Neustart
Hasta luego Lima
Es ist Mittwochmorgen. Gestern hat das Wahlgericht Pedro Castillo zum Präsidenten erklärt. Mit knappen 50,12 % hat er aus dem Nichts den wichtigsten Posten des Landes übernommen. Ob das gut kommt?
Ich bin politisch zu wenig versiert, möchte mich daher nicht weiter dazu auslassen. Die Zukunft wird es zeigen. Sicher ist es besser, dass jetzt endlich eine Entscheidung gefallen ist, wie es mit dem Land und der Stadt jetzt unmittelbar weitergeht. Wichtig wird wohl jetzt sein, wie die Gegenpartei das Ergebnis aufnimmt.
Gestern war ich noch einmal in Larcomar. Andere Male in Lima war ich viel öfters in diesem Geschäftszentrum, das hoch über der Küste in den befestigten Abhängen von Lima liegt. Dieses Mal war ich mit allen anderen Orten so beschäftigt, dass ich tatsächlich nur in den ersten Tagen dort war und jetzt am letzten Abend noch einmal.
Noch einmal mit Juan zum Nachtessen, noch einmal über vieles diskutieren. Das Wahlresultat muss zu diesem Zeitpunkt übrigens bereits bekannt gewesen sein, aber auf den Bildschirmen über der Bar lief Sport. Vielleicht kein schlechtes Zeichen, wenn das Ergebnis nicht so hohe Wellen schlägt...
Wir sprachen über Corona, über die Zeit der Pandemie, die hier in Peru ganz stark grassiert hat. Ich habe schon früher versucht, das Thema anzusprechen, nicht nur mit ihm, sondern auch mit anderen Taxifahrern, mit denen ich unterwegs war. Aber ich merkte bald, dass es schwierig ist, darüber zu sprechen. Wer will schon mit einer fremden Person über Verluste und Tote sprechen? Letzthin hat mir ein Taxifahrer gesagt, als ich ihn fragte, wie man mit dieser schwierigen Zeit umgehe: "Weitergehen. Das ist das einzige, das hilft. Weitergehen. Nicht zuviel zurück denken".
Doch gestern hat ein Kommentar, den eine Freundin in mein FB-Profil geschrieben hatte, und meine Antwort darauf, Juans Aufmerksamkeit geweckt. (ich habe schon erwähnt, dass er all meinen FB-Posts und meinem Blog folgt.)
"Nein", meint er, "Covid ist nicht einfach nur eine schlimmere Grippe. Ich habe einen Onkel und einen Cousin verloren. Mein Vater und mein Bruder sind sehr stark daran erkrankt und nur die gute Behandlung der Ärzte haben ihnen das Leben gerettet. Es war eine sehr schwierige Zeit".
Er erzählt, dass er einen Arbeitskollegen, dessen Frau ein paar Tage vorher ins Spital eingeliefert wurde, auch ins Spital gefahren hat. Wenige Tage später waren beide tot, ohne je wieder voneinander gehört zu haben. Jeder hier könnte solche Geschichten erzählen, davon ist er überzeugt. Und es betraf nicht nur ältere Menschen.
"Und glaubst du, dass all diese Massnahmen helfen, die Pandemie einzuschränken?" "Alles was man tut, ist besser als gar nichts." Seine Meinung ist klar. Natürlich gibt es auch hier Menschen, denen die ganzen Massnahmen zu weit gehen, aber sie sind in einer verschwindend kleinen Minderheit.
Als wir Larcomar durch das Parkhaus betraten, wurden wir darauf hingewiesen, dass wir eine zweite Maske tragen müssen. Ausserdem wurde hier per Computer automatisch die Temperatur gemessen und gleich angezeigt. Unglaublich, was alles installiert wurde, was alles möglich ist.
Inzwischen ist übrigens eine Impfkampagne eingeleitet worden. Juans Eltern sind schon länger geimpft, jetzt wartet er, bis er an die Reihe kommt. In seinem Alter wird er noch eine Weile warten müssen. Letzthin sind wir an einem Impfzentrum unten am Meer vorbei gefahren, wo man sich direkt im Auto impfen lassen kann. Vor dem Stich hat er noch etwas Angst, aber er wird sich selbstverständlich impfen lassen.
