Neustart

Reisezeit: Juni 2021 - Januar 2022  |  von Beatrice Feldbauer

Fahrt nach Popayan

Blauer Himmel begrüsst mich am frühen Morgen. Ja, es ist Zeit, weiter zu ziehen. Ich bin länger geblieben, als ich erwartet hatte. Eine Woche hatte ich gebucht. Jetzt sind neun Tage daraus geworden. Im Hotel Balcones del Ayer fühlte ich mich sehr wohl. Das hat vor allem mit den Angestellten zu tun. Allen voran Gloria. Eigentlich ist sie für die Zimmer zuständig, aber man trifft sie den ganzen Tag irgendwo an. Sie kümmert sich um die Gäste, will wissen, wie es mir geht, was ich gemacht, was ich unternhmen möchte. Aber ohne aufdringlich zu sein. Einfach immer ein paar aufmunternde Sötze. Wir hatten sofort den Draht zueinander gefunden und ich freue mich, dass wir diesen Kontakt dank Facebook behalten können.

Dann ist da Jorge, der junge Administrator des Hotels, der vor allem im Restaurant tätig ist. Auch mit ihm ist so ein Kontakt entstanden, den man nicht erklären kann, der einfach stimmt. An seinem freien Tag wollte er mich mit seinem Motorrad ausfahren. Daraus wurde dann nichts, weil er unerwartet doch arbeiten musste. Ich bin nicht sicher, ob ich da überhaupt mitgemacht hätte, war dann aber doch etwas enttäuscht.

Gestern hat er dann doch frei bekommen und ist für zwei Tage nach Medellin gefahren. Ich sehe seine Fotos heute Morgen im Facebook. Dafür ist sein Bruder Cristian und Manuel, ein junger Kellner noch hier. Als ich meine Rechnung begleiche, meint Cristian: "Das ist für mich ein ganzer Monatslohn". Ja, da hat er wohl Recht. Der Minimallohn in Kolubien beträgt 1'200'000 Pesos, das sind gerade mal 300 Franken. Nach Abzug aller Sozialkosten bleibt das, was ich heute Morgen für meine neun Tage bezahlt habe.

Cristian möchte gern etwas mit Fahrrädern machen. Vielleicht Touren anbieten oder Fahrräder verkaufen. Genau weiss er das noch nicht, aber er wollte von mir wissen, wie er eine Internet-Seite gestalten könnte.

Jorge möchte sich ebenfalls verbessern. Nach sechs Jahren sucht er eine neue Herausforderung und eine Verbesserung seiner Situation. Vielleicht noch einmal ein Studium anfangen. Solange die beiden Brüder bei ihrer Mutter wohnen und keine Familie gründen, gibt es noch Möglichkeiten.

Mit dem Minimallohn lässt sich mit einer Familie nicht überleben. Das geht nur, wenn man, wie hier üblich, im Familienclan lebt. Dass junge unverheiratete Leute ausziehen und unabhängig leben, ist hier kaum vorstellbar.

Abschied von Gloria, der guten Seele vom Hotel. Sie tut tatsächlich alles, damit man sich hier wohl fühlt.

Abschied von Gloria, der guten Seele vom Hotel. Sie tut tatsächlich alles, damit man sich hier wohl fühlt.

Abschied von den beiden Kellnern Manuel und Cristian.

Abschied von den beiden Kellnern Manuel und Cristian.

The wind has changed, it's time to say goodbye

The wind has changed, it's time to say goodbye

Bevor ich auf meine grosse Reise startete, wollten meine Freunde wissen, wohin es gehe, wie lange ich unterwegs sein würde, welche Pläne ich hätte. Da ich ausser dem allgemeinen Ziel Südamerika keine genauen Vorstellungen hatte, erzählte ich meine Vision: Irgendwo eine Zeitlang leben. Einen Monat, 10 Tage, eine Woche. Und irgendwann weiterziehen. Wie Mary Poppins, wenn der Wind dreht, ist sie weg.

