Neustart

Reisezeit: Juni 2021 - Januar 2022  |  von Beatrice Feldbauer

Tren fin del Mundo

Die Morgendämmerung erreicht mein Zimmer gegen sechs Uhr. Ich habe also ganz viel Zeit, mich bereit zu machen, denn um acht Uhr soll ich abgeholt werden. Ich habe mich trotz finanziellem Engpass noch einmal für eine Tour entschieden. Auf die Fahrt mit dem Zug ans Ende der Welt will ich nicht verzichten.

Ich stecke vorsorglich noch ein paar tausend Pesos meines absoluten Notvorrats ein und stehe punktlich um acht vor meinem Häuschen. Verschiedene Busse und Vans fahren vorbei. Die sammeln bestimmt die verschiedenen Tourteilnehmer ein. Irgendwann wird auch meiner kommen. Doch da hält keiner. Einer fährt jetzt schon zum dritten Mal vorbei, doch meine Adresse scheint nicht auf seinem Zettel zu sein. Die erste halbe Stunde bleibe ich ruhig, es kann ja nicht jeder um die gleiche Zeit abgeholt werden. Doch nach halb neun werde ich unruhig, was, wenn keiner hält, wenn ich nicht abgeholt werde? Welche Optionen habe ich dann? Ich gehe zurück ins Zimmer, schlage im Internet die Abfahrtszeiten des Zuges nach. Der fährt nur einmal am Tag. Um 9.30 Uhr. Es wäre jetzt also Zeit, dass ich abgeholt werde, sonst fährt der Zug ohne mich. Ich lasse noch einmal 10 Minuten verstreichen, dann halte ich ein Taxi an. Zum Glück sind auch die um diese Zeit unterwegs, suchen Passagiere.

"Ja", meint mein Chauffeur, "wir haben noch Zeit, die Fahrt zur Bahnstation dauert gut 20 Minuten, du wirst den Zug erreichen." Aber ob ich meine Gruppe noch erreiche? Ob ich den Rest des Ausfluges mitmachen kann? Es wird sich zeigen...

Beim Schalter des Zuges akzeptiert man meinen Voucher, den ich von der Reiseagentur bekommen habe. Nur den Eintritt in den Park muss ich noch bezahlen, der war im Paket nicht inbegriffen. Und wie treffe ich meine Gruppe? Es ist kein Name aufgeführt. Eine junge Frau hört meine Fragen, sie erkundigt sich, wo ich gekauft hätte. Sie heisst Vanessa, ist Tourguide. Sie fotografiert meine Quittung, speichert meine Nummer und sagt, ich soll erst einmal mit dem Zug fahren, der Rest werde sich erledigen.

"Tranquilla", meint Vanessa, "ich suche dir eine Lösung".

In der Bahnhofhalle sehe ich, dass es verschiedene Züge gibt. Die beiden ersten sind bereits losgefahren, jetzt wird Zug Nummer 3 bereit gemacht, ich bin in Gruppe 4. Also genügend Zeit, mich umzusehen. Der Zug ist sehr beliebt und begrüsst seine Gäste aus der ganzen Welt. mit ihren Landesflaggen. Auch eine Schweizer Fahne entdecke ich nach einigem Suchen in einer Ecke.

Endlich, der Bahnsteig ist freigegeben, ich darf einsteigen. Ich bekomme Kopfhörer und werde gefragt, aus welchem Land ich komme. Schweiz. "Dann ist es die Sprache sechs", erklärt die junge Bähnlerin. Wahrscheinlich ist das die Standardsprache, wenn es nicht spanisch sein soll. Englisch. Doch es gibt auch die deutsche Version, ich werde also bestens mit Informationen versorgt werden.

Es scheint, dass die drei Dampflokomotiven bereits unterwegs sind, vor meinem Zug steht eine Diesellok. Doch das spielt nicht so eine grosse Rolle, wenn man drin sitzt. Und immerhin, soweit habe ich es geschafft. Wir fahren los.

Inzwischen hat es angefangen zu regnen, draussen zieht eine grüne Landschaft hinter einem Wasserschleier vorbei.

Im Ohr habe ich die Geschichte der Bahn. Die gleichzeitig die Geschichte der Stadt Ushuaia und eines Gefängnisses ist.

