licht und hell. Viele Schnitzereien in Holz zieren diese Kirche. Die Rückwand des Alters ist mit vielen Schnitzereien gemacht, die Fenster haben Holzrahmen und individuell geschnitzte Kopfteile, hinter dem Altar stehen drei auswändig verzierte Ehrensessel, geschnitzt aus Holz.
Ich setze mich noch eine Weile in den Park vor der Kirche, beobachte die Leute. Viele sind nicht unterwegs, ein paar ältere Männer, die beim Gespräch zusammensitzen, ein Guia, der eine Gruppe Gäste für einen Rundgang abholt.
Auch ich gehe jetzt weiter auf meinem eigenen Stadtrundgang. Die Hauptstrasse hinunter und bald sehe ich rechts eine weitere Kirche. Ein breites weisses Gebäude mit zwei Glockentürmen an beiden Ecken. Eine ungewöhnliche Kirche. Sehr niedrig und flach. Ich trete ein. Die Kirche ist der Madonna von Lourdes gewidmet. Hinter dem Altar steht sie in einer kleinen Felsengrotte. Auch hier bleibe ich einen Moment sitzen. Nicht zuletzt auch, weil es hier drinnen recht kühl ist, denn draussen brennt inzwischen die Sonne recht heiss.
Christus mit den schlechten Zähnen. Was sich Leute alles einfallen lassen, um für eine Heilung zu danken. Die Betonskulptur hat bestimmt mehr gekostet, als die Zahnarztrechnung.
Etwas die Strasse hinunter ist ein weiterer Platz. Ein Park mit vielen Bäumen, die im Moment ihre Blätter fallen lassen. Der Boden ist übersät mit dürrem Laub und rosa Blüten. Hier, wo anscheinend nicht dauernd gekehrt wird, kommt ein wenig Herbststimmung auf. Das, wovon meine Freunde in der Schweiz seit Tagen schwärmen. Ein wenig Traurigkeit, ein Gedanke an das Vergehen der Zeit, des Lebens und ans kommende Ende des Jahres. Eine Weile lasse ich mich von diesen Gedanken treiben, sehe den Müttern zu, die ihre Kinder von der nahen Schule abholen und an der Hand nach Hause bringen. Ein paar Buben spielen Fussball, verschwinden aber auch bald.
Ich gehe zurück, habe bei der weissen Kirche den Markt gesehen. Hier ist man inzwischen beim Mittagessen. Überall, wo es eine Küche gibt, wird gegessen. Da verköstigen die Marktleute, Kinder, Guias und Chauffeure. Es gibt Suppe, Hühnchen, Reis, Tamales und viele andere Menus. Es riecht fein und die Küchen sehen sehr sauber aus.
Ich schlendere durch die wenigen Marktstände, die noch offen sind. Lasse mir eine Chulupa-Frucht aufschneiden. Es scheint eine weitere Variante einer Maracuja, einer Passionsfrucht zu sein, von der es unzählige Sorten gibt.
Und dann entdecke ich plötzlich einen alten Bekannten: an der Wand ist ein Quetzal aufgemalt. Als Graffiti sitzt er stolz neben einem schwarz-gelben grossen Vogel. Der Quetzal ist ein sehr scheuer Vogel. Er kann in der Natur kaum je gesehen werden und lässt sich auch nicht in einen Käfig sperren. Er ist der Nationalvogel von Guatemala und mir daher sehr vertraut.
Später suche ich ein Café und finde ein sympathisches Lokal, wo allerdings die Kaffeemaschine defekt ist und es darum nur schwarzen Kaffee gibt. Ist aber auch ok.
Eine ältere Frau kommt an meinen Tisch und fragt, ob ich ihr ein paar Limonen abkaufen könnte. Es scheint, dass sie Unterstützung braucht und ich drücke ihr meine Münzen in die Hand, brauche aber keine Limonen. Das freut sie so sehr, dass sie gar nicht mehr aufhören kann, sich zu bedanken. Sie heisst Maria Dolores, und ich frage mich, wie man dazu kommt, ein Mädchen schon von Geburt an mit Schmerzen auf den Weg zu schicken. Dolores ist zwar ein wunderschöner Name, aber er bedeutet die Schmerzensreiche. Zum Abschied bitte ich sie um ein Foto und etwas zögerlich nimmt sie die Maske ab. Das Lächeln kommt zögerlich, die Dolores zeigt ihre Wirkung.
Ein Taxi fährt mich zurück zum Hotel. Heute Abend gibt es das Thai-Curry. Ich bin auch jetzt der einzige Gast und werde von Patty, der Schwester von Yolanda bestens bedient.
Strom war übrigens den ganzen Tag da. Nach dem Nachtessen beginne ich im Restaurant, wo der Internet-Zugang am besten funktioniert mit meinem Blog, Morgen werde ich ihn abschliessen, bevor ich auf eine Tour gehe.
Aufbruch: | 20.06.2021 |
Dauer: | 7 Monate |
Heimkehr: | 29.01.2022 |
Kolumbien
Argentinien