Neustart
Feuerland
Bald nach Mitternacht rufe ich ein UBER-Taxi. Zwar muss ich erst um zwei Uhr am Flugplatz sein, aber ich befürchte, dass ich mich verschlafe, wenn ich jetzt doch noch ins Bett gehe. Mein Gepäck musste ich etwas umpacken, denn gemäss meinem Ticket darf ich je zwei Gepäckstücke mit je 15 Kilogramm mitbringen. Wie mache ich das mit meinem Koffer, der eigentlich 23 Kilogramm wiegt und inzwischen, nachdem ich ein paar Dinge losgeworden bin, tatsächlich etwas leichter geworden ist. Damit ich keine zusätzliche Tasche kaufen muss, nehme ich als zweites Gepäckstück den Rucksack, doch wohin jetzt mit dem Laptop? Irgendwie schaffe ich es am Schluss, alles vorschriftsgemäss unterzubringen, es kann los gehen.
Auf der Fahrt durch die leere Stadt komme ich mit dem jungen Taxifahrer ins Gespräch. Er würde auch gern reisen, meint er, aber die wirtschaftliche Situation in seinem Land ist so schwierig, dass er diese Träume vorläufig vergessen muss. Im Gegenteil, er muss sehen, dass er sein eigenes Leben in den Griff bekommt. Da seine Eltern vor ein paar Jahren von Buenos Aires weggezogen sind, war er schon sehr jung auf sich gestellt. Es ist eher ungewöhnlich, dass jemand nicht mehr bei den Eltern wohnt, obwohl er noch nicht verheiratet ist. "Es ist eine winzige Wohnung", erklärt er. Ein Bett und viel mehr hat da nicht Platz. Ja, er hat eine Freundin, seit vier Jahren schon. Aber solange die Situation nicht besser ist, ist an eine Heirat nicht zu denken. Darum lebt sie noch zu Hause bei ihren Eltern. Seit einem Jahr hat sie eine gute Stelle.
"Ich bin 28, das Leben liegt noch vor mir, aber meine Perspektiven sind schwierig. Wir kämpfen auf unserer Stufe jeden Tag, doch die Regierung hilft uns nicht. Was dem Land fehlt, ist Ausbildung. Die Ausbildung in diesem Land ist schlecht, auf allen Stufen."
Ich bin sehr überrascht. Tatsächlich ist das das erste Mal, dass jemand überhaupt etwas negatives über sein Land erzählt. Carlos würde gern wieder auf seinem Beruf als Schreiner arbeiten, seine UBER-Tätigkeit sieht er nur als Übergang. Das Auto gehört ihm.
Bis ich einchecken kann, trinke ich noch einen Kaffee an der Kaffeebar und schreibe an meinem Blog. Dabei kann ich die Zeit fast vergessen und das Warten dauert nicht so lang.
Das Einchecken geht problemlos. Keine zusätzlichen Kontrollen, es ist ein Inlandflug. Das Gepäck wird angenommen, auch wenn der Koffer noch etwas zu schwer ist. Obwohl er eigentlich halb leer ist. Dafür ist der Rucksack, zwar vollgestopft aber sehr leicht. Mein Handgepäck ist eine einfache Einkaufstasche, die ich gestern noch in einem Supermakrt besorgt hatte. Ziemlich improvisiert die ganze Sache.
Pünktlich um halb fünf Uhr hebt der Flieger ab.
Ich sitze in der ersten Reihe auf der rechten Seite. Schade, links geht schon bald die Sonne auf. Es geht in den Süden, da fängt der Morgen früher an. Bald liegt das Meer unter mir, unter einer leichten Wolkendecke. Und irgendwann treffen wir wieder auf Land. Bald kommt Land in Sicht. Die lange flache Küste von Argentiniens Süden. Dann fliegen wir über Berge. Geheimnisvoll liegen sie unter den Wolken. Die letzten Ausläufer der Anden. Bewaldete Hänge mit einzelnen schneebedeckten Gipfeln. Eine unbewohnte Gegend.
Beim Landeanflug erinnere ich mich, dass ich irgendwo gelesen habe, dass Ushuaia eine speziell kurze Landebahn hat. Die Piste ist gleich am Ufer auf der Halbinsel vor der Stadt. Hoffentlich hat der Pilot das im Griff. Es ist nur ein kurzer Gedanke, schon sind wir gelandet und kurz darauf steht der Flieger. Ich bin in Ushuaia, auf Feuerland. Ganz im Süden von Südamerika. Hier unten hat Argentinien noch eine Enklave, ein Teil, der geografisch eigentlich zu Chile gehören müsste, aber doch noch zu Argentinien gehört.
Ushuaia gilt als die südlichste Stadt der Welt. Zwar gibt es auf chilenischer Seite noch einen Ort, der südlicher liegt, aber viel kleiner ist und daher als Dof gilt. Ushuaia liegt am Hang an den letzten Ausläufern der Anden in einer weiten Bucht am Beagle-Kanal. Auf meiner ersten Südamerika-Rundreise war ich bereits einmal hier. Das war allerdings im Juni 2008 und dadurch im allertiefsten Winter. Mit dicken Eisschichten auf den Strassen, Minustemperaturen und sehr kurzen Tagen. Seither träume ich davon, hierher im Sommer zurück zu kommen. Ushuaia war mein verborgenes Ziel. Ich wäre extrem enttäuscht gewesen, wenn diese Reise nicht geklappt hätte. Darum wollte ich unbedingt nach Argentinien. Jetzt bin ich sehr gespannt auf Ushuaia im Sommer.
