Neustart
Adrenalin
Ich weiss gar nicht genau, was mich an dem heutigen Tour erwartet. Eigentlich wollte ich gestern nur noch versuchen, zum Wasserfall zu kommen. Da ich kein gelbes Taxi fand, fragte ich bei den Touranbietern nach. Da kam schon der erste Rückschlag, eine Catarata gäbe es nicht hier. Es brauchte einige Zeit, bis ich verstand, dass man den Wasserfall hier Cascada nennt. Im Wörterbuch heisst beides Wasserfall, aber manchmal ist man wohl einfach zu sehr auf seine eigenen Wörter eingefahren. Jedenfalls wollten die beiden, die die Fahrten organisierten keine Fahrt anbieten, die nur zur Catarata ginge, das wäre ein Teil der Tour. Einer Ganztagestour, die morgens um acht oder neun anfange und am späten Nachmittag fertig sei.
Da ich wenn möglich nicht in einer Gruppe mit jungen Leuten unterwegs sein möchte, die alle Hügel und Höhen im Schnelltempo durchrasen, bat ich um eine Spezialfahrt. Nur für mich. Der Preis war in Ordnung und ich vereinbarte mit Wilson, dass er mich am Morgen um neun abholen würde. Ich soll die Fahrt später am Abend noch per WhatsApp bestätigen.
Am Morgen kommt dann die Bestätigung, aber Wilson meint, er käme erst um elf Uhr. Das ist etwas eigentartig für eine Ganztagestour, kommt mir aber gerade Recht, will ich doch noch das Kapitel von gestern fertig schreiben. Hätte ich jedenfalls gern gemacht, wenn es Internet hätte. Doch heute Morgen isr jetzt eben kein Strom mehr, und auch kein Internet. Dumm gelaufen.
Pünktlich um elf fährt der Geländewagen vor. Doch es ist nicht Wilson, sondern sein Bruder Jefferson. Wenigstens ist er sehr sympatisch, ich steige ein.
Wir fahren Richtung Berge, auf Naturstrassen, als er mich fragt: "interessierst du dich für Statuen?" Was für eine Frage bei einer Tour rund um San Agustin, wo zwei weitere Ausgrabungsstätten dabei sind, für die ich vorgestern bereits den Eintritt zusammen mit dem archäologischen Park bezahlt hatte.
"Ja, ich interessiere mich für Statuen, aber auch für Schmetterlinge, für Blumen, für die Landschaft, einfach für alles, was du mir zeigen kannst," erklärte ich und mache ihn gleichzeitig darauf aufmerksam, dass ich etwas Mühe häbe, wenn ich bergauf laufen mmuss. Es wären keine Wanderungen dabei, hatte mir Wilson gestern versprochen, "ich fahre dich überall hin..."
Dass ich solchen Versprechnungen mit Recht nicht mehr traue, ist bald klar. Der erste Halt ist bei El Tablon. Weit unten auf einer Wiese stehen ein paar Statuen, geschützt von einem Bambusdach und natürlich führt da keine Strasse hin.
Jefferson erkundigt sich, wie es beim hinuntergehen wäre, viele Leute hätten Mühe, wenn es steil hinunter ginge. Nein, das ist nicht mein Problem, mein Problem ist die Luft beim Aufstieg.
Doch es geht erstaunlich gut. Die fünf Statuen sind eindrücklich, vor allem die grösste, in der Mitte der Gruppe. Könnte ein Priester sein, mit einem breiten Halsschmuck und einem wuchtigen Nasenring. Dass Jefferson kein Guia ist, merke ich bald, er ist Chauffeur, von den Ausgrabungen hat er nicht viel Ahnung. Auch erklärt er mir, dass die beiden Ausgrabungsstätten heute geschlossen wären, so wie auch das Museum, das hier zum El Tablon gehört. Es ist Privat und wurde während der Pandemie geschlossen. Die beiden Parks aber sind ausgerechnet heute geschlossen, weil am Wochenende viel los war. Nachdem das geklärt ist und wir wieder oben beim Auto angekommen sind, fahren wir weiter. Durch eine grüne Gegend, zwischen Kaffeeplantagen und Bananensträuchern. Weit unten ist ein Tal, dort unten fliesst der Rio Magdalena, der wichtigste Fluss Kolumbiens, der hier in der Gegend entspringt. Auf der anderen Talseite kann ich einen Wasserfall entdecken, doch das ist nicht der, der auf unserer Tour eingeplant ist. Dafür erreichen wir jetzt La Chaquira. Tönt fast wie Shakira.
