Neustart

Reisezeit: Juni 2021 - Januar 2022  |  von Beatrice Feldbauer

Einleben

Ich bin jetzt also in Kolumbien. In einem Land, mit dem ich mich noch nie befasst habe, von dem ich eigentlich keine Ahnung hatte. Ausser dass es gefährlich sei und sehr schön. Wobei das von der Gefährlichkeit sich auf alte Informationen bezieht. Auf Geschichten von Drogen, auf vage Infos, die, wie ich inzwischen weiss, längst überholt sind. Aber so Informationen, die nie ganz richtig eingeordnet wurden, die halten sich ganz besonders lange.

Auch dass Medellin die Drogenhochburg ist, gehört zu diesen Informationen. Und dann gibt es noch mehr beängstigende Stichworte: Drogenkrieg, Drogenkartell, Pablo Escobar, tägliche Morde.

Ich werde den Geschichten auf den Grund gehen und vor allem neue Geschichten erleben. Denn Escobar ist seit fast 30 Jahren tot, Und Medellin soll sich der neuen Zeit angepasst haben, soll eine moderne Stadt geworden sein.

Mein erster Spaziergang zum Botero-Platz gestern hat mich sehr angenehm überrascht. Die Stadt ist grün, das kann ich schon bei mir vor dem Haus erkennen. Überall Bäume die aus der Erde wachsen und nicht nur im Beton eingeklemmt sind. Schmale Strassen mit viel Verkehr. Auch vor meinem Haus. Da läuft immer etwas. Dass ich kein Fenster habe, ist ein Nachteil, kann aber, da ich im Parterre bin, natürlich auch ein grosser Vorteil sein, denn ich bin hier sehr geschützt. Kann lange schlafen in meiner Schlafhöhle.

Gleich auf der anderen Strassenseite ist ein Kiosk wo ich einen Kaffee trinken kann. Am Sonntag, als ich ankam, war er geschlossen, aber unter der Woche herrscht hier immer Betrieb.

Gegenüber von meiner Wohnung

Gegenüber von meiner Wohnung

Ich will es langsam angehen, hab genügend Zeit für Medellin. Will es ganz auf meine Art entdecken. Ohne alles schon im Internet gegoogelt zu haben. Ich will meine eigene Sicht erleben.

In den ersten beiden Tagen befasse ich mich erst einmal mit meiner Küche, denn ich hatte mir vorgenommen, manchmal selber zu kochen. Das geht gleich schon mal schief, denn die Küche ist sehr sparsam eingerichtet. Da komme auch ich mit meiner Flexibilität an meine Grenzen.

Der grosse Topf um die Kartoffeln zu kochen ist in Ordnung, soweit es darum geht, ihn gefüllt auf die Gasflamme zu stellen, aber schon beim Wegnehmen, verbrenne ich mir fast die Hand, denn er ist aus Eisen und die Griffe glühend heiss. Topflappen finde ich keine, also muss eines der Handtücher dran glauben. Nàchstes Thema: Bratpfanne. Die winzige reicht grad mal für ein Spiegelei, also muss eine normale Pfanne herhalten. Doch das geht dann ebenfalls schief, denn alles brennt an, ich kann die Pfanne ja auch gar nicht halten, um die Kartoffeln darin zu drehen.

Also den Rest erspare ich Euch, ich bin jedenfalls nicht verhungert, aber ich gehe erst einmal einkaufen.

Meine Einkaufstour führt mich in die andere Richtung als gestern und irgendwann erreiche ich ein Geschäftsviertel mit vielen kleinen Läden in einem grossen Gebäude. Hier kann ich auch gleich eine Sim-Karte fürs Handy besorgen, ich bin also jetzt auch hier immer online unterwegs. Die peruanische Karte hat bis hierhin durchgehalten, wird aber heute ablaufen.

Auch Geld kann ich mir hier besorgen. Ich beziehe das Maximum und bin jetzt Millionärin. 1'900'000 kolumbianische Pesos bekomme ich für 500 Franken. Wie sich das anfühlt!

Die vielen kleinen Läden, bieten alles an, was man sich wünschen kann, jeder ist für ein Thema spezialisiert: viele Kleider, Schuhe, Elektro-Artikel, überwiegend Handys und Zubehör. Dann aber auch Partyzubehör, Kosmetik, Tierfutter und alles was das Tierbesitzer-Herz erfreut. Und dann wieder Schuhe und Handyhüllen. Genau so eine brauche ich auch. Eine durchsichtige mit rosa Sternchen. Hübsch. Eine zum Umhängen gibt es auch hier nicht. Ich hatte in Spanien eine gekauft, habe sie dann aber doch nie umgehängt, war eben doch zu auffällig.

