Neustart

Reisezeit: Juni 2021 - Januar 2022  |  von Beatrice Feldbauer

Delta de Tigre

Nein, frühmorgens kann man das nicht nennen, aber immerhin früher, als ich normalerweise unterwegs bin. Ich werde um neun Uhr abgeholt und möchte vorher in einem der Cafes in meiner Strasse noch einen Kaffee trinken. Aber was für eine Überraschung. Die sind alle noch geschlossen. Auch der Kiosk, der kleine Supermarkt, die Wäscherei. Alles geschlossen. Einzig bei der Bar stellt der Wirt die Tische und Stühle auf den Gehsteig und das Plakat mit den Angeboten. Kaffee mit Milch oder Lagrima. "Was ist Lagrima?" will ich wissen. Natürlich weiss ich, dass das eine Träne ist, aber was hat die morgens um halb neun in einem Kaffee zu suchen.

"Cafe con Lagrima ist eben nur ein Tropfen Kaffee in heisser Milch", klärt mich der Wirt auf und bringt mir zu meinem Cafe con leche noch zwei Media Lunas, süsse Halbmonde. Ich lasse sie mir schmecken und sehe zu, wie jetzt die Strasse langsam erwacht.

Kiosk

Kiosk

Wäscherei

Wäscherei

Cafe zum Mitnehmen:  mit Milch - ein Kurzer - mit Träne   160 Pesos

Cafe zum Mitnehmen: mit Milch - ein Kurzer - mit Träne 160 Pesos

Der Besitzer des Blumenladens stellt seine Blumentöpfe auf die Strasse, im Eckcafe werden Tische und Stühle hinaus gestellt, im Fotomuseum brennt inzwischen das Licht, der Fotograf wird wohl auch nächstens auf die Strasse gestellt, um mit seiner Kamera alles zu überblicken.

Buenos Aires erwacht spät. Nicht umsonst habe ich speziell in meiner Strasse immer das Gefühl, es wäre ein kleines Dorf. Irgendwo habe ich in einem Kommentar geschrieben: auch eine Grossstadt ist wie ein Dorf, nur grösser. Hier zeigt sich das speziell deutlich. Als ich zurück zu meinem Appartmenthaus gehe, ist auch der Supermarkt offen, vor dem Eckcafe sitzen die Leute bei frischen Brötchen, und der Kiosk hat die Store aufgezogen, ist bereit für die ersten Kunden. Auch bei der Loterieannahmestelle brennt jetzt Licht und die Ferreteria stellt die Angebotstafel auf die Strasse. Man ist bereit für einen neuen Tag.

Eisenwarenhandlung

Eisenwarenhandlung

Kiosk

Kiosk

Fotomuseum - Cafe

Fotomuseum - Cafe

Eckcafe

Eckcafe

Ich werde abgeholt und habe eigentlich einen Van erwartet, mit Chauffeur und Guia, doch heute ist die Gruppe noch kleiner als Vorgestern, der Guia ist gleichzeitig auch der Chauffeur und das Auto ist ein Fiat Fiorino mit einer zusätzlichen Sitzbank hinten.

Anibal heisst der Chauffeur und er erklärt, dass wir noch zwei junge Frauen bei einem Hotel abholen müssen, dann können wir losfahren. Es sind zwei junge Venezulanerinnen, die seit ein paar Jahren in Chile leben.

Es scheint, dass wir durch diese kleine Gruppe und weil wir keine Rundfahrt entlang den Hotels machen müssen, um weitere Gäste abzuholen, genug Zeit haben. Jedenfalls hält auch Anibal bei der Florina Generica an. Die muss man anscheinend einfach gesehen haben. Ausserdem liegt sie so praktisch an der Strasse die nach Norden führt. Da wo wir eh durchfahren müssen. Zwei Amerikaner halten auch grad an, zufällig scheint das nicht zu sein, denn ihr Taxifahrer ist der Sohn von Anibal.

"Das ist eine Schande", meint der Amerikaner. "Diese Blume war ein Geschenk der amerikanischen Botschaft. Die sollen gefälligst dafür sorgen, dass der Mechnismus wieder funktioniert. Wenn man etwas so teures schenkt, ist man auch für dessen Unterhalt zuständig. Ich werde ihnen schreiben", fügt er mit einem Augenzwinkern noch bei. Defekt ist die Blume seit einem Gewitter im letzten Jahr. Die Reparatur sei zu teuer für die Stadt, meint Anibal.