Ein paar Häuser, ein Verkaufs-Stand an dem man etwas zum Trinken kaufen könnte und ein paar Steinskulpturen. Replicas, weiss Jefferson. Aber es führt ein Weg hinunter in die Schlucht. Ein Weg und dann eine lange gut ausgebaute Treppe. Es gibt hier einen sehr schönen Aussichtspunkt und in den grossen Felsenbrocken eine Figur, die mit erhobenen Händen in die Gegend blickt. Ob es eine Abwehrhaltung ist? Nein, hier kennt sich Jefferson ein wenig aus, es scheint ein Priester zu sein. Vielleicht betet er die Sonne an, die Natur, das Wasser tief unten.
Viel ist von der San Agustin-Kultur eh noch nicht bekannt. Zum ersten Mal wurden die Statuen, die sich in der ganzen Gegend verteilen, 1857 von einem Italiener gesucht, zusammengetragen und protokolliert. Inzwischen gehört die Gegend ins Unesco-Weltkulturerbe.
Auch hier komme ich ganz gut wieder hinauf, ohne dass mir Herz und Lunge zu platzen drohen. Es scheint, dass die vielen Wanderungen inzwischen ihre Wirkung haben. Ausserdem sind wir gemütlich unterwegs. Auch mein Begleiter ist kein Gipfelstürmer, ich rechne es ihm aber hoch an, dass er mich begleitet, denn Chauffeure lassen ihre Gäste in der Regel die Orte allein besuchen. Sie sind nur für den Transport zuständig. Für die Erklärungen ist bei einer Gruppe zusätzlich ein Guia dabei.
Beim Verkaufsstand bestellen wir einen Fruchtsaft. Während der Besitzer diesen zubereitet, meint Jefferson, dass er wahrscheinlich ein Schweizer sei. Er heisse Philipp/Felipe. Nun, das will ich gleich überprüfen und als er mir meinen Baumtomatensaft hinstellt, bedanke ich mich mit einem glarnerischen "Tanggä" Er stutzt nur kurz, und ganz schnell sind wir im Gespräch. Philipp scheint ein Tausendsassa zu sein. Er lebt schon ziemlich lange hier, hat drei Kinder zwischen 3 und 8 Jahren und ist mit einer Kolumbianerin verheiratet. Früher hatte er hier auch noch ein gutgehendes Hotel, doch als die Kinder kamen, fand er, dass er sich lieber mehr Zeit für die Kinder nehmen möchte und seither sind die Bungalows oben auf dem Hügel verwaist. Dafür lief sein Verkaufsstand vor der Pandemie ganz gut. Mindestens 200 - 300 Leute kamen täglich hierher, heute sind es nur noch ein paar Handvoll. Doch das stimmt für ihn im Moment. Er hat schon wieder ein paar Pläne. Allerdings braucht er heute viel Zeit, um die Kinder täglich hinunter zur Schule zu fahren. Das gibt dann 4 Fahrten pro Tag und damit ist er schon recht beschäftigt. Die Idee mit den Replikas kam von ihm. Zwar stellt er sie nicht selber her, aber er war wohl der Initiant der Idee. Wollte, dass die Statuen, deren Originale zum Teil in der ganzen Welt verteilt sind, auch den Einheimischen noch zur Verfügung stehen würden. Es sind Betongüsse, und sie werden in einem der nahen Dörfer hergestellt.
