Neustart

Reisezeit: Juni 2021 - Januar 2022  |  von Beatrice Feldbauer

El Penol

Ich habe schlecht geschlafen. Hatte sogar seit sehr langer Zeit wieder einmal Atembeschwerden. Ob das die Höhe ist? Der Ort liegt auf 1900 m. Der Gipfel des Penol auf über 2100. Oder vielleicht doch der Druck, den ich mir selber mache. Ich will unbedingt diesen Berg besteigen. Ob ich es schaffe?

Ich würde diesen Druck gar nicht brauchen, denn ich muss mir nichts beweisen. Fitness war noch nie eine Eigenschaft von mir. Sportliche Herausforderungen habe ich nie angenommen. Also was solls, wenn ich es nicht schaffe, kehre ich um. Kein Grund mir Sorgen zu machen. Doch das Unterbewusstsein lässt sich nicht so einfach ausschalten, es hat seine eigenen Regeln.

Die Nacht war lang, an Tiefschlaf nicht zu denken. Vielleicht war aber auch die schummerige Belechtung schuld, die blauen Lichtlein im Garten wurden nicht ausgeschalten und gaben einen blauen Lichtschein in mein Zimmer ab. Ja, ich hätte die Storen herunterlassen können, doch ich wollte den Morgen bewusst erleben.

Am ganz frühen Morgen regnet es in Strömen. Vielleicht hat meine Wetter-App doch recht, sie zeigt für die nächsten Tage Regen und Gewitter an. Damit wäre das Thema Treppensteigen eh erledigt. Also kein Grund, sich Sorgen zu machen.

Morgendämmerung

Morgendämmerung

Beim Frühstück steht er über mir, El Penol, dieser Monolith, der einfach nur la Piedra, der Stein, oder the Rock genannt wird. Beim genauer Hinsehen, sehe ich plötzlich eine Gondel die langsam hinaufschwebt. Ich dachte das wäre ein Stromkabel, das hinauf führt, doch da hängt eine Gondel.

Ich schaue wieder hinauf, doch da ist nichts mehr zu sehen. Narrt mich jetzt mein Verstand? Ich google, finde nichts von einem Teleferico am Penol, und doch, da kommt schon wieder eine. Sogar zwei, eine steigt, eine fährt hinunter. Und dann lange nichts mehr.

Also, wenn es eine Gondel gibt, werde ich mit dieser fahren und all meine Sorgen hätte ich mir sparen können.

Jetzt kann ich mein Frühstück geniessen und mich auch noch ein wenig umsehen in dem offenen Restaurant. Von der Decke hängen Mooskugeln mit Pflanzen. Die Leuchter sind alle mit Glitzersteinen und künstlichen Blumen geschmückt. Das Hotel hat tatsächlich einen sehr eigenen Stil. Kitschig-romantisch. Aber nicht schwerer Kitsch, sondern alles in einer verspielten Leichtigkeit.

Das offene Restaurant

Das offene Restaurant

Guaven

Guaven

Ich lasse mir an der Rezeption ein Mototaxi bestellen und sehe mich noch ein wenig im Garten um. Gelb und dunkelrosa Hibiskussträuchen, Orangenbäume und sogar eine Guave kann ich entdecken.

'Zur Seilbahnstation' sage ich zum Taxifahrer, als der eintrifft. "Es gibt keine Seilbahn", wundert sich der, die Gondel ist nur für Warentransporte".

Meine Euphorie hat nur kurz gedauert. Aber immerhin bringt mich mein Taxifahrer 100 meter höher. Zum Beginn der Treppe. Das ist schon wieder 100 näher zum Ziel. Es sind also nur noch gut 100 meter zu überwinden. In Medellin habe ich das auch geschafft. Aber es sind 700 Stufen, meldet sich da mein unsportliches ich. Was solls, auf Stufen kann man sich setzen, man kann überall die Aussicht geniessen, es gibt kein Rennen. Wer oben ankommt gewinnt, nicht wer zuerst da war.