Damals, als das Gefängnis hier in Ushuaia gebaut wurde, gab es in dem Ort grad mal 20 Häuser. Das Gefängnis war für die schlimmsten Verbrecher bestimmt, denn hier gab es kein Entrinnen. Zu weit sind alle Fluchtwege, zu schwieirg die Überlebensbedingungen. Ausserdem sollten die Gefangenen beim Aufbau des Ortes mithelfen, denn für Argentinien war es von Anfang an sehr wichig, dass dieser Aussenposten bewohnt ist. Immerhin würde er geografisch ja wohl eher zu Chile gezählt werden.

1902 wurde mit dem Bau des Gefängnisses und gleichzeitig mit der Bahn begonnen. Es waren zuerst Holzschienen, auf dem die Züge fuhen. Die Wagen wurden zum Teil von den Gefangenen gestossen oder von einer Dampflokomotive gezogen. Das Leben war extrem hart. Während des ganzen Jahres wurden die Häftlinge am morgen in die Wälder geschickt, wohin sie zum Teil fuhren oder neben der Schiene liefen. Sie mussten die Bäume fällen und das Holz wurde mit der Bahn zurück tranportiert. Es diente zum Aufbau der Häuser.

Die Gefangenen waren streng bewacht und ausserdem an den Füssen zusammen geketten. Gearbeitet wurde in Gruppen, bewacht von einer Gruppe von Wärtern und einem zweiten Kreis von bewaffneten Polizisten. Ein Entkommen war unmgölich, die Bedingungen waren unmenschlich. Die Stimme aus meinem Kopfhörer erzählt in neutralem Ton von Ungeheuerlichkeiten. Ich war im Winter 2008 hier, als hier alles vor Kälte und Eis erstarrte. Aber auch jetzt im feuerländischen Sommer ist von Sommer kaum etwas zu spüren. Unter diesen Bedingungen arbeiteten die Gefangenen während Jahren. Es wurde keine Rücksicht auf Witterung oder Kleidung genommen. Wer nicht mehr arbeiten konnte, musste zur Strafe stundenlang auf einem Baumstumpf ausharren, bis die Gruppe am Abend zurück ins Gefängnis fuhr... erzählt die Stimme im Ohr.

Ein paar mal gelang es trotz allen Sicherungen jemandem, aus dem Gefängnis zu fliehen. Doch sie kamen nicht weit, bald wurden sie in der Umgebung wieder aufgegriffen, denn wohin sollten sie sich wenden in dieser kalten Umgebung ohne menschliche Behausungen. Für die Gefangenen war es aber trotz der unmenschlichen Härte besser, wenn sie arbeiten konnten, denn die Langeweile und Einöde im Gefängnis waren ebenfalls kaum auszuhalten.

Wir erreichen einen Halt, als eine Meldung im Whatsapp eingeht. Belen vom Reisebüro meldet sich und entschuldigt sich für das Missverständnis von heute Morgen. Sie fragt, wie ich mich fühle, wie es mir gehe. Sie schlägt vor, dass ich mit dem Zug wieder zurück fahren und morgen den Restausflug nachholen könnte. Doch ich kann morgen nicht, da muss ich mich wieder um meine Finanzen kümmern. Eben erst hatte ich meine Sorgen zur Seite geschoben, jetzt sind sie wieder da. Nach kurzem hin und her verspricht mir Belen, eine Lösung zu finden, damit ich nach Ankunft des Zuges mit einer Gruppe weiter reisen kann. Es gäbe keine Verbindung in den Wald, aber sie versuche, mit jemandem vom Zug Verbindung aufzunehmen.

"Tranquilla", schreibt sie, "ich finde eine Lösung".

Wegen dieser kurzen Unterhaltung habe ich jetzt verpasst, dass der Halt für den Besuch eines Wasserfalls gedacht gewesen wäre. Die anderen Passagiere kommen bereits zurück. Wasserfälle kenne ich aus meinem Land viele, also verzichte ich auf den Besuch, fotografiere stattdessen die Dampflokomotive von Zug Nummer 3, der jetzt zur Abfahrt bereit ist Fauchend und prustend fährt er los, verschwindet um die Kurve und lässt noch ein paarmal seine Pfeiffe ertönen

Inzwischen hat es sogar aufgehört zu regnen und die Wolken verziehen sich. Langsam zeigt sich der blaue Himmel. Wir fahren durch eine sehr feuchte Gegend. Überall gibt es kleine Tümpel, Wasserlachen, Seen, dazwischen grüne Flächen mit vielen Baumstümpfen. "Die Bäume wurden ganz unten abgeschnitten. So kann man noch heute erkennen, zu welcher Jahreszeit sie gefällt wurden. Die etwas längeren Baumstümpfe wurden im Winter gefällt, dann wenn die Gegend mit einer dicken Schnee- und Eisschicht überzogen war", erklärt die Stimme in meinem Ohr und ich erinnere mich an meinen letzten Besuch, als man beim kurzen Halt froh war um die heisse Schokolade, die die Bähner verteilten. Daran konnte man sich die Finger wärmen. An den Besuch eines Wasserfalls hatte niemand gedacht.