Wir fahren weiter und ich frage Anibal, warum der Obeliks zur Zeit nicht offen sei. Der ist nicht öffentlich, nie, meint er, das hat nichts mit der Pandemie zu tun. Na dann hab ich ja nichts verpasst.

Wir kommen jetzt in den Stadtteil San Isidro und fahren entlang einer langen Mauer. "Hier wohnt der Präsident", erzählt Anibal. "Er muss hier wohnen, jeder Präsident muss während der Präsidentschaft hier wohnen. Das hat mit der Sicherheit zu tun. Das Gelände ist riesig, wird von Militär und Polizei bewacht. Es gibt ein Schwimmbad, einen Tennisplatz und andere Freizeitvergnügen hinter den Mauern".

"Aber durch die Stadt braucht er ja fast eine halbe Stunde, bis er bei der Casa Rosada, dem Sitz des Präsidenten ist", meint eine der jungen Frauen. "Ja, mit dem Auto, aber mit dem Helikopter ist er in 3 Minuten dort", lacht Anibal. Sicherheit für den Präsidenten eines so grossen Landes ist natürlich ein sehr grosses Thema.

"Cristina hat hier ganz allein gewohnt, man sagt dass sie die Vorhänge während ihrer Zeit nie geöffnet hat", fügt Anibal noch an. (Cristina Fernandez de Kirchner, Staats-Präsidentin 2011 - 2017. Ihr Ehemann war 2010 gestorben.)

Wir fahren durch San Isidro, das ist ein Vorort von Buenos Aires. "Hier leben die reichen Leute, hier sieht man auch mal einen Mercedes oder BMW", meint Anibal. "im Zentrum sieht man solche Wagen selten".

"Eigentlich", meint er, "geht es uns in Argentinien sehr gut. Bis vor kurzem hatten wir einen grossen Mittelstand. Mindestens 50 % der Bevölkerung konnte man zum Mittelstand zählen. 20 % sind reich, 30 % litten unter Armut".

Heute hat sich die Lage durch die schwieirge Wirtschaftslage sehr verändert und es wird nicht besser. Er schätzt, dass heute 50 % als arm gelten müssten, 30 % könnten noch zum Mittelstand gerechnet werden und die Reichen sind geblieben. Allerdings haben die ihr Geld längst im Ausland deponiert. Oder in Liegenschaften investiert.

Kurz danach halten wir bei einer hohen Kirche an. Es ist die Kathedrale von San Isidro. Der Kirchturm ist so hoch, dass ich ihn auch bei hochgestellter Kamera nur verzerrt auf das Bild bringe. Eine Himmels-Stürmer-Kirche. Alles drängt in die Höhe. Ein hohes Portel, Spitzbogen, ein hoher nach oben sich verjüngender Turm. Und innen das gleiche. Eine elegante Konstruktion mit gotischen hohen Säulen und Spitzbogen. Wir können uns genügend Zeit lassen, denn wir sind auf dem Weg nach Tigre, einem weiteren Vorort von Buenos Aires, wo wir eine Rundfahrt mit einem Schiff machen werden. Doch das wird erst um zwölf Uhr losfahren, also bleibt uns genügend Zeit für die Kirche. Eingeweiht wurde die Kirche 1708 steht auf der Tafel beim Eingang.

Wir fahren weiter und kommen endlich nach Tigre Auch Tigre ist ein Vorort von Buenos Aires, liegt am Fluss Lujan und nahe an dessen Mündung in den Rio de la Plata, der zwar wie das Meer wirkt, aber tatsächlich der breiteste Fluss der Welt ist.

Wir sind noch immer sehr früh, darum macht Anibal eine kleine Rundfahrt. Tigre mit seinen vielen Flussmündungen ist das Zentrum des Rudersports in Argentinien. Hier gibt es auch viele ausländische Clubs die alle ihre eigenen Rudermannschaften unterhalten. Es gibt schöne Restaurants. Versteckte Villen in grossen Gärten und vornehme Wochenendhäuser. Gern hätte uns Anibal den Garten des Museums der schönen Künste gezeigt, denn es wurde von Franzosen gebaut und war damals das vornehmste Hotel am Ort. Leider ist das Museum und damit auch der Garten geschlossen. Wir werden das Gebäude später vom Wasser her bewundern können. Jetzt sehen wir nur einen schönen Teil des Gartens durch das geschlossene Gittertor.