Ich bin jetzt motiviert, nehme den steilen Einstieg fast schon mit links, und geniesse oben schon ein erstes Mal die Aussicht. Geht doch ganz gut. Ich merke, dass ich längst nicht die einzige bin, die miat dem Berg Mühe hat. Sogar ganz junge Leute bleiben immer wieder stehen. Andere gehen locker an mir vorbei, doch die Treppe ist überall breit genug, dass man sich überholen kann, dass man stehen bleiben kann, ausatmen, neu Luft holen.

Und das mache ich. Ich fordere mich nicht bis zum letzten, warte nicht, bis mir das Herz aus dem Kopf springen muss, Bis mir der Kopf fast zerplatzt. Ich nehme mir Zeit. Auf den Stufen ist alle 25 Stufen eine Zahl angebracht. Das hilft mir enorm. Die ersten 100 Stufen geschafft, 200, 300. Etwas über der Hälfte steht eine Marienstatue an einem Abzweiger. Ich nehme sogar die paar zusätzlichen Stufen in Kauf, um sie aus der Nähe sehen zu können. Ich habe ja jetzt die Hälfte geschafft, da werde ich auch den Rest noch schaffen.

Der Blick zurück zeigt, was ich schon geschafft habe. Das ist ja schon ganz beachtlich. Höhenangst habe ich übrigens keine. Solange da ein Geländer ist, kann ich ganz unbesorgt direkt hinunter schauen. Auf all die Stufen und auf die paar Leute, die sich hinauf quälen. Zum Glück sind nicht sehr viele Leute unterwegs. Und anfangs begegne ich immer wieder den gleichen, die an anderen Orten die Aussicht geniessen. Mit der Zeit werde ich etwas langsamer, andere sind wohl jetzt doch weiter. Aber das stört mich nicht. Ein grosser Vorteil ist es, dass es für den Abstieg eine eigene Treppe gibt. So begegnet mir niemand, der mich bereits überholt hatte, und jetzt bereits wieder im Abstieg ist.

Der Blick zurück

Der Blick zurück

Halbzeit

Halbzeit

und das gilt es noch zu schaffen

und das gilt es noch zu schaffen

jetzt ist es nicht mehr weit

jetzt ist es nicht mehr weit

Schritt für Schritt und immer wieder stehen bleiben. Die Aussicht über die Seen genissen, Die steile Felswand mit den Augen nach Orchideen absuchen, zwischendrin sogar einmal auf die Stufen sitzen und eine kurze Chatpause machen. Das alles hilft. Ich habe eine Foto des Steins in den Status gesetzt und jetzt bekomme ich viel Zuspruch. Ich fühle mich also überhaupt nicht allein unterwegs. Auch das hilft ungemein. Und so passiere ich die 500. Stufe und erreiche den Gipfel.

Und die Aussicht ist grandios. Rundum Seen, eine ganze Seenlandschaft mit Inseln, Halbinseln, blauem Wasser und jetzt kommt auch noch die Sonne. Sicher war es ein Vorteil, dass die Sonne noch immer etwas hinter den Wolken versteckt war, so blieb die Temperatur cool. Ich bin tatsächlich nicht ausser Puste, ich kann es richtig geniessen, angekommen zu sein. Im kleinen Imbiss bestelle ich eine Limonade mit Coco und freue mich einfach, es geschafft zu haben. Dabei muss ich gestehen, dass es trotz Anstrengung doch nicht Wert war, soviel darüber nachzudenken. Einfach machen, ausprobieren.

Ich komme mit drei Kolumbianern ins Gespräch. Sie wollen wissen, was ich mir noch ansehen möchte und machen mir Vorschläge, was ganz besondere Höhepunkte von Kolumbien wären. Das meiste ist bereits auf meiner Liste, aber den einen oder anderen Vorschlag nehme ich gerne noch auf.

auf dem Aussichtsturm

auf dem Aussichtsturm

Nachdem ich mich erfrischt habe, gehe ich auf den Aussichtsturm. Dort ganz oben checke ich noch einmal meinen Höhenmesser: 2149 m. Also knapp 150 m Höhenunterschied vom Anfang der Treppe. Einzig die Höhe an sich macht da noch etwas zu schaffen. An der Mauer entdeckte ich einen wunderschönen Schmetterlnig. Auch er hat es bis hinauf geschafft. Mit seiner Leichtigkeit motiviert er mich. Man kann vieles erreichen, wenn man es ohne Verbissenheit angeht. Ich schaue ihm noch eine Weile zu, wie er da auf der Kante balanciert, bevor er seine Flügel öffnet und davonschwebt.