Warm ist es allerdings auch jetzt nicht und die Regentropfen die langsam am Fenster herunter fliessen zeigen auch jetzt noch eine düstere Stimmung. Endzeitstimmung. Wie mag es erst für die Gefangenen gewesen sein.

1947 wurde das Gefängnis aufgehoben. Aus humanitären Gründen. Der Zug fuhr noch eine Weile für lokale Sägewerke aber 1949 erschütterte ein Erdbeben die Stadt Ushuaia und ein Erdrutsch überschüttete einen Teil des Geleises, so dass der Betrieb endgültig eingestellt wurde.

Bis er 1994 als Tren al fin del Mundo, als Zug ans Ende der Welt, als Touristenattraktion wieder in Betrieb genommen wurde und inzwischen vom Ausflugsangebot Ushuaias nicht mehr wegzudenken ist.

Beim Endbahnhof kommt die Durchsage, dass sich Beatriz bei der Zugbegleiterin melden soll. Tatsächlich hat Belen einen Guia organisiert. Ich werde von Manuel erwartet und kann in einen der bereit stehenden Busse einsteigen.

Es regnet wieder als wir durch den Wald fahren, wo Manuel vom Parque National erzählt, dem grössten Nationalpark Argentiniens, der hier im Süden des Landes liegt und nur zu einem kleinen Teil öffentlich ist. Alles ist hier geschützt, es darf kein Blatt abgerissen, keine Blume gepflückt werden.

Seit den Abholzungen durch die Gefangenen ist der Wald geschützt, denn die Böume wachsen hier nur ganz langsam. Ungefähr einen Zentimeter im Jahr, erklärt Manuel. Die Bäume wachsen zuerst in die Höhe, weshalb man den Urwald hier auch Nadelwald nennt. Ich sehe genauer hin, doch die Erklärung folgt sofort. Die Nadeln beziehen sich auf das dünne Wachstum in die Höhe. Die Bäume kämpfen um die besten Bedingungen und sehen daher wie dünne Nadeln aus. Erst wenn sie eine gewisse Höhe erreicht haben, wachsen sie auch in die Breite.

Es gibt hier eigentlich nur drei verschiedene Bäume, die Biodiversität ist nicht sehr hoch unter den erschwerten natürlichen Bedingungen. Auch einheimische Tiere gibt es nicht viele. Der Fuchs, das Guanaco gehören dazu, an das dritte Tier kann ich mich nicht mehr erinnern. Auffällig ist, dass es hier kaum Insekten gibt, nicht einmal Ameisen und natürlich auch keine Wespen oder andere Stechmücken. Dafür gibt es keine genauen Erklärungen, ausser, dass Feuerland eine Insel ist und das Übersetzen schwierig sei. Ein Tier, das sich allerdings ungehindert ausbreitet, ist der Biber. Vor Jahren wurde er auf Feuerland ausgesetzt um ihn zu jagen. Zu spät merkte man, dass der Bedarf für Biberfelle zu gering ist, die Biber sich aber wegen fehlender Feinde jetzt ungehindert verbreiten und die Gegend teilweise komplett verändern, indem sie Wasserläufe umleiten und Bäume willkürlich fällen. Der Biber ist hier zu einer echten Plage geworden.

Es hat wieder aufgehört zu regnen, als wir bei einem Parkplatz ankommen. Hier endet die Route National, die durch ganz Argentinien führt. 3079 km sind es von hier bis Buenos Aires, oder gar 17848 bis Alaska, bis zum Beginn der Panamericana, auf der ich zu Beginn meiner Reise in Lima und Kolumbien öfters unterwegs gewesen bin und die in Chile einen abrupten Wechsel von der West- zur Ostküste direkt nach Buenos Aires und dann als Nationalstrasse 3 bis hier in die Bahia Lapataia führt. Irgendwie ein eindrücklicher Punkt. wenn man sich die Strecke auf einer Karte von Nord- und Südamerika vorstellt.