Und dann reicht es auch noch für einen Besuch im Hafen der Früchte. "Aber hächstens eine Viertelstunde", meint Anibal noch, bevor wir aussteigen. "Das Schiff wird nicht auf uns warten". Doch auch wir kennen die Uhr und selbstverständlich brauchen wir etwas mehr um wenigstens ein paar der Läden zu sehen wo schöne Handarbeiten angeboten werden. Und am Früchtestand gibt es frisch zubereitete Fruchtdrinks. Ich lasse mir einen frischen Kokosnussdrink machen. Mit gemixtem Kokosnuss-Fruchtfleisch, Wasser, Milch und etwas Zucker. Die beiden Frauen setzen auf Orangen, Mangos, Ananas und Zitrone in verschiedener Kombination. Und alles frisch gemixt.

Dass der Ort Tigre heisst, scheint auf eine Verwechslung zurückzuführen. Tiger gab es nämlich in Argentinien nie, aber Jaguare.

Und dann fahren wir zur Mole, wo unser Schiff eben vorgefahren ist. Es bleibt aber noch kurz Zeit, um den wunderschönen Flaschenbaum zu bewundern. Er ist im Moment überall in voller Blüte. Hier sind es rosa Blüten, die bis zu 10 cm Durchmesser haben können. Florettseidenbaum heisst er und ich habe ihn schon öfters fotografiert. Bin aber jedesmal wieder von neuem fasziniert, so dass er auch jetzt wieder festgehalten werden muss.

Flaschenbaum - oder El Boracho / der Betrunkene
Deutsche Bezeichnung Florettseidenbaum aus der Familie der Ciebas.

Flaschenbaum - oder El Boracho / der Betrunkene
Deutsche Bezeichnung Florettseidenbaum aus der Familie der Ciebas.

Endlich steigen wir in das Schiff. Auch die beiden Amerikaner sind inzwischen mit dem Sohn von Anibal eingetroffen. Auch ein paar Passanten kommen dazu, aber wir sind tatsächlich eine kleine Gruppe, können uns auf dem Deck nach Belieben verteilen oder unten in der grossen Kabine mit Klimaanlage die Gegend an uns vorbei ziehen lassen.

Aus dem Lautsprecher wird in spanisch, englisch und portugiesich erklärt, was wir sehen, so dass ich nach den beiden ersten Erklärungen portugiesisch schon fast automatisch verstehe.

Wir sind im Fluss Tigre gestartet, fahren dann in den Rio Lujan. Auf der einen Seite ist der Ort Tigre, auf der anderen ist das Flussdelta, wo es keine Strassen und keine Wege mehr gibt. Die Häuser sind alle am Wasser gebaut. Man nennt Tigre auch das Venedig Argentiniens.

Wir fahren an den kleinen Häusen vorbei. Viele scheinen unbewohnt, sind vielleicht nur Wochenendhäuser, bei anderen blühen Blumen in den Gärten, gibt es gepflegte Vorplätze, schöne Bootsstege. Manchmal liegt jemand auf den Liegestühlen, beobachtet die vorbei fahrenden Schiffe, so wie wir die Menschen vom Schff aus beobachten.

Die Versorgung des Ortes passiert per Schiff. Es gibt einen Lebensmittelladen, der auf einem Schiff ist, oder es werden Zettel an den Schiffsteg geheftet und der Lieferdienst besorgt die Sachen und bringt sie am Abend an den Steg. Abfallentsorgung passiert ebenfalls per Schiff. Es gibt auch eine Schule, an der wir vorbei fahren. Hier werden die Kinder bis zur Sekundarschule unterrichtet, danach müssen sie nach Buenos Aires zur Schule.

Die Kinder werden am Morgen vom Schulboot abgeholt und am frühen Nachmittag auch wieder mit dem Schulboot nach Hause gebracht. Kostenlos.

