Neustart
Spaziergang
Was ist los? Ich versuche zu erwachen, versuche zu verstehen, was gerade mit mir passiert. Das Bett schaukelt, der ganze Raum wackelt. Draussen schreien Menschen.
Ein Erdbeben!
Wars das jetzt? Mit Schrecken wird mir bewusst, wo ich bin. Im 14. Stockwerk. Ich habe keine Chance. Ich versuche aufzustehen, versuche zu erwachen, versuche zu verstehen, was mit mir geschieht. Und dann hört die Bewegung auf. Im Treppenhaus, oder in den Gängen vor der Wohnung noch immer Geschrei, unten im Hof bellende Hunde.
Ist es vorbei? Oder kommt da noch mehr? Was mache ich hier? Es ist tatsächlich vorbei. Das Wackeln hat aufgehört. Und bald wird es auch draussen wieder ruhig, nur ein paar Hunde bellen ihre Angst oder Aufregung noch in die Nacht, dann hört auch das auf. Ich schlüpfe zurück unter die Bettdecke, versuche aber im Internet etwas über das Erdbeben zu finden.
Unbestätigtes Erdbeben um 21.54 an der Westküste von Peru, lese ich. Stärke 5,8 mit dem Epizentrum im Süden von Lima.
Und dann schlafe ich tatsächlich wieder ein...
ist mir schon getern aufgefallen, hatte aber noch keine Bedeutung: Lift im Falle von Erdbeben oder Feurer nicht benutzen.
Später lese ich, dass es kaum Schäden gibt. Einzig eine Strasse musste gesperrt werden, weil sich Steine gelöst und auf die Strasse gefallen seinen.
Ich versuche meine Sicherheit zu überprüfen. Mein Gefühl in diesem Haus, in dem ich mir noch gestern so wohl war. Fühle ich mich jetzt unsicher? Ich fahre mit dem Lift hinauf zum Dach. Schon daran merke ich, dass meine Sicherheit zurück ist, ich traue dem Haus, den Installationen. Oben gibt es einen Dachgarten mit vielen Pflanzen, Sitzplatzen. Auch ein grosser Pool. Leider ist der Zugang mit einer Glastüre abgesperrt. Ich werde mich später erkundigen, wie ich dahin komme. Es scheint, dass ein Fingerabdruck nötig ist. Nicht dass ich in den Pool möchte, es ist eindeutig zu kalt dafür. Aber ich würde gern die Aussicht auf das Meer sehen. So knipse ich eben nur ein paar Fotos zur Seite und auf der Rückseite über die Millionenstadt. Über 10 Millionen Einwohner hat der Grossraum Lima auf einer Grösse von 2700 km2. Das ist schlicht unvorstellbar.
Die Stadt liegt fast das ganze Jahr unter einer Wolkendecke. Es ist die Luft, die von den Anden kommt, die gleich hinter der Stadt bis auf 6000 m aufsteigen. Die Luft mischt sich mit der feuchten Meeresluft. Einzig im Dezember und Januar gibt es sonnige Tage hier. Jetzt ist hier Winter. Das heisst kühle Temperaturen.
Niederschläge gibt es hier in der Regel kaum. Der Fluss Rimac, der der Stadt den Namen gab, ist meistens ein trockenes breites Flussbett. Gesehen habe ich ihn noch nie. Im Sommer soll er Schmelzwasser aus den Bergen führen.
Ich hatte es mir schon zu Hause vorgenommen, einmal will ich von meiner Unterkunft bis nach Miraflores laufen. Immer dem Meer entlang. Warum also nicht heute.
Bei meinem Plan hatte ich vergessen, dass Lima 160 über dem Meer liegt. Die Steilküste muss mit aufwändigen Verbauungen befestigt werden. Als ich Richtung Strand gehe, sehe ich, dass tief unten beim Meer die Strasse ausgebaut wird und eine neue Brücke entsteht. Also bleibe ich oben, am Stadtrand und werfe immer wieder einen Blick hinunter zur Strasse. Es gibt einen Plattenweg für Fussgänger und eine Radspur. Und überall stehen Bänke. Sie sind der Beginn von kleinen Parkanlagen, die hier entstehen. An einem Ort entdecke ich richtige Risse im Boden. Ob die gestern schon da waren oder erst letzte Nacht entstanden sind? Die ganze Küste ist mit Netzen und künstlich angelegten Grünanlagen gesichert. In der Gegend wo ich mich jetzt befinde, sind die Netze noch sichtbar, an anderen Stellen sieht es nach natürlicher Überwachsung aus.
das Plakat verspricht 80 % weniger wackeln wegen seismischen Isolatoren. Ob das mein Hochhaus auch hat?
Auf meinem Weg komme ich durch immer andere Stadtteile. Vorbei an fantastischen Gemälden an Mauern und Häuser, durch verschiedene Parkanlagen. Sie werden immer schöner, so wie auch die Häuser immer besser werden. Es gibt sogar kleine eingezäunte Plätze für Hunde, Hinweise für Hundebesitzer, Abfallkübel für Hundeabfälle.