Ich kann mir gut vorstellen, dass es Philipp hier gefällt und dass er an eine Rückkehr in die Schweiz gar nicht denkt. Hier lebt er im Paradies und die Ideen gehen ihm wohl nie aus.
Frisch gestärkt und bereichert nach dieser sympathischen Begegnung fahren wir weiter. Noch einmal gibt es Statuen zu besichtigen. Doch diesmal kann man bis zu der Ausgrabungsstätte fahren. Allerdings gäbe es einen Parkplatz und danach geht es eine Wiese hoch. Doch Jefferson meint zu der Frau, die den kleinen Obolus des Eintritts kassiert, seine Passagierin sei müde vom Laufen. So kann man das natürlich auch sehen.
Die Figuren hier sind speziell, weil sie noch einen Rest der Originalfarben aufweisen. Es scheinen Grabhüter zu sein, jedenfalls stehen sie am Eingang zu Tunnels, die mit schweren Steinplatten bedeckt sind. Da beide Figuren kleine Kinder in der Hand halten, könnte es sich auch um Opfergaben handeln. Bei der rechten Figur ist nur der Kopf eines Kindes ersichtlich, während die andere das Kind mit beiden Händen festhält.
Ich habe nachträglich versucht, mehr über die San Agustin-Kultur zu erfahren, die Forschung scheint aber hier noch ganz am Anfang zu stehen. Soweit bisher bekannt gibt es auch keine Schrift aus der Zeit.
Wir sind schon fast losgefahren, als Jefferson noch etwas einfällt. Er setzt zurück und wir steigen aus. Die Frau, die uns den Eintritt kassiert hat, hat einen wunderschönen Blumengarten. Und viele Töpfe mit Orchideen. Und sie kennt sie alle ganz genau, weiss wann sie blühen, wie sie heissen. Viele der grossblütigen Orchideen stammen ursprünglich aus Asien, sind aber inzwischen hier so verbreitet, dass man sie fast als einheimisch betrachten kann, erzählt sie. Sie hat aber auch andere Blumen, eine Wunderschöne blühende Wachsblume, Amaryllis, die hier fast in allen Gärten leuchten, sogar eine Geranie und die duftende Weihrauchpflanze, die man bei uns auch oft mit Geranien kombiniert sieht. Auch Bromelien und Sukkulenten gibt es viele. Nachdem sie mir alles gezeigt und sich offensichtlich über mein Interesse gefreut hat, fahren wir weiter.
Als wir auf dem Weiterweg kurz anhalten, damit ich die Lulo-Früchte, die ich aus Peru unter dem Namen Cocona kenne, fotografieren kann, fragt uns eine alte Frau, ob sie ein Stück mitfahren dürfe. Natürlich darf sie und sie klettert auf die Hinterbank. Dort sitzt sie und sagt kein Wort, reagiert aber auch nicht, wenn man sie anspricht. Sei scheint nichts zu hören. Wir fahren weiter durch Kaffeeplantagen, an Lulo- und Bananensträuchern vorbei.
Es geht hinauf und hinunter und irgendwann überqueren wir den Magdalenafluss. Etwas weiter oben halten wir an. Hier gibt es eine Stromschnelle. Die alte Frau möchte hier aussteigen. Hätte sie tatsächlich den ganzen Weg zu Fuss gehen wollen? Ihr Sohn wohne etwas weiter oben, er verkaufe Avocados, gerne würde sie uns eine schenken, aber sie hat keine dabei. Dafür übergibt sie Jefferson zwei Eier. Es ist rührend, wie sie ihm die beiden sorgfältig in die Hand legt. Dann trippelt sie mit kleinen Schritten davon. Bergauf.