Viele kleine Spezialläden

Viele kleine Spezialläden

Und dann endlich ein grösseres Kaufhaus, das unter anderem Küchenzubehör hat. Topflappen, eine richtige Bratpfanne, Abwaschmittel, Abwaschbürste, ScotchBrite, Küchenpapier, Abwaschlappen, WC-Papier und eine Einkaufstasche aus Stoff. Die reicht zwar für meine Einkäufe nicht ganz, aber für künftige kleine Einkäufe verzichte ich gern auf die vielen Plastiksäcke. Einzig Abtockentücher kann ich keine finden.

Einiges, was ich hier gekauft habe, könnte ich auch in einem der kleinen Quartierläden besorgen aber ich es mag es halt, wenn ich eine grössere Auswahl habe und alles beisammen finde.

Interessant ist das Angebot im Kaufhaus auch sonst. Weihnachten scheint schon bald vor der Türe zu stehen, es gibt Weihnachtskugeln, Girlanden und ganz viele rote Weihnachtssocken für den Weihnachtsmann.

Doch noch fast grosser als das Weihnachtsangebot ist das Halloween-Zubehör. Das ist ziemlich blutrünstig mit abgeschnittenen Händen und Füssen, Totenkopfmasken, aber auch schwarzen Raben, Kürbissen und farbigen Herbstblättern. Und dabei bin ich in Medellin, der Stadt des ewigen Frühlings. Was wollen die mit Herbstdekorationen?

Nach Hause bringt mich ein Taxi.

Was, schon Weihnachten?

Was, schon Weihnachten?

Halloween kommt auch bald

Halloween kommt auch bald

Weihnachtsdeko gegen Halloween

Weihnachtsdeko gegen Halloween

Abwaschmittel - welches nimmt man da?

Abwaschmittel - welches nimmt man da?

Mein Motto: Happy is the new pretty

Mein Motto: Happy is the new pretty

Die Taxis von Medellin sind gelb

Die Taxis von Medellin sind gelb

Jetzt klappt das Kochen schon besser. Aufwändiges Kochen darf von mir eh nicht erwartet werden  - Spaghettis gehören übrigens auch in mein Repertoire.

Jetzt klappt das Kochen schon besser. Aufwändiges Kochen darf von mir eh nicht erwartet werden - Spaghettis gehören übrigens auch in mein Repertoire.

Am zweiten Tag klappt das mit dem Kochen schon viel besser. Auch Küchentücher habe ich inzwischen. Selbstgemacht. Das Badetuch hat irgendwann beim ersten Versuch Flammen geschlagen (nur ganz kleine und sie waren sofort unter dem Wasserhahn), aber es war nicht mehr zu retten und hat jetzt ein verkohltes Loch. Also habe ich es in kleine Tücher geschnitten, die jetzt viel handlicher sind.

Und wenn wir schon beim Haushalten sind. Ich habe auch die Waschmaschine in Betrieb genommen. Das ist schon sehr praktisch, auch wenn die Aufhängung im Lichtschacht klein ist. Aber es war alles innert wenigen Stunden trocken.

einer meiner Quartierläden

einer meiner Quartierläden

Kehrichtabfuhr unterwegs

Kehrichtabfuhr unterwegs

Am zweiten Tag machte ich einen erneuten Ausflug. Mein Ziel der Plaza de luces, der Park der Lichter in der City. Ich nehme mir genügend Zeit, setze mich irgendwo in ein Cafe und beobachte die Strasse. Die Strassenhändler, die ihre Früchte und Avocados lauthals anbieten. Viele sind sogar mit Lautsprecher unterwegs. Auch vor meiner Haustüre habe ich schon mehrmals einen gehört. Sie sind in der ganzen Stadt unterwegs. Dann die Imbissstände mit ihren Tamales, in Maisblätter eingewickelte Maismasse mit Fleisch oder Käse, Chorillos - fritierter Brandteig, Empanadas - Teigtaschen mit verschiedenen Füllungen. Ausserdem frische Fruchtsäfte oder solche mit verschiedenen Aromen.