"Bist du schon gelandet? Ich bin in 10 Minuten am Flugplatz." Paula, meine Vermieterin meldet sich, kaum dass ich gelandet bin. Und tatsächlich fährt sie kurz darauf vor und holt mich ab. Zum Glück habe ich schon in Buenos Aires das langärmelige T-Shirt angezogen und die Windjacke aus den Tiefen des Koffers geholt, jetzt kann ich sie brauchen, es sind windige 8 Grad.
"Ich muss zuerst noch zu Western Union, hab nicht genug Bargeld dabei", erkläre ich ihr nachdem wir uns gefunden haben, etwas verlegen. Sie beschwichtigt. "Kein Problem, das hat Zeit, ich fahre dich zuerst zu deiner Unterkunft."
Kurz darauf beziehe ich mein Zimmer in einem winzigen kleinen Haus über der Stadt.
Es ist ein kleines Doppelhaus, sofern man diese Bezeichnung überhaupt gebrauchen kann. Mein Teil ist nur ein Zimmer mit Bad und einer grossen Küche im hinteren Teil des Hauses, der irgendwie angehängt scheint. Daneben gibt es eine zweite kleine Wohnung, die wahrschienlich auch nur aus einem oder Zimmern mit Bad und kleiner Küche besteht. Eine eigenartige Bauweise, ein Häuschen, das nur für die Vermietung gebaut wurde und noch komplett neu ist. Doch es ist alles da, was ich brauche. Es gibt Heisswasser und die Heizung ist voll aufgedreht.
Paula erklärt mir noch, dass die Western Union-Agentur im grossen Carrefour untergebracht ist und verabschiedet sich. "Wenn du was brauchst, melde dich." und schon ist sie abgefahren.
Ich packe erst mal ein paar Sachen aus, lege mich einen Moment aufs Bett doch dann mache ich mich auf den Weg. Hinunter zum Supermarkt, ich will das mit dem Geld möglichst rasch in Ordnung bringen.
Es geht immer geradeaus, schon bald bin ich die 80 Meter hinunter gestiegen, für den Rückweg will ich mir ein Taxi nehmen. Doch dann stehe ich vor einem geschlossenen Schalter. Western Union ist geschlossen. Und kein Hinweis auf Öffnungszeiten.
"Die werden wohl in den nächsten Tagen nicht mehr öffnen," meint der Betreiber des Cafes gleich daneben. Und was jetzt? Es gäbe noch eine Filiale bei der Post, meint der Mann noch und erklärt mir, wo die Post steht. "Ganz am anderen Ende der Stadt."
Also laufe ich durch die Stadt. Auf der Hauptgeschäftsstrasse, von der ich allerdings kaum etwas wahrnehme. Ich suche die Post, ich brauche dringend Bargeld.
Tatsächlich, über dem Eingang leuchtet das gelbe WU-Schild. Doch die Post ist geschlossen. Wegen Desinfektion geschlossen steht auf dem Schild.
Öffnungszeiten täglich von 9.00 - 15.30 Uhr. Jetzt ist Mittag. Ein paar Leute stehen vor der Türe, einer klopft an die dicke Holztüre. Eine ältere Frau meint, sie wäre extra für Einzahlungen gekommen, jetzt müsse sie das Geld wieder mit nach Hause nehmen und zeigt auf ihren Plastiksack. Wieviel sie wohl bei sich trägt. Hier wo schon 500 Franken ein dickes Bündel Geldscheine bedeuten.
Ich melde mich bei Paula. "Western Union ist geschlossen".
"Mach dir keine Gedanken, versuche es morgen wieder, ausserdem gibt es noch mehr Agenturen, morgen werden wir sie mit dem Auto abfahren."
"Du glaubst nicht, dass sie überhaupt nicht arbeiten?" frage ich ziemlich besorgt. Doch Paula sieht kein Problem, erst gestern hat einer ihrer Göste Geld bei WU bezogen.
Ganz beruhigt bin ich nicht, doch ich versuche die besorgten Gedanken zu verdrängen. Ich sehe ein elegantes Restaurant mit Blick hinaus auf die Buch. Zwar wird der Blick von einem Gewirr von Kabeln verdeckt. Einfach unglaublich, wie diese Installationen überall die Gegend verunstalten.
Ich bin noch dabei, die Karte zu studieren, als mir der Kellner ein frisches Brot hinstellt. Es ist ganz frisch gebacken, ist noch warm und als ich es aufschneide dampft es. Wunderbar, dazu frische Butter mit ein paar Kräutern und Knoblauch. Hier lässt es sich sein.
Ich geniesse mein gebratenes Fischfilet mit Salat und merke, dass ich seit gestern Nachmittag gar nichts richtiges mehr gegessen habe.
Später mache ich mich auf den Aufstieg. Mit Taxi ist nichts, ich muss sparen.
Auf dem Rückweg fallen mir die vielen Lupinen auf. Sie sind zwar an den meisten Orten bereits verblüht. Es gibt sie in allen Farben und sie blühen überall. Hinter Gartenzäunen, auf den Wiesen, in gepflegten Gärten.
Bis ich zurück in meiner Unterkunft bin, bin ich so müde, dass ich gleich ins Bett schlüpfe. Letzte Nacht habe ich höchstens eine knappe Stunde im Flugzeug gedöst, bevor mich die rot leuchtende Sonne durch das linke Seitenfenster geweckt hat und ich vor Freude nicht mehr einschlafen konnte.
Jetzt bin ich endlich da in Ushuaia, von dem ich so lange geträumt habe. Den Start hätte ich mir allerdings mit etwas weniger Aufregung gewünscht. Doch das Problem wird sich morgen wohl lösen.
Warum nur habe ich das Gefühl, dass die Lösung nicht ganz so einfach sein wird.
Aufbruch: | 20.06.2021 |
Dauer: | 7 Monate |
Heimkehr: | 29.01.2022 |
Kolumbien
Argentinien