Wir steigen derweil hinunter zur Stromschnelle. Hier macht der Fluss einen rechten Winkel und das Wasser kämpft sich zwischen Felsen hindurch. Manchmal, wenn es viel regnet, steige der Pegel um mindestens einen Meter, dann sei hier die Hölle los, erzählt Jefferson und zeigt mir ein Video. Wir steigen wieder hinauf, während es jetzt ganz fein anfängt zu regnen. Oben wieder angekommen, stellen wir uns noch einen Moment unter das Dach des kleinen Ladens und ich sehe einer Frau zu, die am Häkeln ist. Was das wird, will ich wissen. Sie macht Hüte und das Garn, das sie benutzt, hat sie selber gesponnen. Aus Bananenfasern. Was für eine Arbeit. Zuerst müssen die Fasern von den Bananenstecken gelöst werden, dann getrocknet und versponnen. Das Häkeln ist dann noch der kleineste Aufwand. Ich kaufe einen Hut, den hätte ich besser schon vorher gekauft, dann wäre ich jetzt nicht so nass geworden.
Zum Dank offeriert sie uns noch etwas vom süssen Honig aus Zuckerrohr. Er ist hart und klebrig und unglaublich süss. Ganz ähnlich wie türkischer Honig, der bei uns jeweils an der Chilbi verkauft wird.
Nächste Station ist ein kleines Dort mit einem Museum. Dieses wird von einer Frau geführt. Ihre beiden Kinder machen am Tisch Hausaufgaben. Es ist dämmrig, es gibt heute in der ganzen Umgebung keinen Strom. „Darf ich der Senora das Museum zeigen?“ fragt das kleine Mädchen. „Ja aber bitte sprich etwas langsamer", bitte ich sie, denn sie redet wie ein Maschinengewehr. „Soooooo musst duuuu sprecheeeeen, “ macht es ihr kleiner Bruder vor.
Die Kleine versucht es zwar, doch sie hat ihre Sätze genau im Kopf, spricht wohl wortgenau das, was ihre Mutter jeweils erzählt und so verstehe ich nicht sehr viel von ihren Erklärungen.
Im Museum sind bunte Bilder vom Leben während der San Agustin-Kultur. Vor allem die Verehrung der Pachamama, der Mutter Erde fällt mir auf. Das scheint ein Begriff zu sein, der in weiten Teilen der Anden verbreitet war. Eindrücklich ist auch der Einfall der Spanier dargestellt. Ein Feuersturm, der alles zerstört und und nicht übrig lässt, was vorher war.
Draussen unter ausladenden Dachkonstruktionen gibt es Gräber. Sie wurden hier so gefunden. Tiefe Gruben und Gruften. Die Kleine, Lisy heisst sie, erzählt genau, was überall gefunden wurde, wie viele Gefässe und Töpfe. Von menschlichen Überresten erzählt sie nichts. Auch auf den Tafeln steht nichts davon. Ganz am Schluss meint sie noch, ich soll doch noch den Shop besuchen und Propina sei freiwillig. Wortgetreu, was bei jeder Führung am Schluss gesagt wird. Natürlich bekommt sie ihre Propina und ihre Augen strahlen.
Ich besuche noch die grosse Kirche und staune über den reichen Blumenschmuck. Rosen und Margeriten zieren den Altarraum. Ein lautes Hupen draussen lockt mich wieder auf die Strasse. Da ist soeben ein Bus vorgefahren. Er wurde wohl früher für Personentrasporte benutzt, aber jetzt scheint er als Lastwaren gebraucht zu werden. Jedenfalls ist er voll beladen mit Backsteinen. Einzig hinter dem Fahrer sind noch ein paar Sitze und gerade klettert eine Frau aus dem hohen Bus, wo längst keine Stufen mehr angebracht sind.
Vom Chauffeur ist keine Spur mehr zu sehen, aber der Motor läuft. Ich finde Jefferson im Gespräch mit einer Frau und sie lädt mich ein, ihr beim Weben zuzusehen. Auch sie arbeitet mit Bananenfasern, die sie zu einem sehr feinen Garn versponnen hat. Damit webt sie ein Tischset. Schon zwei Tage ist sie daran und es wird noch ein paar Tage dauern, bis es fertig wird. Daneben ist der junge Chauffeur beim Mittagessen. „Willst du eine Runde mit mir fahren?“ fragt er. Und ob ich will.