So entstanden diese symbolischen Schirmbilder. Jetzt versuche ich, bei jedem Wechsel einen Schirm aufzutreiben. Das ist manchmal ganz lustig, denn selbstverständich habe ich keinen Schirm in meinem Gepäck. Manchmal ist einer in einem Hotelzimmer, oder ich leihe mir kurzfristig einen aus. Ich habe auch schon einen gekauft, um ihn dann weiter zu schenken. Den orangen hatte ich im Thermalbad gesehen. Er war über Kleider und Handtücher gebreitet, als es am Nachmittag kurz anfing zu regnen. Als es wieder aufhörte, fragte ich die Leute, die an dem Tisch sassen, ob ich den Schirm kurz ausleihen dürfe. Sie waren zuerst etwas verblüfft, doch ich erklärte, dass ich nur ein Selfie machen wolle, dass ich ihn nicht wirklich für den Regen brauche. Ich frage dann jeweils, ob sie den Film Mary Poppins kennen und oft ist das der Fall. Bei dieser Gelegenheit jedenfalls habe ich Xiomara kennen gelernt. Sie wird mich eine Zeitlang im Facebook begleiten und vielleicht bleiben wir in lockerem Kontakt, vielleicht bleibt es bei der einzigen Begegnung.

Mir gefällt jedenfalls, dass jeder Schirm seine eigene Geschichte hat und oft ist er mit Menschen verbunden, die meine Vision verblüfft.

Heute fahre ich mit dem Taxi bis Armenia. Spontan habe ich entschieden, nicht den Bus zu nehmen. Taxi ist einfacher und bequemer. Und ausserdem spannender, denn Luis Fernando ist ein unterhaltsamer Fahrer. Er will wissen woher ich komme, was ich in Kolumbien schon gesehen hätte, ausser dem allerschönsten Ort der Welt: Salento.

Er ist hier geboren und immer hier geblieben. Zwar hat er einiges von Kolumbien gesehen, aber Salento bleibt seine Heimat. Von ihm bekomme ich die Bestätigung, dass ich einen bestimmten Ort unbedingt besuchen müsse, den ich bereits auf meiner imaginären LIste der zu besuchenden Orte hatte. Aber er hatte noch keinen definitiven Platz, könnte jederzeit wieder wegfallen. Luis hat ihn jetzt als Must-do bestätigt. So geht es mir bei all meinen Zielen. Irgendwo habe ich etwas gelesen, etwas gesehen. Ich nehme es in meine Liste auf, versuche heruaszufinden, ob es sich lohnt, wie ich dahin komme und wie es in meine provisorische Route eingebaut werden könnte. Dann kommen Tipps von zufölligen Begegnungen und ein Ziel vertieft sich, oder fällt weg. Ich hatte tatsächlich keine Vorstellungen von Kolumbien bevor ich in Medellin eintraf und jetzt wird meine Liste immer länger und die Überraschungen über dieses wunderbare Land halten an.

Es gibt im Terminal von Armenia jede Menge Busbetriebe, die mein heutiges Ziel ansteuern, so dass ich nicht lange warten muss. Schon um elf Uhr, eine Viertelstunde nachdem ich angekommen bin, fährt ein Minibus ab.

Mein Ziel heisst Popayan. Wobei ich mir das nur merken kann, indem ich an Popeye und an Spinat denke. Eigentlich will ich weiter und Popayan ist nur ein Zwischenstopp. Doch ich mag wenn möglich keine Nachtfahrten mehr und nach der Erfahrung mit Salento auch nicht mehr erst um Mitternacht ankommen. Darum habe ich Popayan zwischen geschaltet.

Es wird eine ungewöhnlich bequeme Fahrt. Wir sind gerade mal sieben Personen in dem kleinen Bus und der Fahrer macht nach gut zwei Stunden sogar einen kurzen Halt, um sich mit Essen einzudecken oder die Toilette zu benutzen.

Es werden vor allem Süssigkeiten angeboten.

Es werden vor allem Süssigkeiten angeboten.

Abgesehen von diesem Halt fahren wir durch eine abwechslungsreiche grüne Landschaft. Es geht über Hügel und später auf einer geraden Strecke, einer breiten Strasse, auf der wir recht gut voran kommen.

Ich habe mir für diese Fahrt, die mindestens sechs Stunden dauert, das neue Buch einer Freundin heruntergeladen. Calingulambam, vom Leben mit einem autistischen Kind. Einzelne Bilder und Versuche, sich in eine andere Sicht auf die Welt einzudenken. Das Buch schärft den Blick auf die Welt, wie ich sie wahrnehme, stellt Fragen nach dem Sinn des Lebens und dem Umgang mit Menschen, die mitten in unserer Welt trotzdem in einem ganz anderen Umfeld leben. In einer Anderswelt eben.