Ausserdem ist direkt hinter mir ein Frisörsalon, auch da wage ich zwischendurch einen Blick auf den attraktiven jungen Herrencoiffeur, bei dem sich grad ein Kunde den Bart schneiden lässt.

Es ist noch hell, als ich auf dem Platz der Lichter ankomme. Die hohen Säulen waren mir auf dem Weg zum Botero-Platz schon aufgefallen und nachdem ich ein wenig gegoogelt habe, weiss ich jetzt auch, worum es sich handelt. Während der Drogenzeit war dieser Platz ein beliebter Drogenumschlagsplatz. Auch Prostitution fand hier statt und die Gebäude rundum zerfielen zusehends.

Vor ein paar Jahren wurde der Platz neu gestaltet mit über 300 Lichersäulen die bis zu 24 Meter hoch sind. Es gibt viele Bänke, helle zusätzliche Lampen und einen kleinen Bambushain.

Ich setze mich auf eine Bank, beobachte die Leute und warte bis die Dunkelheit einbricht und die Lichter langsam mehr Stärke bekommen.

aqui estamos las mujeres resist lendo en el territorio
Hier sind wir die Frauen, die in diesem Gebiet Widerstand leisten

aqui estamos las mujeres resist lendo en el territorio
Hier sind wir die Frauen, die in diesem Gebiet Widerstand leisten

Edificio Vasquez - das Kulturzentrum und Zentrum für Gewaltfreiheit

Edificio Vasquez - das Kulturzentrum und Zentrum für Gewaltfreiheit

Bei einsetzender Dunkelheit schlendere ich weiter, komme durch den Markt, der schon am Sonntag-Abend hier in der Fussgängerzone aufgesteltl wurde und bei dem von vielen Ständen Musik ertönt. Und Angebote per Lautsprecher verkündet werden. Es ist ein Riesenlärm, doch all das wird noch mit einer ratternden Maschine übertönt. Es ist eine alte Zuckerrohr-Presse. Ich kaufe einen Becher voll und sehe eine Weile zu. Dann gehe ich weiter und bald bin ich wieder am Botero-Platz. Auch heute hat es wieder viele Leute hier. Obwohl mir jemand sagt, das wäre nichts, hier wären vor der Pandemie jeden Abend tausende von Menschen unterwegs.

Die Gebäude sind beleuchtet und hier ist es trotz der vielen Menschen etwas ruhiger.

Zuckerrohr

Zuckerrohr

Die alte Zuckerrohrpresse übertönt sogar die Musik aus den nahen Boxen

Die alte Zuckerrohrpresse übertönt sogar die Musik aus den nahen Boxen

Ausserhalb des Parkes aber ist es wieder unglaublich laut. Lautsprecher, Musik, Verkehr. Beim kleinen Gemüsemarkt sehe ich einen alten Mann, der im Abfall wühlt. Zuerst vermute ich, dass er nach Plastikabfällen sucht, so wie ich viele Leute sehe, die Abfallkübel nach Petflaschen absuchen und mit riesigen Säcken durch die Strassen ziehen, doch als ich genauer hinsehe, merke ich, dass er etwas Essbares sucht.

Ich stupse ihn, strecke ihm eine 2000 Pesos-Note hin und erschrecke über sein glückliches Gesicht. Fast ist er aufgesprngen, als er mich überrascht und erfreut ansieht und ich fühle mich beschämt, denn 2000 Pesos sind grad mal 50 Rappen.

Eine Weile sehe ich noch dem Verkehr und dem ganzen Getümmel zu, dann halte ich ein Taxi an und lasse mich nach Hause fahren. Inzwischen ist es richtig dunkel geworden und bei Dunkelheit will ich nicht mehr auf den Strassen unterwegs sein. Der Heimweg führt durch verschiedene Quartiere, die ich nicht beurteilen kann, auch wenn Medellin inzwischen sicher sein soll.

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Die Reise
 
Worum geht's?:
Immer wenn der Mensch seine Zukunft plant, fällt das Schicksal im Hintergrund lachend vom Stuhl. Dieser Satz hat mich durch das Corona-Jahr begleitet. Eigentlich war mein Abflug nach Südamerika am 3. April 2020 gebucht. Doch dann kam alles anders.
Details:
Aufbruch: 20.06.2021
Dauer: 7 Monate
Heimkehr: 29.01.2022
Reiseziele: Peru
Kolumbien
Argentinien
Der Autor
 
Beatrice Feldbauer berichtet seit 20 Jahren auf umdiewelt.
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