Neustart
Feliz Navidad
Es ist tatsächlich nicht das erste Mal, dass ich Weihnachten allein verbringe. Im Gegenteil, in den letzten Jahren war ich eigentlich immer allein und habe gelernt, mit all den fröhlichen Festbildern meiner Freunde umzugehen.
Doch wer bestimmt eigentlich, was man unter einer Feliz Navidad verstehen soll. Niemand, ausser ich. Jedenfalls was meinen eigenen Heiligen Abend angeht.
Einmal bin ich am 24. geflogen und kam tatsächlich kurz vor Mitternacht in Lima an. Während ich mit dem Taxi zum Hotel fuhr, sah man überall Feuerwerk, denn so wird Weihnachten hier gefeiert. Mit Böllern und Feuerwerk um Mitternacht.
"Was für eine tolle Begrüssung" sagte ich zum Taxifahrer, der mich etwas irritiert ansah. "ich finde das toll, dass mich Lima mit einem Feuerwerk begrüsst."
Der Taxifahrer, der mich ja nicht kannte, glaubte, mich aufklären zu müssen, aber für mich war es eben MEIN FEUERWERK.
Dieses Jahr fand Weihnachten in Etappen statt. Ein paar Tage vorher hatte mir Juan erzählt, dass es ein Schweizer Restaurant gäbe in Lima. Also gingen wir eines Abends dahin, nachdem wir in Larcomar der untergehenden Sonne zugesehen und den riesigen Weihnachtsbaum gebührend bewundert hatten.
Es wurde ein schöner Abend mit Rösti und Bratwurst. Und ausserdem schenkte mir Juan einen wunderbaren Blumenstrauss, der seither in meinem Hotelzimmer steht und seinen betörenden Duft ausstrahlt.
Ein paar Tage vor Weihnachten kam Keyla mit ihrer Familie von einer Reise nach Machu Picchu und in den Norden von Peru zurück nach Lima. Wir trafen uns zu einem wunderbaren Nachtessen in der Huaca Pucllana.
Just an diesem Tag fragte mich Liborio an, ob ich ihm helfen könnte, eine Chocolatada für die Kinder zu finanzieren. Ich kann leider seit einiger Zeit kein Geld mehr per Western Union verschicken. Es scheint, dass ich die Limite im letzten Jahr massiv überschritten hatte und daher bis auf Weiteres blockiert bin. Ich musste darum ein paarmal die Hilfe von Keyla in Anspruch nehmen. Sie konnte in Notfällen in Iquitos für mich aushelfen.
An diesem Tag hatte ich trotzdem nach langer Zeit wieder einmal versucht, Geld zu überweisen. Und zwar nach Myanmar, wo die Lage zur Zeit sehr schwierig ist. Da ist einerseits Covid und andererseits das Militärregime, das ziemlich willkürlich agiert. Jedenfalls erzählt mir meine Freundin in Bagan, dass sie jede Nacht Angst hätte, die Soldaten würden ins Haus kommen. Denn ihr Zaun vor dem Haus sei undicht, man könne ins Haus sehen und jede Nacht würden Menschen verschwinden. Jedenfalls eine sehr schwierige Situation und ich würde ihr gern helfen, Material zu kaufen, um sich besser zu schützen. Dazu ging ich in ein Western Union-Büro ganz in der Nähe des Hotels und zahlte den Betrag ein. Das schien zuerst auch tatsächlich zu funktionieren, doch dann kam der Betrag zurück. Ich bin auch auf diesem Wege blockiert. Entsprechend enttäuscht kam ich dann zum Nachtessen mit Keylas Familie.
Dafür funktionierte die andere Aktion. Spontan postete ich nach Liborios Bitte einen Aufruf ins Facebook, ob mir vielleicht jemand helfen könnte, für die Kinder der Boras ein Fest zu organisieren. Zwei Stunden nachdem ich den Post veröffentlicht hatte, hatte ich genügend Zusagen und konnte die Bitte wieder löschen.
Keyla übernahm für mich die Funktion des Geldboten, sie wird das Geld für die Chocolatada nach Iquitos bringen und auch gleich die Einkäufe für machen, so dass Liborio die Sachen nur noch bei ihr abholen muss. Ausserdem versprach sie mir, die Überweisung nach Myanmar zu machen. Der Abend konnte nicht besser beginnen.
Der Papa von Enrique, dem Bartender, der mir sonst die Piscos zubereitet. Auch der Vater kann das perfekt. Enrique liess sogar eine Runde spendieren, obwohl er heute frei hatte.
