Neustart

Reisezeit: Juni 2021 - Januar 2022  |  von Beatrice Feldbauer

Familienleben

Nachts bin ich ein paar Male aufgewacht vom Geschrei wilder Tiere. Zuerst waren es die Hunde, die lautstark vor dem Haus ihre Rangordnung neu überprüften, doch später tönte es noch viel fürchterlicher. Die beiden harmlosen Hauskatzen lieferten sich einen Kampf auf Leben und Tod. Das Geschrei war ohrenbetäubend und durchdringend. Doch plötzlich war Ruhe. Am Morgen erzählt Rosa, dass sie mitten in der Nacht hinaus gegangen sei, weil sie den Radau nicht mehr ausgehalten hätte. Die Katzen hätten sich einen Kampf gegen einen der Hunde geliefert und waren kurz daran, sich an ihm zu verbeissen.

Soviel also zu wilden Tieren im Dschungel. Dass dann kurz vor Sonnenaufgang die Hähne des Dorfes übernommen haben ist selbstverständlich. Ich glaube ich bin in Südamerika noch kaum je ohne Hahnengeschrei aufgewacht.

Als erstes kommt Lyvia in die Küche, schürt das Feuer, setzt einen Topf Wasser auf. Danach geht sie hinaus, rüstet Yucca und fängt an, diese zu raffeln. Vorbereitungen für die nächste Brotbackaktion. Liborio kommt und sucht mein Moskitonetz nach Insekten ab. Er findet tatsächlich die eine oder andere, die versucht, raus zu kommen.

"Wir müssen das Netz unbedingt besser verschliessen nächste Nacht", verspricht er mir und kann nicht verstehen, dass ich es so locker nehme. Es scheint, dass er sich für jeden meiner wenigen Moskitostiche persönlich verantwortlich fühlt. "Sie haben mich nachts an den Armen etwas massiert", lache ich, "Und die, die mir die längste Zeit ums Ohr gesummt ist, hat mich nicht gestochen, jedenfalls so lange nicht, wie ich sie gehört habe".

gerüstete Yucca

gerüstete Yucca

tagsüber harmlos, nachts wilde Bestien

tagsüber harmlos, nachts wilde Bestien

Bast aus Palmen hängt überall zum Trocknen auf.

Bast aus Palmen hängt überall zum Trocknen auf.

Ich mache einen kurzen Spaziergang durchs Dorf, treffe überall auf Hühner und Hähne, auf ein paar Gänse, Hunde und wenige Katzen.

Beim Fluss treffe ich auf einen jungen Mann. Bewaffnet mit einer Machete und einem Gewehr will er heute auf die Jagd gehen. Wohin er denn gehe, und was er schiessen werde, will ich wissen, und merke gleich, wie blöd meine Frage eigentlich ist. "Das was ich finde." ist daher auch seine lapidare Antwort, denn schliesslich geht er nicht zum Spass jagen, sondern, damit die Familie Fleisch hat.

Danach geht er hinunter zum Fluss, der mir heute noch etwas tiefer scheint, als gestern. Das Wasser verdunstet zusehends. Es ist Trockenzeit.

Als ich zurück komme, ist mein Tisch gedeckt, Extra für mich hat Rosa Kaffee mitgebracht und Kondensmilch. Dass ich eigentlich ganz gut auf Instantkaffee verzichten kann, darf ich jetzt nicht sagen, denn der Kaffee ist nur für mich, wird hier kaum getrunken.

Dazu brät mir Rosa zwei Spiegeleier und ein paar Kochbananen. Mein Frühstück. Wer sich übrigens noch für das Brot von gestern interessiert. Es besteht nur und ausschliesslich aus Yuccamehl, das mit dem Wasser des Flusses gemacht wurde. Kein Salz. Es schmeckt daher ziemlich fade und ich lasse es besser bleiben. Das mit dem Flusswasser ist mir suspekt, auch wenn es abgekocht ist. Aus dem gleichen Gund versuche ich auch nur einen kleinen Schluck des Getränkes, das Lyvia gestern aus den Palmfrüchten gemacht hat. Wir haben zwar genügend Wasser in Flaschen mitgebracht, aber Lyvia verwendet für sich und die Familie ausschliesslich Flusswasser, das zum Teil etwas länger in den Bottichen steht, so dass sich die Sedimente setzen können.

Heute ist auch ihr Mann hier. Juan. Er kam gestern nach Hause, als ich mich schon in meine Hängematte zurück gezogen hatte. Er erzählt mir von sich. Von seinem Leben und wie wunderbar sie es hier hätten. "Wir haben alles was wir brauchen. Essen alles direkt von der Natur. Haben unsere eigene Yucca, unsere Ananasfelder, haben genügend Fisch und manchmal Fleisch aus dem Dschungel. Unser Leben ist perfekt." Das zeigt mir wieder einmal, dass das, was ich sehe und so wie er sein Leben ist, völlig auseinander geht. Armut ist nicht immer das, was wir meinen. Armut oder Reichtum hat etwas mit uns selber zu tun und weniger mit dem was man an materiellen Dingen hat. Dass die Beziehung in der Familie sehr gut ist, merkt man ohne grosse Gesten. Gestern Abend sassen Lyvia und ihre Töchter noch eine Weile zusammen am Tisch im vertrauten Gespräch mit einer Taschenlampe.