Weit unten findet eine Tanzstunde statt. Die beiden Damen tanzen, während eine Lehrerin ihnen Instruktionen gibt. Ob es im Moment in Innenräumen nicht gestattet ist, zu üben.
Ein Impfzentrum, aber es ist leer, so wie auch andere, an denen ich vorbei komme. Warum das so ist, weiss ich noch nicht.
Manchmal verlässt mein Weg die Kante und ich komme in Quartiere, aber meistens bleibe ich an der Steilküste mit dem Blick hinunter auf die vielbefahrene Strasse und den breiten Strand wo immer neue Stadien und Sportzentren entstehen. Es gibt für jede Sportart Plätze. Fussball und Volley, Tennis, Cokart, Skatepark, Sandpisten für verschiedenste Fahrzeuge. Auch Kinderspielplätze, nur sind die meisten Geräte
gesperrt. Fitnessgeräte. An einigen Stellen trainieren ein paar Leute an den Stangen. Nachdem viele Parks am Anfang meines Weges noch erst am Entstehen waren und einzig der Radweg durchgehend erstellt war, werden die Parks immer schöner und gepflegter mit blühenden Bäumen und Büschen. Ausserdem stehen hier auch immer wieder Statuen und Büsten. Einige sind international bekannt, andere eher lokale Grössen. Ich bin jetzt in San Isidro, eine bessere Wohngegend.
Immer wieder führen Treppen oder Radwege oder Strassen hinunter an den Strand, ich bleibe oben. Manchmal setze ich mich unterwegs auf eine Bank und beobachte die Umgebung, die Menschen, die Spatzen, die Tauben und einmal entdecke ich an einem Tulpenbaum einen Kolibri auf der Suche nach Nektar.
Genau richtig gibt es jetzt auch Imbiss-Stände, ja sogar ein kleines Cafe. Der Ecktisch mit Blick aufs Meer hat genau auf mich gewartet. Den Capuccino habe ich mir jetzt verdient. Und auch die Toilette kam keinen Moment zu früh. Mein Handy zeigt inzwischen 9 km an, es fehlen noch ein paar bis zu meinem Ziel.
Weit vorne kann man bereits die Hochhäuser von Miraflores sehen und unten die Piers die weit hinaus ins Meer ragen. Dorthin will ich.
Irgendwo treffe ich auf ein Fotoshooting mit einer jungen Prinzessin. Süsse 15 Jahre, der wichtigste Tag im Leben einer Latina. Immer wieder trifft man sie, die Schönheiten, die für einen Tag Prinzessin sein dürfen, Ausgestattet wie eine Braut werden sie von professionellen Fotografen und aufgeregten Müttern mit ihren Handys aufgenommen.
Weiter geht es durch den Maria-Reiche-Park, durch den Park der Liebenden mit dem berühmten 'Kuss' und der Bank, die an den Park Güell von Barcelona erinnert.
Jetzt ist es nicht mehr weit bis zu meinem Ziel.
Jetzt ist es nicht mehr weit. Ich kann mein Ziel sehen. Das Restaurant Rosa Nautica, eines der besten von Lima, draussen am Pier. Wenn ich mit der Gruppe unterwegs bin, ist es jeweils der letzte Ort, der letzte Eindruck von Peru, bevor wir zum Flughafen fahren. Heute belohne ich mich mit diesem Lokal für meinen langen Spaziergang. 12 km zeigt mein Handy an. Ganz gut wenn man bedenkt, dass ich sonst absolut keine Wanderin bin.
Aber ich habe meinen Vorsatz eingehalten und bin schon fast ein wenig stolz - und vor allem müde. Ich steige die Stufen hinunter. Auf dem Wasser reiten die Windsurfer, auf den Steinen am Pier liegen die Krebse wie immer und lassen sich vom Wasser bespritzen.
Ich lasse mir ein ausgiebiges Menu servieren, geniesse den vertrauten Ort. Zum Glück ist der Service hier normal und der Kellner schenkt mir das Wasser ein, stellt mein Weinglas vor mich hin und auch der Teller wird normal serviert. Nur als er die die Rechnung bringt, die in einer Flasche steckt, bespritzt er die Flasche kurz mit Desinfektionsmittel, bevor er sie mir hinstellt.
Dass auch hier die Temperatur gemessen wurde und meine Hände desinfiziert wurden, bevor ich eintreten konnte, ist schon fast Routine. Das ist einfach so, passiert fast ohne dass man das noch zur Kenntnis nimmt.
Für den Rückweg rufe ich mir ein Ubertaxi.
Aufbruch: | 20.06.2021 |
Dauer: | 7 Monate |
Heimkehr: | 29.01.2022 |
Kolumbien
Argentinien