Es wurde ein wunderbarer Abend in der Huaca Pucllana. Keyla und ihre Familie, allen voran Mama Teresa verbreiten soviel Fröhlichkeit und Liebe, ich fühle mich tatsächlich zu Hause und irgendwie Teil dieser Familie.
Auch Juan genoss den Abend, war diesmal sogar ohne Auto gekommen, so dass er mit uns anstossen konnte. Auf die Freundschaft und auf die Liebe, auf ein fröhliches Weihnachtsfest und ein tolles neues Jahr mit neuen Abenteuern und neuen Begegnungen.
An diesem Abend merkte ich wieder, wie sehr mir solche unbeschwerten Abende mit Freunden gut tun. Ich glaube ich habe es bereits einmal erwähnt, aber genau auf solche Momente freue ich mich, wenn ich dann wieder zurück in der Schweiz bin. Ansonsten könnte ich noch lange weiter reisen, wenn man zwischendurch einen solchen Abend einbauen kann, bin ich völlig glücklich.
Wir trafen uns am anderen Tag noch einmal für ein kurzes Mittagessen und für die Geldübergabe und die Organisation, dann flogen Keyla und ihre Familie zurück nach Iquitos, um dort mit ihrer grossen Familie Weihnachten zu feiern. Und wahrscheinlich werden auch sie um Mitternacht ein paar Böller aufsteigen lassen.
Heute ist nun also dieser 24. Dezember. Schon die ganze Zeit treffen gute Wünsche ein. Auf allen Kanälen, ich komme kaum nach mit Beantworten und Bedanken. Werde mich heute Abend damit befassen, denn das scheint mir eine passende Beschäftigung für Heilig Abend zu sein.
Am Mittag mache ich einen kurzen Spaziergang zur Plaza Mayor. Noch einmal über de Platz spazieren, noch einmal ein paar Fotos schiessen, die ich bestimmt schon mehrmals geknipst habe. Einfach noch einmal Lima spüren.
Auf dem Rückweg treffe ich Susana an. Sie ist grad dabei, ihren Laden zu öffnen, hat die Haustüre offen und hängt die Bananen auf. Sie freut sich, mich zu sehen und natürlich kommen wir ins Gespräch. Sie zeigt mir ihre Früchte, zeigt, dass sie tatsächlich eine Quitte dabei hat. Gegen Eifersucht und um böse Einflüsse fern zu halten.
Trauben hat sie heute. Süsse blaue Trauben. Burgundertrauben, erklärt sie, und ich muss unbedingt eine probieren. Eine blaue und eine weiss und dann noch eine andere Sorte. Trauben kenne ich, versichere ich ihr. Und auch Äpfel, auch wenn es hier bestimmt wieder ganz andere Sorten hat. Eher interessiert mich die gelbe Frucht mit den Streifen. Eine Pepino.
Auch wenn ich protestiere, sie findet, sie wolle jetzt grad unbedingt eine essen, holt ihr grosses Messer und teilt die grösste. Darin befindet sich eine kleine. Die kann man essen, das ist kein Samen. Also essen wir zusammen die saftige Pepino. Und dann schneidet sie eine Maracuja auf. Die ist für den Hund, der mag die auch so gern. Tatsächlich schleckt er sie bis auf die allerletzten Kerne aus. Maracuya sei gut für Schwangere, es würde helfen, dass mit dem Baby alles in Ordnung ist, erklärt Susana.
Sie hat aber noch mehr spannende Früchte. Zum Bespiel die kleinen schrumpeligen beerenähnlichen Knollen. (Hab meine Notizen verlegt, vielleicht kann ich den Namen später hier einsetzen). Eine Verwandte der Mangos, man braucht sie nicht zu schälen, einfach grad so essen.
Sie stopft sie mir in den Mund und sie schmeckt einfach wunderbar. Süss und leicht bitter. Eine kleine Geschmacksexplosion.
Ich weiss nicht wie wir auf das Thema Süssstoffe kommen. Sie fragt, ob ich Stevia kennen würde. Es ist praktisch meint sie, denn Stevia wächst hier in Peru und man kann es als Pflanze anwenden. Aber es schadet den Augen, kann die Sicht beeinträhtigen.
Ich will wissen, was Susana heute Abend macht. "Ich bin hier bis elf Uhr, du kannst ja mit einem Ceviche vorbei kommen", lacht sie. Sie scheint allein zu leben und wie ich keine weiteren Pläne zu haben.