Auch eine Kirche, in der alle zwei Wochen ein Gottensdienst gefeiert wird, steht am Ufer. All das erfahren wir durch den Lautsprecher, der erklärt, was zu sehen ist.

Natürlich gibt es auch Häuser, die man mieten kann, bei einigen hängt ein Schild am Haus, an anderen Orten sind es kleine Bungalows, die zusammen gehören, oder gar ein Hotel. Natürlich gibt es auch Läden. Jedes Haus hat seinen eigenen Bootssteg. Die Häuser sind zum Teil verdeckt hinter hohen Bäumen zum Teil leuchten sie in starken Farben.

Das skurillste Haus ist heute ein Museum. Es gehörte Domingo Sarmiento dem 7. Präsidenten des Landes. Ursprünglich gab es drei Häuser, geblieben ist heute nur noch eine Replika seiner Residenz, wo er gewohnt hat. Damit das Haus geschützt bleibt von Stürmen wurde darum herum eine grosse Glasvitrine gebaut. So ist es heute ein Glashaus mit einem Haus drin. Leider haben wir keine Zeit für eine Besichtigung, wir fahren daran vorbei.

Die kleine Kirche

Die kleine Kirche

Museo Casa Sarmiento

Museo Casa Sarmiento

Wir haben eine grosse Rundfahrt über verschiedene Flüsse gemacht und kommen nach einer Stunde zurück zum Ausgangspunkt. Vorbei an einem Vergnügungspark, der heute allerdings still steht. Nur an den Wochenenden ist er in Betrieb. Dann wird wohl auch das Riesenrad seine Runden drehen, jetzt muss ich mich mit dem Fotografieren begnügen.

Und dann fahren wir tatsächlich noch beim Schweizer Clubhaus vorbei.Club Suizo steht auf der Wand geschrieben.

Zurück an der Anlegestelle warten Anibal und sein Sohn auf uns und wir fahren auf dem direkten Weg zurück in die Stadt. Hier hat es inzwischen angefangen zu regnen, ich bitte Anibal, mich im Zentrum aussteigen zu lassen, denn ich habe Hunger, will noch etwas essen. Die beiden Halbmonde vom Morgen sind nicht sehr nachhaltig. Er empfiehlt mir eine Pizzeria, wo ich eine riesige Pizza mit einem dicken Käsebelag bekomme. Pizzas hier sind nicht wirklich ein Genuss und viel zu schwer. Aber der Hunger ist gestillt und später schlendere ich zurück in meine Unterkunft.

Eine krasse Werbung. Das Video mit dem Brand am Hochhaus, vor allem nachts irritiert es.

Eine krasse Werbung. Das Video mit dem Brand am Hochhaus, vor allem nachts irritiert es.

Auf dem Rückweg komme ich durch die Florida-Fussgängerzone, die man schon daher erkennt, dass man überall angerempelt wird: Cambio, cambio. Ich kehre in einem der traditionellen Kaffeehäuser ein und höre den Geldwechslern zu. Einige haben schon ganz Rapps enwickelt, andere lassen ihr monotones Cambio, cambio alle paar Sekunden ertönen. Ich frage mich dann nur immer, wo die denn die Noten versteckt haben, denn für ein paar Dollars gibt es ja immer gleich ein ganzes Bündel Noten. Die können sie kaum in ihren engen Jeans oder unter ihren T-Shirts verstecken. Ausserdem wäre es auch viel zu gefährlich, mit so viel Geld unterwegs zu sein. Da muss irgendwie ein Büro oder eine Wechselstube dahinter sein. Jedenfalls gibt es unglaublich viele, die Geldwechsel anbieten.

Mein Appartmenthaus.

Mein Appartmenthaus.

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Die Reise
 
Worum geht's?:
Immer wenn der Mensch seine Zukunft plant, fällt das Schicksal im Hintergrund lachend vom Stuhl. Dieser Satz hat mich durch das Corona-Jahr begleitet. Eigentlich war mein Abflug nach Südamerika am 3. April 2020 gebucht. Doch dann kam alles anders.
Details:
Aufbruch: 20.06.2021
Dauer: 7 Monate
Heimkehr: 29.01.2022
Reiseziele: Peru
Kolumbien
Argentinien
Der Autor
 
Beatrice Feldbauer berichtet seit 20 Jahren auf umdiewelt.
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