Ich habe Juan alle Grüsse weitergeleitet, die ich von meinen Lesern bekommen habe, einige hat er selber gelesen, andere habe ich ihm ausgerichtet.
"Bin ich jetzt famoso en Suiza?" hat er heute morgen gefragt. "Ja, du bist inzwischen sehr bekannt, zumindest bei meinen Lesern und die sind nicht nur in der Schweiz".
Was mich zur ganzen Pandemie auch interessiert ist, wie man überhaupt überlebt hat. Wovon hat man gelebt. Das ist sehr schwierig zu erklären, und eigentlich habe ich es noch immer nicht verstanden. Man legte in der Familie zusammen, was man hatte, Die Lebensmittelpreise sanken interessanterweise, weil die Mörkte eingebrochen waren. Also kostete ein Poulet zum Beispiel nur noch gegen 10 Soles, wo es vorher und auch jetzt wieder 27 Soles kostet. Die Verkäufer fuhren durch die Strassen und boten ihre Waren an.
Vom Staat wurde jedem Einwohner ein Betrag von 700 Soles zugesprochen, doch die wenigsten haben diesen Betrag bekommen. Es gab Hilfsaktionen von internationalen Hilfswerken. Juan hatte unregelmässig einen Auftrag als Lastwagenchauffeur. Oder er fuhr Leute für spezielle Aufträge. Das ergab manchmal etwas Einnahmen.
Jetzt geht es ganz langsam wieder aufwärts. Mit den langsam einsetzenden Flügen aus dem Ausland kommen vermehrt wieder Passagiere, die eine Fahrt in die Stadt brauchen. Doch bis zurück in die Normalität braucht es noch Monate, wenn nicht Jahre. Und doch, ich habe niemanden getroffen, der gejammert hätte. - Zugegeben, meine Kontakte hier in Lima sind sehr beschränkt.
Waren sehr beschränkt, muss ich inzwischen sagen, denn inzwischen ist es Mittwoch-Mittag.
Es ist genau ein Monat her, seit ich hier angekommen bin. Ein Monat voller Emotionen, voller neuer Erfahrungen. Ein Monat der so völlig anders war, als ich mir das vorgestellt hatte, denn ich ging von 10 Tagen Quarantäne aus.
Jetzt sitze ich auf dem gepackten Koffer und warte, bis Jairo kommt und ich den Schlüssel für mein Appartment übergeben kann. Unten wartet Juan er bringt mich ein letztes Mal zu Flughafen. Muss ich extra betonen, dass er traurig ist?
Es war nicht nur für mich eine spannende Zeit, auch er hat viele neue Erfahrungen gemacht. Wir waren an vielen Orten, die er zwar kannte, aber noch nie selber erlebt hatte. Er war mir ein echter Freund, ein Beschützer. Und ein Gentleman. Nie hat er vergessen, mir die Türe zu öffnen, wenn ich in das Auto einsteigen wollte. Er kam um das Auto herum, öffnete, wartete, bis ich bequem sass und schloss dann die Türe wieder. Er achtete darauf, wenn ich das Handy in die Hand nahm, fuhr langsamer, damit ich fotografieren konnte, machte mich auf vieles aufmerksam, das mir entgangen wäre. Ein Gentleman eben.
Jetzt sitze ich am Flugplatz in Lima. Im Starbucks Cafe, trinke einen Cappuccino und versuche, diesen letzten Blogeintrag noch vor dem Abflug online zu stellen.
Bin selber gespannt, was mich in den nächsten Tagen erwartet. Viele von Euch Lesern, die mich bereits kennen, können sich wohl vorstellen, wohin es geht, für die anderen bleibt nichts, als zu warten, bis ich gelandet bin.
Es geht jedenfalls weiter, denn der Wind hat sich gedreht.
Aufbruch: | 20.06.2021 |
Dauer: | 7 Monate |
Heimkehr: | 29.01.2022 |
Kolumbien
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