Ich versichere mich noch einmal, ob sie das mit elf Uhr ernst meint, dann verabschiede ich mich. Und bringe einen ganzen Fruchtcocktail mit ins Hotel. Mein Zimmer wird immer wohnlicher mit Blumen und Früchteschale.
Juan kennt meine Schwäche für die Virgin del Carmen und er fährt immer extra langsam an dieser Statue vorbei, damit ich mich verabschieden kann.
Um zwei Uhr holt mich Juan ab und bringt mich zum Aeropuerto. Morgen reise ich weiter und ich brauche noch einen PCR-Test. Das ist am einfachsten direkt am Flughafen, ausserdem will ich mich erkundigen, was ich alles für die Weiterreise brauche. Noch habe ich von der Fluggesellschaft keine weiteren Informationen bekommen. Noch immer bin ich sehr unsicher, ob das mit dem Flug überhaupt klappt, denn die Destination war noch bis vor einem Monat geschlossen.
Ob das alles gut kommt? Ich überlege dauernd an einem Notfallszenario, will aber den Optimismus auf keinen Fall aufgeben.
Für den Flug brauche ich noch eine spezielle Bestätigung, dass ich im Fall einer Covid-Erkrankung versichert sei. Bestimmt wäre ich das, doch wo bekomme ich so schnell eine spezielle Bestätigung? Also gibt es nur die offizielle Version, ich schliesse eine Extra-Versicherung ab. Deckung bis 60'000 Dollars.
Jetzt muss nur noch der Test negativ sein und das Einreiseformular online ausgefüllt werden.
Doch ohne Test kein Einreiseformular, und ohne diese Bestätigung kein Boarding-Pass. Es bleibt spannend und ich hänge irgendwie noch immer in den Seilen, als wir zurück in die Stadt fahren.
Inzwischen haben die Boras im Dschungel ihre Chocolatada gefeiert. Es gab ganz viel Kakao und Panetone. Ein paar Ballone und einen Fussball für die Jungs und für die Mädchen ein Volleyball mit einem neuen Netz. Keyla hat sogar noch zwei Geschenkkörbe dazu gepackt, die verlost werden konnten.
Liborio hat mir zum Dank ein Video und ein Foto geschickt, die ich gleich ins Facebook stellen kann, damit meine Freunde auch etwas davon haben.
Wunderbare Weihnachtsstimmung, wenn auch ziemlich exotisch.
Und was macht Juan heute Abend? Er will noch kurz bei seinen Kindern vorbei gehen. Eigentlich sollte er ihnen doch mindestens eine Panetone mitbringen, finde ich, denn peruanische Weihnachten ohne Panetone ist mindestens wie Schweizer Weihnachten ohne Fondue. Also undenkbar.
"Lass uns einkaufen gehen", schlage ich ihm vor und kurz darauf sind wir in einem Supermarkt am Einkaufen. Was braucht es alles für eine Weihnachtsüberraschung? In Iquitos haben wir unseren Angestellten damals jeweils ein Poulet, eine Flasche Spumante und eine Panetone geschenkt. Ungefähr in dieser Währung kaufen wir ein. Dazu ein gebratenes Hühnchen und ganz viele Chips. Inca Cola, Schokolade, eine riesige Torte, bis Juan die Tränen in den Augen stehen. Dann ist das wohl genug und wir gehen zur Kasse.
Es ist bereits dunkel, als mich Juan beim Hotel auslädt. Jetzt wird es schwierig, noch ein Restaurant zu finden, das offen hat. Weihnachten ist ein Fest, das zu Hause gefeiert wird, niemand isst da auswärts. Fast alle Rolläden sind geschlossen. Fast alle, eine kleine Cevicheria zwei Strassen weiter hat noch offen. Ich kaufe zwei Ceviches. vom Hotel habe ich zwei Dosen Bier dabei und dann gehe ich zu Susana.
Sie glaubt ihren Augen nicht zu trauen. Für mich? Ja klar, für wen den sonst, wer ausser uns beiden hat denn heute Abend schon Zeit für einen kleinen Schwatz und ein eigenes Fest.
Eine alte Frau hockt noch auf der Treppe und leistet ihr Gesellschaft. Also wird das Ceviche auf drei Teller verteilt. Ich bekomme den Platz in der MItte, da wo sonst die Katze hockt und das Fest kann beginnen.