Meine heutige Reiselektüre

Meine heutige Reiselektüre

Wir kommen nach Cali, das ist die drittgrösste Stadt des Landes und Hauptstadt des Salsa. Auch diese Stadt hatte man mir empfohlen, aber ich bin mit der Vorstellung nicht richtig warm geworden, denn Grossstädte sind nicht so mein Ding.

Allerdings merke ich, dass ich der einzige Fahrgast bleibe, alle anderen sind hier ausgestieben. "Zwanzig Minuten Pause", verkündet der Chauffeur und ich besorge mir ein Croissant und einen Kaffee. Bleibe aber in der Nähe des Busses sitzen. Wer weiss, ob die zwanzig Minuten eingehalten werden. Jetzt werden Mitfahrer gesucht. Der Chauffeur und ein Mitarbeiter der Busgesellschaft fragen jeden, der vorbei geht: Popayan? Sie finden tatsächlich ein paar Passagiere und nach einer knappen halben Stunde geht die Fahrt weiter. Der Bus ist aber noch nicht voll geworden und so kommt es, dass der Assistent, der jetzt vorne zugestiegen ist, noch eine ganze Weile aus dem Fenster ruft: "Popayan directo! Popayan directo! Ayan, Ayan!" So als ob sich irgend ein Passant auf der Strasse kurzfristig entschliessen würde, jetzt grad spontan in die drei Stunden entfernte Stadt Popayan zu fahren.

Tatsächlich wird aber der Bus jetzt doch noch voll und bald setzt sich ein junger Mann neben mich. Nachdem er meinen Tolino eine Weile angesehen hat, will er wissen, was ich da in der Hand halte. Ein Tablet? Ich erkläre ihm, dass ich damit meine Bibliothek mit auf die Reise nehmen kann und überall eine ganze Auswahl von Büchern dabei hätte. Er scheint so einen Reader noch nie gesehen zu haben, findet ihn spannend, weil er leicht in der Hand liegt und nicht heiss wird, wie ein Handy. Er bleibt nicht lange im Bus, nach einer Stunde steigt er aus. Überhaupt scheint der Bus jetzt vom Langstreckenbus zum Kurzzubringer zu werden, denn jetzt halten wir öfters, Leute steigen ein, steigen aus.

Der Terminal ist gleichzeitig ein grosses Einkaufszentrum

Der Terminal ist gleichzeitig ein grosses Einkaufszentrum

Verschiedene Busbetriebe haben hier ihre Schalter und verkaufen Tickets für Fahrten durch das ganze Land.

Verschiedene Busbetriebe haben hier ihre Schalter und verkaufen Tickets für Fahrten durch das ganze Land.

links der Chauffeur, geradeaus der Bus...

links der Chauffeur, geradeaus der Bus...

Als ich um elf Uhr eingestiegen bin, sagte man mir, die Fahrt daure sechs Stunden, das hätte geheissen, dass ich um fünf Uhr in Popayan angekommen wäre. Doch jetzt setzt bereits die Dunkelheit ein und wir sind noch lange nicht am Ziel. Ich habe mich allerdings darauf eingestellt und beim Hotel nachgefragt, ob es am Terminal Taxis gibt. Die gibt es, Popayan ist bedeutend grösser als das kleine Salento in den Bergen. Es ist auch längst dunkel, als ich gegen halb acht Uhr im Hotel eintreffe.

Das Hotel ist ebenerdig, hat drei schöne kleine Innenhöfe und mein einfaches Zimmer hat ein Fenster zum Hof. Nachdem ich mein Gepäck deponiert habe, mache ich mich auf, meine neue Umgebung zu erkunden.

Popayan ist bekannt für seine koloniale Architektur mit weissen Häusern, habe ich gelesen. Und tatsächlich, ich habe das Gefühl in einer völlig anderen Weltl zu sein. Nach all den farbigen Dörfern ist es für die Augen eine Wohltat, diese weissen Häuserreihen zu sehen. Es sind lauter einstöckige Häuser, die meisten wahrscheinlich mit schönen Innenhöfen, wie sie auch mein Hotel hat. Vorne an der Strasse gibt es grosse Holztore, vergitterte Fenster, weisse Fassaden und alle paar Meter eine schmiedeiserne Lampe. Die Strassen sind gut beleuchtet, aber völlig leer. Keine Autos und kaum Menschen unterwegs. Dabei ist es erst acht Uhr abends.