Trotzdem möchte Juan wissen, woher ich komme und warum ich hier bin. Beim Stichwort woher, hole ich einen meiner aufblasbaren Globusse hervor und wir suchen Peru und die Schweiz. Ich versuche mit Hilfe einer Taschenlampe die verschieden langen Tage von Peru und Europa zu erklären, merke aber bald, dass das gar nicht so einfach ist. Jedenfalls hat es mit der Schieflage der Erde und der Nähe zum Aequator zu tun, dass in Peru die Tage fast das ganze Jahr von 6 bis 6 dauern. Liborio erklärt denn auch, dass wir Europäer mit 24 Stunden rechnen, während man in Peru von 12 Stunden ausgeht. Es ist neun Uhr morgens, oder neun Uhr nachts. 21.00 Uhr wird hier nicht verstanden.

Vor allem die Kinder interessieren sich für den Globus und Belen fragt, ob ich noch einen zweiten hätte, sie möchte ihn gern zur Schule mitnehmen, wenn die am Montag wieder beginnt. Später sehe ich, dass sie die beiden Bälle aufgehängt hat, was mich spontan dazu bringt, ihr zu erklären, dass dieses Bild nicht der Realität entspricht, dass wir nur eine Welt haben, für die wir Sorge tragen müssen.

"Ja", meint sie, "das haben wir in der Schule schon gelernt. Darum habe ich dieses Bild gemacht: Passen wir auf unsere Umwelt auf".

Passen wir auf unsere Umwelt auf.

Passen wir auf unsere Umwelt auf.

Luz freut sich über den Flamingo, den ich mitgebracht habe.

Luz freut sich über den Flamingo, den ich mitgebracht habe.

Die zwei Schwestern mit einer Freundin

Die zwei Schwestern mit einer Freundin

Juan

Juan

Belen, 14 Jahre alt

Belen, 14 Jahre alt

Liborio schlägt einen kurzen Spaziergang vor. Nicht weit, nur eine halbe Stunde oder so und Juan will uns begleiten. Wir ziehen los. Juan mit dem Gewehr voraus, ich mit dem Hut mit Moskitonetz hinterher und Liborio macht die Nachhut. Natürlich in Gummistiefeln, schliesslich habe ich diese für diese Gelegenheit extra gekauft.

Ein schmaler Pfad führt in den Dschungel. Es ist der Weg, der zu den Feldern führt. Zu den Yuccafeldern, wo die Abuelita gestern den ganzen Tag gearbeitet hat. Es geht unmerklich bergauf. Kein Wunder reden sie immer vom Monte, wenn sie von ihren Feldern sprechen.

Juan und Liborio zeigen mir immer wieder Pflanzen, die sie für ihr Leben brauchen, Zum Beispiel die Blätter, in denen sie den Fisch einwickeln, bevor sie ihn auf den Grill legen. Oder die Pflanzen, die Wundheilung beschleunigen, das Fieber senken, mit denen ein Aufguss gegen Kopfschmerzen gemacht wird. Vor allem Liborio kennt sich sehr gut damit aus. Seine Mutter hat ihm schon in der Jugend viel beigebracht und als junger Mann wurde er von einer Lehrerin ein paar mal nach Cusco in eine Schule eingeladen, um den jungen Leuten von den Medizinalpflanzen des Waldes zu erzählen.

Überhaupt scheint er schon vieles gemacht zu haben, bevor er vor knapp drei Jahren zum Chefe der Boras seiner Gruppe ernannt worden ist. Warum gerade er, will ich von ihm wissen, wurde er gewählt? "Nein", erklärt er mir, "das hat mein Vater schon sehr früh so bestimmt. Ich bin zwar der vierte von acht Kindern (vier Söhne, vier Töchter) aber mein Vater bestimmte mich zu seinem Nachfolger. Doch dann ist er viel zu früh gestorben und ich war noch zu jung. Da wurde mein Onkel Rafael Chefe".

Rafael habe ich sehr gut gekannt und oft besucht in den letzten Jahren. Er ist vor knapp 3 Jahren gestorben und da übernahm Liborio das Amt. Ganz ohne Probleme mit seinen Brüdern, versichert er mir. Es war nie ein Thema, dass jemand anderes Chefe werden könnte.

bevor man die Raffeln aus Metall hatte, hat man diese Stämme mit den Dornen zum Raffeln der Yuccas verwendet

bevor man die Raffeln aus Metall hatte, hat man diese Stämme mit den Dornen zum Raffeln der Yuccas verwendet

Wir dringen immer tiefer in den Wald hinein, überqueren kleine Wasserläufe, mit Baumstämmen als Brücken, die mein Gleichgewicht herausfordern, es wird zunehmend heiss und ich merke, dass ich vergessen habe, meine Wasserflasche mitzubringen. "Gibt es nicht irgendwo diese Lianen, die immer Wasser spenden?" will ich wissen und natürlich findet Juan ganz schnell eine dieser praktischen Pflanzen und haut mit seiner Machete ein entsprechendes Stück heraus. Leider reicht das nur für kurze Zeit, mein Akku wird langsam leer und ich denke daran, dass wir den Weg ja auch wieder zurück gehen müssen.