Während er seine Suppe fertig löffelt, sehe ich mir die Blumentöpfe im Hof an. Hier fallen vor allem die wunderschönen weissen Lilien auf.
Später darf ich vorne neben dem Chauffeur einsteigen. Mit Blick auf das silberne Pferd, das auf der Motorhaube steht. Knatternd fahren wir los, einmal um den Hauptpiatz.. Woher ich komme, will der Chauffeur wissen. Er hätte früher, vor der Pandemie auch für den Tourismus gearbeitet, jetzt sei halt alles ganz anders. Er wünscht mir noch eine gute Reise und viele tolle Erlebnisse in Kolumbien, dann muss er mit seinern geladenen Bausteinen an ihren Bestimmungsort.
Und Jefferson fällt noch ein weiterer Ort ein, den er mir zeigen möchte. Im Dorfrestaurant gibt es ebenfalls sehr viele Orchideen. Überhaupt ist es ein spezielles Restaurant. Spezialität sind Guy, Mehrschweinchen.
"Willst du sie sehen?" Fragt der Wirt Natürlich will ich sie sehen. In einem Stall hält er sie in Käfigen über 400 sollen es sein. Ein Mehrschweinchen wiegt 1300 Gramm, ausgenommen sind sie noch 900, am Spiess gebraten ist es noch die Hälfte. Vielleicht wäre es Zeit für ein Mittagessen gewesen, ich habe den Wink nicht verstanden, hatte auch gar keinen Hunger, da ich einerseits gut gefrühstückt hatte und immer erst abends esse. Aber Jefferson hatte zu diesem Zeitpunkt wohl Hunger. Gesagt hat er mir das allerdings erst viel später. So trinken wir also nur einen Kaffee und hören den Erzählungen des freundlichen Wirts zu. Die Pflanze hinter mir, heisse Millionärspflanze. Wenn man sie habe, würde das Geld nur so hereinfliessen. Vielleicht nutzt es auch, wenn man einen Moment neben ihr sitze. Und sein Lavabo bei den Toiletten sei 3000 Jahre alt. Es wurde hier auf dem Gelände gefunden, so wie noch viele alte bearbeitete Steine, die jetzt verteilt in den Häusern benutzt oder in irgendwelche Museen verkauft wurden.
Tatsächlich gibt es auch eine beeindruckende Orchideensammlung, für die seine Frau zuständig sei. Ein junger Mann ist dabei, Kaffeebohnen zu schälen. Es scheint ziemlich anstrengend zu sein, die Kurbel an der Maschine zu drehen, die die Fruchtschale von den beiden Bohnen trennt. Ich stibitze ein paar reife Früchte, vielleicht starte ich mit einer eigenen Kaffeeplantage.
Wir fahren weiter, es ist schon halb fünf. Ob ich noch zum Wasserfall wolle, will Jefferson wissen. Aber klar doch, das war ja der erste Grund für diese Fahrt, lache ich. Ob es denn noch sehr weit sei. Acht Kilometer, meint Jefferson, aber es wäre wohl besser, wenn wir zurück nach San Agustin fahren würden und auf der normalen Strasse hinfahren, die andere Strasse sei eine Naturstrasse. Nachdem ich weiss, wie schnell man auf solchen Strassen vorwärts kommt, finde ich das eine vernünftige Lösung.
Es ist ein eindrücklicher Wasserfall, der im freien Fall über 200 m in die Tiefe stürzt. Hinunter in eine unzugängliche Schlucht. Es gibt einen kleinen Aussichtspunkt, von dem man den besten Blick auf die Kaskade hat. Das braucht allerdings etwas Mut, denn es ist eine Eisenkonstruktion, die einen knappen Meter über den Rand der Schlucht gebaut ist. Nach einigem Zögern traut sich auch Jefferson hinaus und schiesst ein paar Fotos.