Weit unten, rechts mit dem langen roten Dach, das ist mein Hotel.

Weit unten, rechts mit dem langen roten Dach, das ist mein Hotel.

Ich lasse mir ganz viel Zeit, geniesse noch einmal eine Limonadencoco und drehe noch einmal eine Runde auf der Plattform. Schaue noch einmal in alle Richtungen hinuter auf die Seenlandschaft.

Und dann nehme ich den Abstieg in Angriff. Auch das wieder ganz locker und langsam. Die Treppen sind sehr steil und sie sind mehr in der Felsspalte, bieten nicht viel Aussicht. Beim Erste Hilfe-Posten komme ich nicht mehr vorbei, der ist in der Hälfte des Aufstiegs. Ein Sanitäter sitzt da und wartet auf einen allfälligen Einsatz. Auch sind an vielen Orten Hinweisschilder angebracht mit der Telefonnummer, die man im Falle eines Unwohlseins anrufen sollte. Man ist also hier auf Notfälle eingerichtet. Es gibt auch zwei Orte, wo man vom Aufstieg zum Abstieg wechseln könnte, wenn es denn zuviel sein sollte.

Ein Blick zurück

Ein Blick zurück

Ganz unten an der Treppe gibt es einige Restaurants mit Aussichtsterrassen. Die hatte ich vorher gar nicht beachtet. Man ist hier auf grosse Touristenmassen eingerichtet. Die Leute kommen Gruppenweise in Tagesausflügen von Medellin her und bestimmt ist der grosse Parkplatz normalerweise voll, die Restaurants ausgebucht, die Souvenirläden belagern. Jetzt ist alles friedlich. Ich bin der einzige Gast auf der Sonnenterrasse und geniesse meine Cappuccino.

Und dann lasse ich mich von einem Mototaxi zurück ins Hotel bringen, wo ich den Nachmittag verdöse. Noch einmal all die Bilder an mir vorbei ziehen lasse, das Gefühl geniesse, dort oben gewesen zu sein.

Beim Nachtessen unter all dem Glimmer schaue ich noch einmal hinauf zum Stein. Er ist dezent beleuchtet und ich fühle mich stolz, dass ich heute da oben war.

Beim Nachtessen unter all dem Glimmer schaue ich noch einmal hinauf zum Stein. Er ist dezent beleuchtet und ich fühle mich stolz, dass ich heute da oben war.

Das Titelbild hat tatsächlich etwas mit meinem heutigen Tag gemein - ausser der Bahn...

Das Titelbild hat tatsächlich etwas mit meinem heutigen Tag gemein - ausser der Bahn...

Geschlafen hätte ich gut, wenn ich nicht ausgerechnet heute das neue Buch von Blanca Imboden herunter geladen hätte. Es hat mich persönlich sehr berührt. Mit ihrer frischen Art schafft sie es, auch so schwierige Themen wie Trauer und Verlust liebevoll und sorgfältig anzugehen. Ich muss jedenfalls die halbe Nacht lesen.

Und übrigens, die blauen Lichtlein unter meinem Fenster wurden diese Nacht ausgeschalten, nur noch der Leuchtturm mit seinem Wolkenhimmel wechselt ständig die Farbe, aber das hat nicht bis zu meinem Zimmer Einfluss.

Du bist hier : Startseite Amerika Kolumbien El Penol
Die Reise
 
Worum geht's?:
Immer wenn der Mensch seine Zukunft plant, fällt das Schicksal im Hintergrund lachend vom Stuhl. Dieser Satz hat mich durch das Corona-Jahr begleitet. Eigentlich war mein Abflug nach Südamerika am 3. April 2020 gebucht. Doch dann kam alles anders.
Details:
Aufbruch: 20.06.2021
Dauer: 7 Monate
Heimkehr: 29.01.2022
Reiseziele: Peru
Kolumbien
Argentinien
Der Autor
 
Beatrice Feldbauer berichtet seit 20 Jahren auf umdiewelt.
Bild des Autors