Das hilft für einen Moment...

Das hilft für einen Moment...

Beso del amor - Liebeskuss

Beso del amor - Liebeskuss

Ananasfeld

Ananasfeld

Gleichgewicht nicht verlieren... auch wenn der persönliche Akku wieder unten ist...

Gleichgewicht nicht verlieren... auch wenn der persönliche Akku wieder unten ist...

Ein Frosch wie ein verwelktes Blatt

Ein Frosch wie ein verwelktes Blatt

Kaputt...

Kaputt...

Wir sind schon fast 90 Minuten unterwegs, als ich entscheide, dass wir umkehren. Zwar sind meine Begleiter etwas enttäuscht, vor allem Juan hätte mir gern seinen Acker gezeigt und vielleicht etwas mehr Tiere und nicht nur die paar Affen, die an einem Ort über uns in den Bäumen herumsprangen, aber der Rückweg bestätigt mir, dass es höchste Zeit war, zurück zu gehen.

Im Haus bin ich völlig erschöpft und reif für einen Neustart in der Hängematte. Die anderen verschwinden am Nachmittag nach und nach und auf meine Nachfrage bestätigen sie mir, dass sie unten am Fluss waren, um sich zu waschen. Ich könnte zwar eine Erfrischung dringend brauchen, kann mich aber nicht aufraffen, in dem braunen stehenden Wasser einzutauchen.

Auf dem Herd steht übrigens immer ein Topf mit Essen. Reis und gekochter Fisch mit einer Sosse aus Zwiebeln und Tomaten. Wer Hunger hat, bedient sich, setzt sich irgendwohin, egal ob an den Tisch, auf den Boden oder in die Hängematte. "Dafür gibt es bei uns keine Regeln", meint Juan, als ich ihm erzähle, dass in der Schweiz meistens am Mittag gemeinsam gegessen wird und auch das Nachtessen in vielen Familien an bestimmte Zeiten gebunden ist.

"Wir arbeiten und essen, wann wir mögen, ganz ohne Einteilung". Man hat hier ja auch oft keine Uhr und nur die Sonne bestimmt den Tagesablauf. Um sechs Uhr wird es hell und ziemlich genau zwölf Stunden später übernimmt die Nacht.

Später mache ich einen kurzen Spaziergang zum grossen Platz wo ich die Jugend des Dorfes antreffe, die hier Volleyball spielen. Die Stunde vor Sonnenuntergang ab fünf Uhr scheint dazu genau der richtige Zeitpunkt zu sein, denn es ist zwar noch immer warm, aber die Hitze des Tages hat etwas nachgelassen.

Mitten drin ist Rosa. Sie ist eine der leidenschaftlichsten Spielerinnen und macht sowohl in der Männermannschaft wie auch im Frauenteam mit. Die Frau hat eine riesige Energie und vor allem kann sie wunderbar lachen.

Rosa

Rosa

Später hat Rosa noch eine besondere Überraschung für mich. Eine ihrer Tanten, bei denen sie am Nachmittag zu Besuch war, hat ihr einen Frosch geschenkt. Sie hat ihm bereits die Haut abgezogen und fritiert ihn in der Pfanne. Natürlich geht sie davon aus, dass ich keinen Frosch esse, aber sie liebt es, mich damit aufzuziehen. Mit Hochgenuss verspeist sie ihren Leckerbissen, gibt aber gern ein Bein an Liborio ab, der dadurch zu seinem ersten Frosch kommt. Es schmecke wunderbar, bestätigt er mir.

Später überprüft Liborio noch einmal mein Moskitonetz. "Micky Maus wird heute auf dich aufpassen", verspricht er mir lachend, denn er hat das Küchentuch, das am Morgen als Tischset, diente um das Loch gewickelt wo die Hängematte das Netz durchbricht. Auf der anderen Seite hat er eines seiner T-Shirts genommen.

Ich bin sehr bald eingeschlafen, später in der Nacht aber wieder erwacht. Einer meiner Krimis hat mich dann eine Weile durch die Nacht begleitet. Die Katzen blieben diese Nacht ruhig.

Gute Nacht Welt.

Auch zu diesem Kapitel gibt es auf meiner eigenen HP ein paar ergänzende Videos.

www.bison.ch Peru-Videos

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Die Reise
 
Worum geht's?:
Immer wenn der Mensch seine Zukunft plant, fällt das Schicksal im Hintergrund lachend vom Stuhl. Dieser Satz hat mich durch das Corona-Jahr begleitet. Eigentlich war mein Abflug nach Südamerika am 3. April 2020 gebucht. Doch dann kam alles anders.
Details:
Aufbruch: 20.06.2021
Dauer: 7 Monate
Heimkehr: 29.01.2022
Reiseziele: Peru
Kolumbien
Argentinien
Der Autor
 
Beatrice Feldbauer berichtet seit 20 Jahren auf umdiewelt.
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