Doch es gibt noch weitere Attraktionen. Einen Glassteg, der mindestens fünf Meter hinaus in den Abgrund ragt. Eine Mutprobe. Jedenfalls für Jefferson. Er wäre im Moment lieber nur Chauffeur und hätte im Wagen auf mich gewartet. Aber da er mich begleitet, soll er auch auf den Steg hinaus. Ein paar junge Leute sind noch auf dem Steg und bitten ihn, sie zu fotografieren und hilfsbereit wie er ist, geht er hin und ist unvermittelt auf dem Glasboden. Später setzt er sich noch auf den Boden und das wäre dann doch ein sehr spezieller Moment gewesen, erklärt er mir später. Aber da er jetzt schon einmal hier ist, will er die Möglichkeiten nutzen und ein paar spektakuläre Fotos machen.
Auch auf die Hängebrücke gehen wir noch. Sie wackelt ein wenig, und vielleicht ist auch das eine Mutprobe.
Doch dann entdecke ich die Schaukel. Eine riesige Schaukel, die weit über den Rand der Schlucht hinaus schwingt. Sie steht direkt am Abgrund. Das will ich machen. Unbedingt. „Ich würde in die Hosen machen,“, meint Jefferson, doch da hat er noch keine Ahnung, dass ich ihn mitnehmen will. Undenkbar, unfassbar, er windet sich etwas, bleibt aber trotzdem stehen. Ich bezahle den Eintritt, er weigert sich noch immer. Doch was soll der 30-jährige sagen, wenn die alte Frau, die mehr als doppelt so alt ist wie er, unbedingt dieses Abenteuer wagen will.
Ein junger Mann zieht uns das Gurtzeug an. Zieht es fest und wir setzen uns auf die Schaukel. Jetzt allerdings ist auch mein Herz in der Hose. Hab ich das wirklich gewollt? Was wenn? Nicht denken, nur noch fühlen. „Bitte gut festmachen, auch die Gurte über der Brust! Warum ist die so locker?“ frage ich den Mann, der mich festzurrt. „Damit du dich vornüber beugen kannst. Das muss so sein.“
Ich werde mich hüten, mich vorüber zu beugen!
Wir sitzen fest in unseren Sitzen. Und wohin mit den Füssen? Die möchte ich wenigstens irgendwo abstützen. Langsam werden wir rückwärts hinauf gezogen. Ich habe Schiss. Wer hat mich nur in diese unmögliche Situation gebracht. Es geht immer höher, ich sitze schon ganz schräg, wird das halten? Werde ich nicht aus dem Sitz rutschen? Es hält, unverrückbar bin ich festgemacht und wir steigen noch immer. Ich schliesse die Augen und will doch sehen, was passiert.
Und dann, den Moment werde ich nie vergessen, stürzen wir. Die Seile sind gelöst, wir schwingen nach unten, nach vorn über die Schlucht, ins nichts. Ich sehe nur noch Himmel, höre, dass jemand schreit, war ich das? Und schon schwingen wir zurück, zurück über den festen Grund, und rückwärts höher und höher und gleich wieder nach vorn.
Es war ein unvergessliches Erlebnis. Ein Mann hat mit meinem Handy, das ich zusammen mit der Tasche deponiert hatte, ein Video aufgenommen. Ich gebe zu, wenn ich es sehe, grummelt mir noch immer der Magen, fühle ich dieses bange Angstgefühl, diese Spannung. Fotos gibt es keine, dazu bin ich überhaupt nicht gekommen. Und weil sonst niemand da war, der auf diese verrückte Schaukel gesessen ist, konnte ich auch niemanden sonst fotografieren.
Später im Hotel habe ich mir zur Feier des Tages das Filet Cafe de Paris bestellt, und eine halbe Flasche vom Feinsten.
Das Video findet man inzwischen auf meiner Bison-Seite.
Auf meiner Bison-Seite gibt es ein paar Videos von San Agustin.
www.bison.ch/kolumbien-videos
Aufbruch: | 20.06.2021 |
Dauer: | 7 Monate |
Heimkehr: | 29.01.2022 |
Kolumbien
Argentinien