Neustart
La Recoleta
Im kleinen Restaurant auf der anderen Strassenseite kennt man mich inzwischen. Manchmal trinke ich hier am Morgen einen Kaffee und sehe, was für Gebäck es dazu gibt. Heute ist es ein Vollkorn-Cones mit Blauschimmelkäse. Schmeckt sehr fein. Dann hole ich meine Wäsche in der Wäscherei, die in der gleichen Strasse liegt.
An dieser Strasse gibt es viele kleine Geschäfte. Eine Papeterie, eine Bäckerei, einen kleinen Supermarket und eine Ferreteria, ein Geschäft für Haushaltwaren. Hier ist auch der Kiosk wo ich am ersten Tag meine Internetkarte gekauft habe. Sie ist fast wie ein kleines Dorf, diese Strasse, ich bin überzeugt, wenn ich noch eine Weile hier bleiben würde, würde ich bereits ein paar Leute auf der Strasse kennen.
Heute will ich auf den Friedhof von La Recoleta. Schon zweimal war ich dort, beide male war der Friedhof bereits geschlossen, als ich ankam. Diesmal lasse ich mich von einem Taxi hinfahren.
Der Friedhof ist eine Welt für sich. Eine stille Welt. Hier haben viele Persönlichkeiten von Buenos Aires ihre letzte Ruhestätte gefunden. In der Eingangsallee gibt es ein paar alte Bäume, steinerne Ruhebänke, niedrige Buchsbaumrabatten. Der Rest ist Stein. Steine, die Geschichten erzählen.
Hier in den schmalen Gassen liegen ganze Familien. Es sind kleine Häuser, Kapellen, mit Säulen, Figuren, Engeln, die gütig von oben auf das Geschehen achten. In Stahl gegossen sind Ehrungen, Danksagungen. Hier können die Angehörigen noch einmal all ihren Dank aussprechen oder, und das wird wohl mehr der Fall sein, zeigen, welche Bedeutung der Verstorbene oder die ganze Familie hatte.
Es gibt Statuen, die den Verstorbenen zeigen. Mit ernster MIne stehen solche Männer auf hohen Pfosten oder bleiben als Büsten der Ewigkeit erhalten. Doch auch diese Ewigkeit dauert nicht für immer. An einzelnen Grabstätten hat der Zahn der Zeit oder die Witterung bereits genagt. Der Putz bröckelt, die Ziegelsteine kommen zum Vorschein. Andere Gräber werden noch immer unterhalten, sind auber und gepflegt.
Viele der kleinen Häuser sind wie Kapellen mit einem Altar ausgestattet. Hier zeigt sich das Interesse der Hinterbliebenen am besten, denn viele Altare sind verwüstet. Die Kerzenleuchter umgefallen, das weisse Altartuch mit den Spitzen zerschlissen. Vielleicht gibt es die ganze Familie nicht mehr, vielleicht erinnert sich niemand mehr an die Geschichte des Toten.
Ich suche das Grab von Evita. Eigentlich glaubte ich mich von meinem letzten Besuch noch zu erinnern. Wenn man hereinkommt in einem der ersten Gänge nach rechts. Doch ich laufe alle Gänge ab, das Grab kann ich nicht finden. Der Friedhof ist viel komplizierter als ich ihn in der Erinnerung hatte. Ich komme an Eisengittern, an eleganten Toren, an verrosteten Ornamenten und eisernen Heldenkränzen vorbei, doch das Grab der Familie Duarte kann ich nicht finden.
Zum Glück hilft da meine App weiter. Früher musste man einem der Grabpfleger ein kleines Trinkgeld geben, dann zeigte er den Weg, heute zeigt mir meine App, in welche Richtung ich gehen muss. Und da ist es. Ich bin nicht die einzige, die das Grabmal gesucht hat, es sind auch ein paar andere Leute hier. Versuchen, das schwarze Familiengrab in der engen Gasse aufs Bild zu bekommen.
Maria Eva Duarte stammte aus einfachen Verhältnissen. Zwar war ihr Vater ein reicher Grossgrundbesitzer, doch er war nicht mit ihrer Mutter verheiratet, die von ihm fünf ehelliche Kinder bekam. Dass die ganze Familie trotzdem hier auf dem Friedhof der Berühmtheiten liegt, hat sie dem grandiosen Aufstieg ihrer Tocher zu verdanken.
Eva Duarte de Peron heiratete den Präsidentschaftskantidaten Juan Peron und wurde nach seiner Wahl zum Präsidenten die erste Dame des Landes. Sie setzte mit verschiedenen Wohltätigkeitsprogramme für die Armen ein. Gründete Kinderheime und Einrichtungen für unverheiratete Mütter. Auch bei der Einführung des Frauenstimmrechts war sie eine der grossen Befürworterinnen und setzte sich in verschiedenen Reden für die Rechte der Frauen ein. Bei der Elite des Landes war sie wegen ihrer einfachen Herkunft nicht beliebt, aber das Volk verehrte sie.