Es ist fast eine mystische Stimmung. Auf dem Stadtplan habe ich ein italienisches Restaurant gefunden, das um eine Ecke an der Parallelstrasse sein muss. Doch vorher gehe ich einfach mal geradeaus. Da muss das Zentrum der Stadt sein.

Ich gehe weiter, komme an einer Kirche vorbei, und stehe bald auf dem Hauptplatz. Eine weitere Kirche, lange Fassaden, rosa Beleuchtung und fast niemand auf den Strassen. Ein einsamer Hund läuft über den Platz. Ein paar wenige kleine Beizlein sind geöffnet, das meiste ist zu, die Tore verschlossen und zeigen nicht, was sich dahinter verbergen könnte.

Ich nehme mir Zeit, geniesse die paar Schritte, geniesse die Ruhe, den grossen Platz, der wahrscheinlich auch bei Tag verkehrsfrei bleibt, denn zum Teil stehen da steinerne Poller in der Strasse.

Die Uhr am Glockenturm scheint nur einen Zeiger zu haben, der zeigt auf sechs Uhr. Die Zeit ist stehen geblieben.

Ich laufe auf der Parallelstrasse zurück, hier muss irgendwo das italienische Restaurant sein.

Allerdings komme ich nicht bis zur Pizzeria. Vorher dringt Musik auf die Strasse und zieht mich magisch an. Tatsächlich ist es ein grosses Restaurant, das zu einem Hotel gehört, in dem drei Männer mit Gitarre aufspielen. Sie singen so schön, dass ich einfach eintreten muss. Ich muss ihnen zuhören, muss einsinken in diese drei Stimmen, in die spanischen Schlager, von Herz und Schmerz. Von corazon y amor und von Besa me ohne Ende.

Was ich gegessen habe, hätte ich glatt vergessen, wenn ich es nicht fotografiert hätte: Ein Pouletschnitzel mit Mangososse und Reis und Pommes, dazu einen Salat. Und wieder einmal eine Limonade-Coca. Mir fällt auf, dass zum Essen sehr wenig Alkohol getrunken wird. Die meisten Leute trinken einen Fruchtsaft. Sogar die Musiker haben grosse Gläser mit einem Saft vor sich.

Und als sie Pause machen, ziehen sie sich alle ihre Maske über und plaudern zusammen. Immer wieder fasziniert mich diese Konsequenz. Man kann es natürlich auch Inkonsequenz nennen, denn gerade noch haben sie ohne Masken ihre Stimmen erklingen lassen. Aber es ist die Ernsthaftigkeit, mit der man sich des Schutzes bewusst ist. Trotz allem.

Nach einer Stunde verlasse ich das Lokal. Auch ich ziehe mir dabei wieder die Maske an. Man gewöhnt sich daran, auch wenn ich jetzt kaum mehr jemandem begegne. Es ist der Respekt gegenüber der Gesellschaft, gegenüber dem Land, der Gastfreundschaft. "Ja, wir wollen dieses blöde Ding alle möglichst schnell los werden", hatte Luis Fernando heute morgen im Taxi gesagt. "Aber im Moment gehört es einfach noch dazu".

Ein paar Häuser weiter komme ich dann tatsächlich bei der Pizzeria vorbei. Hier ist es ruhig. Gleich daneben steht eine weitere Kirche und fast könnte man sich auf einer italienischen Piazza wähnen.

Es sind diese Momente, wo ich mir wieder bewusst werden muss, dass ich in Kolumbien unterwegs bin. In Südamerika.

Jetzt ist es nicht mehr weit bis zu meinem Hotel. Wilder der Nachtportier öffnet das Tor und wünscht mir eine gute Nacht.

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Die Reise
 
Worum geht's?:
Immer wenn der Mensch seine Zukunft plant, fällt das Schicksal im Hintergrund lachend vom Stuhl. Dieser Satz hat mich durch das Corona-Jahr begleitet. Eigentlich war mein Abflug nach Südamerika am 3. April 2020 gebucht. Doch dann kam alles anders.
Details:
Aufbruch: 20.06.2021
Dauer: 7 Monate
Heimkehr: 29.01.2022
Reiseziele: Peru
Kolumbien
Argentinien
Der Autor
 
Beatrice Feldbauer berichtet seit 20 Jahren auf umdiewelt.
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