Von hier gibt es einen Wanderweg, der zur La Pataia-Bucht führt, die Teil des Beagle-Kanals ist. Es weht ein kühler Wind, wir sind alle in Jacken und Schals eingehüllt und auch ich bin froh, dass ich meinen blauen Tuarec-Schal aus Marokko dabei habe. Der Wind peitscht über die Wiesen, die Wolken reissen auf, es ist ein wunderschöner Tag. Vor allem als hinter den Wolken eindrückliche Berge hervorkommen. Zum Teil kann man dort hoch oben Schneefelder entdecken.

Nach dem kurzen Spaziergang fahren wir weiter, halten kurz bei einem Informationsstand, wo es Toiletten gibt und fahren dann weiter zum Acigami-See. Auch hier wieder sind wir ganz nahe der chilenischen Grenze. Die Berge auf der anderen Seite des Sees gehören zu Chile.

Hier am See bleiben wir einen Moment, geniessen die Aussicht, die Ruhe, wandern ein paar Schritte am Kiesstrand oder setzen uns auf eine Bank.

Ich versuche mit der Kamera ein paar Pflanzen einzufangen, versuche mich an die Informationen zu erinnern, die ich während der Fahrt bekommen habe. Es ist eine sehr wilde und ursprüngliche Gegend. Die Bäume haben sich über die Jahre hier behauptet. Sie müssen alle uralt sein, wenn man ihr langsames Wachstum beachtet.

Es gibt übrigens im ganzen Nationalpark keine Übernachtungsmöglichkeiten. Einzig ein paar Zelte und wenige Camper können wir auf dem Rückweg beobachten. Man will die Gegend zwar den Touristen öffnen, doch der Schutz der Natur geht vor.

Lenta heisst der weit verbreitete Baum in der lokalen Sprache. Meine App bezeichnet sie als Antarktische Steinbuche.

Lenta heisst der weit verbreitete Baum in der lokalen Sprache. Meine App bezeichnet sie als Antarktische Steinbuche.

Misodendrum punctulatum, eine parasitäre Mistel, typisch in der Gegend.

Misodendrum punctulatum, eine parasitäre Mistel, typisch in der Gegend.

Barba del arbol - Baumbärte nennt man sie hier in der lokalen Spache.

Barba del arbol - Baumbärte nennt man sie hier in der lokalen Spache.

Nach diesem letzten Halt fahren wir zurück in die Stadt. Dabei fällt mir am Stadtrand das neue Quartier auf. Viele neue Mehrfamilienhäuser sind hier in den letzten Jahren entstanden. Es sind Blöcke, alle genau gleich, sie unterscheiden sich einzig in ihren intensiven Farben. Eine merkwürdige Ergänzung zu den traditionellen einfachen Häusern der Stadt. Ushuaia hat sich in den letzten Jahren tatsächlich sehr vergrössert.

Der Bus verteilt die Gäste in die verschiedenen Hotels, doch ich steige im Zentrum aus. Hab heute noch überhaupt nichts gegessen und ausser dem Wasser, das ich mitgebracht hatte, auch nichts getrunken, brauche jetzt dringend etwas in meinen Magen.

Angesichts meiner anhaltenden Misere im Portemonaie kehre ich bei einem einfachen Imbiss ein und lasse mir eine Pizza servieren. Fein ist sie nicht wirklich, viel zu schwer mit unglaublich viel Käse darauf, aber sie füllt den Magen und meine Finanzen danken es. Noch kann ich meine Unterkunft nicht bezahlen, meine Sorgen, die ich im Laufe des Tages wegstecken konnte, holen mich wieder ein. Mein Zimmer habe ich bis übermorgen gebucht. Bis dann brauche ich eine Lösung. Doch noch ist Sonntag, noch besteht die Chance, dass morgen die Western-Union-Agentur tatsächlich geöffnet ist, wie der Zettel beim Schalter seit gestern verspricht.

Schinkenpizza

Schinkenpizza

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Die Reise
 
Worum geht's?:
Immer wenn der Mensch seine Zukunft plant, fällt das Schicksal im Hintergrund lachend vom Stuhl. Dieser Satz hat mich durch das Corona-Jahr begleitet. Eigentlich war mein Abflug nach Südamerika am 3. April 2020 gebucht. Doch dann kam alles anders.
Details:
Aufbruch: 20.06.2021
Dauer: 7 Monate
Heimkehr: 29.01.2022
Reiseziele: Peru
Kolumbien
Argentinien
Der Autor
 
Beatrice Feldbauer berichtet seit 20 Jahren auf umdiewelt.
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