Im Juli 1952 starb sie 33-jährig an Krebs, doch sie bleibt unvergessen
Nach dem Besuch des Grabes von Evita, bei dem übrigens als einem der wenigen Grabstätten ein paar vertrocknete Blumen lagen, schlendere ich noch eine Weile zwischen den steinernen Häusern und Tempelchen vorbei und entdecke immer wieder neue Formen, neue Beweise von Macht und Ansehen. Es gäbe noch mehrere wichtige Persönlichkeiten, die hier auf dem Friedhof begraben sind, doch ich kümmere mich nicht um Namen, staune über die fantasievollen Bauten, die sich immer mehr steigern bis zur zweistufigen Kirche, in der unten eine Gruft angebracht ist und oben eine beidseitige Treppe hinauf führt.
Nach dem Friedhof setze ich mich noch einmal unter den grossen Gummibaum. Inzwischen habe ich gegoogelt und herausgefunden, dass er tatsächlich so heisst: El Gomero de la Recoleta, der Gummibaum von Recoleta. Es gibt die Legende, dass er 1790 von einem Gutsbesitzer angepflanzt wurde. Die anderen Bäume seiner grossen Plantage verschwanden mit der Zeit, der alte Gummibaum ist geblieben und er hat sich nicht in die Höhe, sondern vor allem in die Breite entwickelt. Bis zu 30 Meter weit ragen seine dicken Äste in allen Richtungen. An einigen Stellen werden sie inzwischen von eisernen Säulen gestützt, an einem Ort hilft sogar ein eiserner Mann.
Jedenfalls deckt er den gesamten Aussenbereich eines Restaurantes und man kann hier gemütlich unter dem Baum dinieren oder einen frischen Fruchtsaft geniessen, so wie ich da das jetzt mache.
Das Taxi bringt mich nach La Boca. Hier möchte ich meinen letzten Nachmittag verbringen. Diesmal bin ich früh genug im Quartier, um mich umzusehen. Um die vielen Maradonas zu sehen, die überall von den Wänden grüssen oder als Figuren herumstehen. Sogar einen echten Maradona sehe ich von weitem. Doch als ich versuche, ihn zu fotografieren, verdeckt er das Gesicht. Ach so, das ist einer, der sich fürs Fotografieren bezahlen lässt. Stark geschminkt mit schwarzem Haar und wachsendem Bauchansatz stolziert er durch das Quartier und sucht Leute, die sich mit Maradona ablichten lassen. Es ist immer wieder interessant, womit man versucht, Geld zu verdienen. Ich glaube er macht seine Sache ganz gut, immer wieder sehe ich ihn mit jemandem posieren.
Heute sind viel mehr Leute hier, als beim letzten Mal, als ich kurz vor dem Schliessen der Lokale gekommen bin. Ich setze mich in das gleiche Restaurant wie beim letzten Mal und bestelle Krevetten a la Provence. Ein leichtes Nachtessen. Dazu gibt es frisches Brot mit Mayonaise und einer scharfen Sosse. Dazu ein Glas Weisswein.
Am Nebentisch bei den Paraguayanern wird ein Asado gegessen. Ich frage, ob ich ihren Grill fotografieren darf und sie sind lachend einverstanden. Ein Asado ist das typische Essen hier in la Boca. Ein Grill mit verschiedenen Fleischsorten. Rind und Huhn. Und die Portionen sind riesig.
Auf der Bühne singt der Sänger vom letzten Mal. Mich erkennt er noch, grüsst von der Bühne die Schweizerin und fragt an allen Tischen, woher die Leute kämen. An zwei Tischen sind Einheimische aus Buenos Aires, an anderen Gäste aus Brasilien, eine Familie aus Uruguay, Paraguay, zwei Tische mit Israelis und an einem Amerikaner. Es sind vor allem Südamerikaner unterwegs, sehr wenige Europäer oder Amis.
Nach einer Weile wird der Sänger von einem jungen Tanzpaar abgelöst. Ich finde, die beiden tanzen moderner, unbeschwerter, aber trotzdem sehr genau und präzise. Ich setze mich nach dem Essen eine Weile ins Restaurant hinter die Bühne und kann den beiden noch etwas genauer zusehen. Ich bin nach wie vor begeistert von diesem Tanz und der Präsizion des Zusammenspiels.
Nach dem Essen schlendere ich noch ein wenig durchs Quartier. Besuche die verschiedenen Verkaufspassagen, die ins Innere der farbigen Häuser mit den Wellblechfassaden führen und betrachte die verschiedenen Wandgemälde. Es sind künstlerische riesige Gemälde an den Wänden und sie erzählen die Geschichten des Quartiers. Die vornehmen Familien finden da genauso ihren Platz wie die Hafenarbeiter und die Prominenten der Stadt. Bestimmt gäbe es zu jedem Werk eine Geschichte zu erzählen. Da ich darüber nichts gefunden habe, muss sich jeder eine Erklärung dazu selber ausdenken.
Ein Gemälde auf einer Eisentafel. Sie löst sich langsam auf, der Rost splittert mitsamt der Farbe ab.
Heute fahre ich früh zurück in meine Unterkunft. Ich muss noch packen, diese Nacht heisst es Abschied nehmen.
Aufbruch: | 20.06.2021 |
Dauer: | 7 Monate |
Heimkehr: | 29.01.2022 |
Kolumbien
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