Es wird ein richtig schöner Abend. Susana erzählt ein wenig aus ihrem Leben. Aufgewachsen ist sie in Puno am Titicacasee, aber seit über 40 Jahren lebt sie in Lima. Allein, sie war nie verheiratet und hat auch keine Kinder. "Es war schwierig", meint sie, "ich wurde zweimal ganz schlimm vergewaltigt". Mit Männern wollte sie sich nie mehr einlassen. Ihr Vater wollte nichts von ihr wissen, er wollte einen Sohn. Den bekam er dann von der zweiten Frau. "Nein", meint Susana, diese Erinnerungen möchte man alle am liebsten wegsperren, aber trotzdem kommen sie eben immer wieder.
Aber sie ist eine sehr positive Frau. Sie weiss wovon sie spricht, wenn sie sagt, dass sie nur positive Gedanken zulasse. "Alles beginnt im Kopf", meint sie. "Wenn ich mir am Morgen vornehme, diese Früchte zu verkaufen, dann verkaufe ich sie auch. Und wenn nicht, dann eben am nächsten Tag. Aber wenn ich mir schon am Morgen Sorgen mache, dann wird das eh nichts mit dem Verkauf". Fokussieren, positiv denken, sie könnte glatt einen Motivationskurs geben. Sie ist so klar in ihren Ansichten, weiss viel von der Wirkung von Früchten, kann sich wunderbar motivieren und meistert tatsächlich ihr ganzes Leben allein. Das ist sehr aussergewöhnlich in einem Land, in dem man vor allem dank den grossen Familien überlebt.
Das Haus in dem sie lebt gehört nicht ihr, aber sie hütet es. Auch eine Möglichkeit, eine Miete zu umgehen. Sie wohnt direkt über der Treppe, die ihr ganzer Laden ausmacht. Als sie ganz jung war, hätte sie die Möglichkeit gehabt, mit einer Familie, in die Schweiz zu ziehen. Die Frau war Schweizerin, der Mann Peruaner in guter Stellung. Noch heute weiss sie den Namen der Frau.
Sie hat sich damals nicht getraunt, man hatte ihr gesagt, das Leben in Lima sei viel besser, als irgendwo sonst. Vielleicht hätte ich Medizin studiert, oder wenigstens Sprachen, meint sie. Aber sie hängt keinen alten Träumen nach, lebt jetzt hier im Zentrum der Stadt und kennt fast alle Leute im Quartier. Im Laufe des Abends kommen ein paar Leute vorbei, wünschen Feliz Navidad und verschwinden in der Nacht. Es ist eine ganz eigene Sicht, dieser Blick von der Treppe im kleinen Laden, in dem man unglaublich viel kaufen kann.
"Sogar Taucherbrillen für Kinder", erklärt sie mir stolz und zeigt die fantasievollen Plastikdinger. "Ich hab mich erkundigt, die bekommt man sonst nirgends".
Ich weiss zwar nicht, wer die hier suchen könnte, aber die Idee ist einfach umwerfend.
Kurz vor neun Uhr verabschiede ich mich. Jose im Hotel Kamana will noch mit mir anstossen, dann hat er Feierabend. Die beiden Tortenstücke überlasse ich Susana und ihrer Freundin, die sich an unserem Gespräch nicht beteiligt hat und von der ich nicht einmal den Namen weiss. Ist ja auch nicht so einfach, so eine Unterhaltung auf der schmalen Treppe. Jedenfalls war es der spziellste Weihnachtsessen ever. Sowas kann man nicht organisieren, man muss es einfach erleben.
Es ist mein letzter Abend, morgen fliege ich. Abschiede mag ich nicht. Alle fragen mich, wann ich zurück komme. Doch wer weiss das schon. Wer weiss was die Zukunft bringt. Alles ist möglich - und nichts.
Weihnachten bei Eveline und Peter mit einem echten Weihnachtsbaum und brennenden Kerzen - Schweiz halt.
Zugegeben, die Bilder vom 24. Dezember sind nicht sehr weihnachtlich. Es fehlen Tannenbäume und Kerzen. Aber ich finde, Weihnachten findet vor allem im Herzen statt.
Als Ausgleich zeige ich hier das Bild des Weihnachtsbaumes meiner Freunde Eveline und Peter aus der Schweiz. Danke für die wunderschöne Stimmung, hab das Bild als Beispiel für die Schweiz überall gezeigt, darum gehört es jetzt auch irgendwie in diesen Blog.
Aufbruch: | 20.06.2021 |
Dauer: | 7 Monate |
Heimkehr: | 29.01.2022 |
Kolumbien
Argentinien